Buch der Woche
»Deutschland, Deine Lehrer«
Ein Auszug aus Christine Eichel, DEUTSCHLAND, DEINE LEHRER. Warum sich die Zukunft unserer Kinder im Klassenzimmer entscheidet © Blessing Verlag 2014
Oberstudienrat Vogel seufzt schon am Freitagabend, wenn er an den Montagmorgen denkt. Bernd Bonitz behauptet steif und fest, seine 3 400 netto im Monat seien schwer verdientes Geld, die Hauptschule, sagt er, sei der reinste Gulag, und lange mache er das nicht mehr. Fräulein Zimmerle hat sich krankschreiben lassen, die Kollegin Wildgruber schafft es nur noch mit Hilfe von Tabletten, Dr. Wartmann ist enttäuscht, Dr. Gross verbittert, die Frau von Koegler will sich scheiden lassen, und Fritzi Bauriedl hat neulich in der Konferenz gesagt: »Wenn ich noch einmal das Wort Rückstellerquote höre, dann schreie ich.« Woran mag das alles nur liegen? Das weiß anscheinend kein Mensch. Alle bisherigen Nachforschungen, so gründlich sie auch angestellt wurden, alle Pilotversuche, alle Innovationsausschüsse, alle Wahlpflichtdifferenzierungsmodelle, alle Didaktik-Designs, alle Evaluationsuntersuchungen, alle Bildungsgesamtpläne und Rahmenrichtlinien haben den langen, langen Jammer der Schulen nur noch verlängert.
Hans Magnus Enzensberger, Plädoyer für den Hauslehrer, in: Politische Brosamen, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1982
Was klingt wie ein langer, langer Seufzer aus dem zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, entstammt einem Essay von 1982. Geschrieben hat ihn Hans Magnus Enzensberger, und man sollte meinen, dass wir heute, mehr als dreißig Jahre später, befreit darüber lachen könnten. Amüsant ist der Text jedoch wegen seiner verblüffenden Aktualität. Oder, genauer gesagt, wegen seiner nahezu absurden Aktualität. Warum laborieren wir noch immer an den gleichen Problemen herum wie in der frühen Neuzeit der deutschen Bildungsdebatte? Warum kommen uns die satirisch überzeichneten Lehrertypen so bekannt vor, die hohl klingelnden Fachbegriffe, die kopfschüttelnde Ratlosigkeit des Autors?
Auch heute sorgt das Reizthema Schule wie kaum ein anderes für hitzige Kontroversen. Die Diagnose eines Bildungsnotstands gehört ebenso zum Inventar unserer Empörungskultur wie das Lamento über veraltete Lehrpläne, obsolete pädagogische Konzepte und nicht zuletzt die überforderten Lehrkräfte. An Therapievorschlägen mangelt es nicht. Kleinere Klassen, neue Lehrinhalte, offener Unterricht, die Abschaffung von Zensuren – in einem Klima, das von Alarmismus geprägt ist, überbietet man einander mit Ideen für strukturelle Veränderungen. Sie verheißen Befreiungsschläge, heraus aus der Bildungsmisere, hin zu einem Schulsystem, dessen Absolventen faire Chancen auf sozialen wie beruflichen Erfolg haben. Allerdings fällt auf, mit welch erstaunlicher Beharrungskraft das Gros der Lehrer auf den permanenten Optativ des Wünschens und Wollens reagiert: nämlich gar nicht. Während Politiker, Psychologen, Lernforscher, Kulturtheoretiker und neuerdings auch Hirnforscher unablässig Vorschläge unterbreiten, wie die Schule noch zu retten sei, bleibt es in der Lehrerschaft auffällig still. Reformen von außen werden zwar zähneknirschend umgesetzt, etwa die Reduzierung der gymnasialen Oberstufe um ein Jahr oder der jahrgangsübergreifende Unterricht in der Grundschule. Aber ein breiter vitaler Erneuerungswille von innen ist kaum spürbar. Eher hinhaltender Widerstand. Dabei wissen auch Lehrer seit Langem, dass etwas nicht stimmt im Kosmos Schule.
