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Buch der Woche

Über Machtstreben, Liebe und Verrat

Der Roman "Als die Tauebn verschwanden" von Sofi Oksanen folgt dem Schicksal dreier Esten während des Zweiten Weltkriegs und danach: Roland, einem prinzipientreuen estnischen Freiheitskämpfer, seinem machthungrigen, skrupellosen Cousin Edgar und dessen Frau Juudit, die sich in einen deutschen Offizier verliebt. Ein meisterhaft komponierter Roman über Machtstreben, Liebe und Verrat.

10.10.2014

1948, West-Estland

Estnische Sozialistische Sowjetrepublik, Sowjetunion

Wir waren dann noch an Rosalies Grab, legten Wiesenblumen auf den mondbeschienenen Grashügel und verharrten einen Augenblick schweigend, zwischen uns die Blumen. Ich wollte nicht, dass Juudit ging, ich wollte sie nicht fortlassen, und deshalb musste ich laut etwas sagen, was man in solchen Situationen nicht sagen sollte:

»Wir werden uns nicht wiedersehen.«

Ich hörte das Knirschen in meinen Worten, doch erreichte ich damit, dass ihr ein wässriger Glanz in die Augen stieg, eben jener wässrige Glanz, der mich so oft ins Wanken gebracht und aus meinem Verstand ein Boot aus Borke gemacht hatte, das leicht aus dem Gleichgewicht zu bringen war. Jetzt schaukelte es auf den Wellen in ihren Augenwinkeln. Vielleicht wollte ich meinen eigenen Schmerz lindern und drückte mich deshalb in einer unbeholfenen Sprache aus, vielleicht wollte ich nur grausam sein, damit sie unterwegs mich und meine Fühllosigkeit verfluchen konnte, oder vielleicht verlangte ich noch nach einem letzten Beweis dafür, dass sie nicht gehen wollte – ich war mir der Regungen ihres Herzens immer noch unsicher, obwohl wir so vieles gemeinsam durchgestanden hatten.

»Du bereust es, dass du mich nach alldem zu dir genommen hast«, flüsterte Juudit.

Angesichts ihres Scharfblicks erschrak ich und strich mir verlegen über den Nacken. Am Abend hatte sie mir noch die Haare geschnitten, ein paar davon waren mir in den Kragen gefallen und kitzelten.

»Das macht nichts, ich versteh es«, fuhr sie fort.

Ich widersprach nicht, obwohl ich das hätte tun können. Dennoch glaubte ich nicht , dass ich im Wald ohne Juudit mehr erreicht hätte, um die ich mich noch zusätzlich zu allem anderen hatte kümmern müssen. Die Männer sahen das anders. Ich hatte sie jedoch in den Schutz des Waldes bringen müssen, als ich hörte, dass sie aus Tallinn auf den Hof der Armis geflohen war, als die Russen näher rückten. Das war für uns keine zuverlässige Familie, der Wald war besser. Juudit war wie ein Vogel mit gebrochenen Flügeln in meiner Hand gewesen, in geschwächtem Zustand, das Nervenfieber hatte wochenlang angehalten. Erst als unser Feldscher im Kampf gefallen war, hatten die Männer es zugelassen, dass Frau Vaik uns zu Hilfe kam, uns und Juudit. Wieder war es mir gelungen, sie zu retten, aber sobald sie den vor uns liegenden Weg betrat, würde ich sie nicht mehr schützen können. Dennoch hatten die Männer recht: Frauen und Kinder gehörten ins Haus, Juudit musste in die Stadt zurück. Die Schlinge um uns zog sich zu, und der Schutz des Waldes schwand dahin. Verstohlen überprüfte ich ihre Miene: Ihr Blick war auf den Weg gerichtet, auf dem sie sich entfernen würde, den Mund leicht geöffnet, sog sie mit aller Kraft die Luft ein, und der schneidende Atem, den sie ausstieß, bemühte sich, meinen Entschluss ins Wanken zu bringen.

»So ist es das Beste. Das Beste für uns alle. Du gehst zurück in das Leben, aus dem du fortgegangen bist«, sagte ich.

»Es ist nicht mehr dasselbe. Das wird es niemals mehr sein.«

 

TEIL EINS

 

»Dann kam der Wachmann Mark, führte sie einzeln an den Graben und richtete sie mit seiner Pistole hin.« 12 000 (Aus den Materialien des Prozesses gegen die Massenmörder Juhan Jüriste, Karl Linnas und Ervin Viks, der vom 16.–20. Januar 1962 in Tartu stattfand. Estnischer Staatsverlag, 1962.)