Das Unbehagen ist groß, auch die Resignation in einem qua Verwaltung und Verbeamtung ruhiggestellten System. Dennoch leisten viele Lehrer einen hervorragenden Unterricht. Einzelne Lehrer und Schulleiter versuchen außerdem, auf eigene Faust Innovationen durchzusetzen. Zu den unerschrockenen Pionieren gehört das Kollegium der Integrierten Gesamtschule Göttingen. Trotz permanenter administrativer Gängelungsversuche – einmal sollte die Schule sogar geschlossen werden – wird hier erfolgreich ein eigenes Lernmodell verwirklicht. Innovationsgeist bewies ebenfalls der Schulleiter des Albrecht-Ernst-Gymnasiums in Oettingen, der das Konzept der Lernlandschaften entwickelte. Symptomatisch sind diese Beispiele nicht. Wie auch anderswo, hat die Normalität eine defensive Kraft. Viele Impulse verebben, weil es einfacher scheint,
einen unbefriedigenden Status quo aufrechtzuerhalten, statt Neues, Unbequemes zu wagen. »Das Kollegium muss sich in der Umsetzung einig sein und die erforderliche Mehrarbeit leisten. Ein Konsens ist oftmals nur schwer zu erreichen«, erklärt Albert Zimmermann von der Universität Köln das business as usual. Mehr Eigeninitiative wäre jedenfalls dringend notwendig. Eine international vergleichende Schulstudie des Boston College von 2013 kommt zu dem Schluss: Im Gegensatz zu anderen Ländern, wo äußere Sicherheit und gute Ausstattung von Schulen einen hohen Leistungsstandard der Schüler gewährleisten, sei es in Deutschland ausschlaggebend, ob der Schulleiter den Lernerfolg seiner Schüler anstrebe. Der Begriff des Leistungsstandards ist zwar erklärungsbedürftig, mehr Selbstverantwortung der Schulleiter und Lehrer ist jedoch fraglos vonnöten. Offenbar mangelt es an Energie und Tatkraft.
Befragt man Lehrer, ist vor allem eines erkennbar: ihr hoher Leidensdruck. Was ist von einem Berufsstand zu halten, in dem Survival-Ratgeber kursieren, in dem nur rund 40 Prozent der Beschäftigten die Regelaltersgrenze erreichen und in dem das Risiko eines Burn-outs höher ist als in jeder anderen Berufsgruppe? Auch wenn Enzensberger auf dem Boulevard der essayistischen Übertreibung flaniert: Grundsätzlich hat seine satirische Skizze wenig von ihrer Treffsicherheit verloren, vor allem im Hinblick auf das pädagogische Personal. So sinnvoll und angebracht es ist, über veränderte schulische Rahmenbedingungen nachzudenken, so wenig aussichtsreich sind verordnete Reformen, wenn das öffentliche Bild, aber auch die Selbstwahrnehmung der Lehrer derart desaströs bleiben wie zurzeit. Untersuchungen belegen, dass sie zunehmend mit sich selbst beschäftigt sind, mit Überforderung, Hilflosigkeit, Resignation.
Eine Allensbach-Studie von 2012 mit dem bezeichnenden Titel »Lehre(r) in Zeiten der Bildungspanik« ergab: 49 Prozent der Befragten meinen, das Unterrichten sei anstrengender geworden, 33 Prozent beklagen starke psychische Belastungen. In der folgenden Allensbach-Studie aus dem Jahr 2013 sind es bereits 54 Prozent der Lehrer, die über erschwerte Verhältnisse stöhnen. 74 Prozent meinen überdies, eine individuelle Förderung von Schülern sei unter den gegenwärtigen Bedingungen unmöglich. Angesichts solcher Zahlen muss man davon ausgehen, dass weniger Desinteresse als vielmehr innere Emigration für die Misere des Lehrerberufs verantwortlich ist. Oft beginnt die Spirale der Frustration bereits während des Referendariats. Jeder zweite Lehrer fühlt sich unzureichend auf den Schulalltag vorbereitet.