 

1941, Nordestland

Estnische SSR, Sowjetunion

Das Brummen wurde lauter; ich wusste, was dort hinter den Bäumen näher rückte. Ich warf einen Blick auf meine Hände, sie waren ruhig. Einen Augenblick später würde ich der sich nähernden Autokolonne entgegenlaufen und nicht an Edgar denken, nicht an seine Nerven. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er mit zittrigen Bewegungen an seinen Reithosen herumnestelte, sein Gesicht hatte eine für den Kampf unpassende Farbe. Erst kürzlich waren wir in Finnland ausgebildet worden, und ich hatte mich um Edgar gekümmert wie um ein Kind, damit er zurechtkam. Im Kampf war das anders. Unsere Aufgabe war hier und jetzt. Jetzt! Ich rannte los, die Granaten schlugen mir gegen die Schenkel, hastig zog ich eine aus dem Stiefelschaft, und meine Finger sahen sie schon durch die Luft fliegen. Das Hemd der finnischen Armee, das ich auf der Ausbildungsinsel angezogen hatte, fühlte sich immer noch neu an, es verstärkte die Kraft in meinen Beinen. Bald würden alle Männer meines Landes nur die Ausrüstung der Armee Estlands und niemandes sonst tragen, nicht die fremder Eroberer, nicht die von Verbündeten, nur die eigene. Das war unser Ziel, wir würden uns unser Land zurücknehmen.

Ich hörte, wie die anderen mir folgten, wie der Boden sich unter unserer Kraft bog, und lief dem Motorengebrumm noch schneller entgegen. Ich roch den Schweiß des Feindes, im Mund schmeckte ich schon Wut und Eisen, in meinen Stiefeln rannte jemand anders, derselbe fühllose Kämpfer, der neulich im Kampfgetümmel in den Graben gesprungen war und gegen die Männer des Vernichtungsbataillons Handgranaten geworfen hatte, Verschluss, Zugdraht und Wurf, Verschluss, Zugdraht und Wurf, das war jemand anders, Verschluss, Zugdraht und Wurf, und dieser Jemand stürmte jetzt dem Brummen entgegen. Unsere Maschinengewehre waren auf die Kolonne gerichtet. Das waren mehr Leute, als wir erwartet hatten, es waren unendlich viele, Russen und Angehörige des Vernichtungsbataillons mit estnischer Haltung, und sie hatten unendlich viele Wagen und Maschinengewehre. Aber wir erschraken nicht, die Feinde erschraken, uns trieb der Zorn an, und er trieb uns mit solcher Kraft, dass die Gegner für einen Moment anhielten, die Reifen des Mootor-Busses drehten einen Augenblick durch, unser Zorn nagelte sie an dem Augenblick fest, als das Feuer eröffnet wurde; mit den anderen zusammen griff ich den Bus an, und wir töteten sie alle.

 

Meine Arme zitterten von den Kugeln, die ich ausgesandt hatte; das Gewicht der Handgranate, die ich geworfen hatte, hing mir noch schwer am Handgelenk, aber allmählich begriff ich, dass der Kampf vorüber war. Als meine Beine sich daran gewöhnt hatten, stillzustehen, und keine Patronenhülsen mehr zu Boden regneten, bemerkte ich, dass das Ende des Kampfes keine Stille gebracht hatte. Es hatte Lärm gebracht, das Wandern der gierig aus dem Boden aufsteigenden Maden hin zu den Leichen, das geschäftige Rascheln der Handlanger des Todes hin zu dem frischen Blut, und es stank, der Kot und die erbrochene Magensäure stanken. Meine Augen waren geblendet, der Pulverrauch verzog sich, und es war, als erschiene am Rand der Wolke ein strahlender goldener Wagen, bereit, die Gefallenen aufzunehmen, die Unseren, die Männer vom Vernichtungsbataillon, Russen, Esten, alle im selben Wagen. Ich blinzelte. Mir dröhnten die Ohren. Ich sah, wie die Männer keuchten, sich die Stirn wischten, auf der Stelle schwankten wie Bäume. Ich versuchte, zum Himmel zu spähen, nach dem schimmernden Wagen, aber man erlaubte mir nicht, gegen die verbeulte Flanke des Mootor-Busses gelehnt zu verharren. Die Muntersten handelten schon so, als kauften sie auf dem Markt ein: Es galt, den Toten die Waffen abzunehmen, nur die Waffen, die Patronengürtel und -taschen. Wir staksten durch Leichenteile und zuckende Gliedmaßen. Als ich der Leiche eines Feindes gerade den Munitionsgürtel abgenommen hatte, umklammerte jemand mit festem Griff meinen Fußknöchel. Der Griff war überraschend stark und zog mich zu dem am Boden röchelnden Mund hinab. Meine Knie gaben nach, noch ehe ich hatte zielen können, und so sackte ich kraftlos neben den Sterbenden, überzeugt, dass meine letzte Stunde geschlagen hatte. Der Blick des Mannes war jedoch nicht auf mich gerichtet, seine mühsamen Worte waren an jemand anders gerichtet, an einen geliebten Menschen, ich verstand nicht, was der Mann sagte, er sprach russisch, aber so, wie ein Mann nur zu seiner Braut spricht. Das hätte ich auch gewusst, wenn ich das Foto in der schmutzigen Hand des Mannes und auf dem Foto das weiße Kleid nicht gesehen hätte. Jetzt war es rot gefärbt vom Blut des Bräutigams, ein Finger bedeckte das Gesicht der Frau, ich riss mein Bein mit einer heftigen Bewegung los, und das Leben wich aus den Augen des Mannes, in denen ich gerade noch mich selbst gesehen hatte. Ich zwang mich, aufzustehen, ich musste weiter.

 

Sofi Oksanen: Als die Tauben verschwanden. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014. 432 Seiten, 19,99 Euro.