Erst nach vier bis sechs Jahren Studium wird vielen Lehramtskandidaten klar, worauf sie sich eingelassen haben: auf die oft anstrengende Begegnung mit Kindern und Jugendlichen, auf Herausforderungen, denen sie sich nicht gewachsen und für die sie sich nicht qualifiziert fühlen. Manchem wird auch bewusst, dass er möglicherweise weniger am Pädagogendasein interessiert war als an seinen Neigungsfächern. Kein Wunder, dass viele Referendare die ersten Erfahrungen mit der Praxis als Schock empfinden. Allerdings ohne die Konsequenzen daraus zu ziehen, wie Bildungsforscher Udo Rauin kritisiert: »Sie verdrängen ihre Inkompetenz in der Hoffnung, dass sich das schon irgendwie legen wird, da der Lehrerberuf andere Vorteile hat beziehungsweise die Perspektivlosigkeit in anderen Bereichen so groß ist, dass man dann doch dabeibleibt.«
Natürlich gibt es sie, die engagierten, aufopferungsvollen Lehrer, die hochmotiviert vor ihrer Klasse stehen und Schüler begeistern können. Das ist jedoch nicht die Regel. Unzufriedenheit und subjektiv empfundene Belastungen wachsen, während die gesellschaftliche Anerkennung sinkt oder ganz ausbleibt.Im Schuljahr 2012/2013 unterrichteten in Deutschland rund 670 000 voll- und teilzeitbeschäftigte Lehrer etwa 11,25 Millionen Schüler. Knapp 12 Millionen Deutsche verbringen also täglich viele Stunden im Klassenzimmer, ein Teil davon ganztags.Eine gewaltige Zahl. Rechnet man die Familien von Lehrern und Schülern hinzu, kann man ermessen, wie viele Menschen sich tagein, tagaus mit dem Thema Schule auseinandersetzen, als Akteure, als Zuschauer, als Kommentatoren. Die Art und Weise, wie Schule erlebt wird, hat damit einen kaum zu unterschätzenden Einfluss auf das gesellschaftliche Klima.
Die historische Entwicklung des Lehrerberufs in Deutschland ist die Geschichte eines Imageproblems. Lange vor der Lehrerschelte heutiger Tage wurde das Außenseiterspiel erfunden. Dorfschulmeister waren oft lausig ausgebildet, sozial isoliert und wurden als Witzfiguren wahrgenommen – exemplarisch verewigt in Wilhelm Buschs Lehrer Lämpel. Als Hauslehrer der Adelsschicht fristeten Pädagogen ein Dasein als deklassierte Bedienstete. Und seit sie in den Status des Berufsbeamtentums wechselten, empfand man sie als wenig sympathische Vollstrecker des Obrigkeitsstaats. Auch der Typus des studentenbewegten Lehrers der Siebzigerjahre, der seine Schüler duzte und Bob-Dylan-Songs zum eigenhändigen Gitarrenspiel vortrug, sorgte für keine Imageverbesserung. Mit der Feuerzangenbowlen-Gemütlichkeit ist es lange vorbei. Heute ist Lehrerbashing Volkssport. Die haben morgens recht und nachmittags frei, heißt es. Eine Mischung aus Neid und Verachtung schlägt ihnen entgegen. Oft verbirgt sich dahinter eine hochtrainierte Form von Ignoranz. Fundamentalkritik kann eine subtile Variante des Schweigens sein, auch der unterlassenen Hilfeleistung. Viele Lehrer sind am Limit. Mit Solidarität oder gar Unterstützung können sie jedoch kaum rechnen.Den einen sind sie zu autoritär, die anderen spotten über Kuschelpädagogen. Manche fordern Entertainer, andere leistungsbetonte Entspaßer.
Symptomatisch ist die Einschätzung einer Lehrerin, die den »Aberwitz des Schulalltags« schildert: »Mit mir hat niemand Mitleid«, beschwert sie sich. »Aus dem Fernsehen weiß ich, dass es eigentlich nur zwei Sorten Lehrer gibt: weltfremd, vertrottelt und vergammelt oder arrogant, böse und zynisch. Ich habe mich entschieden: lieber Megäre als Depp!« Nur als »Kinderschreck« überlebe sie die Zumutungen aufsässiger Pubertierender, hauptberuflicher Mütter und besserwisserischer Kollegen.
Erst wenn sich Lehrer energisch von negativen Selbstbildern emanzipieren und als geistige Entwicklungshelfer auftreten, werden sie eine gesellschaftliche Aufwertung erfahren. Dafür brauchen sie mehr Autonomie und weniger administrative Gängelung; dafür brauchen sie aber auch den ernsthaften Willen, selbst am notwendigen Wandel mitzuwirken. Ohne die solidarische Unterstützung aller Beteiligten wird das nicht möglich sein. Daher geht es in diesem Buch weder um eine Diffamierung der Lehrer noch um Attacken auf die öffentliche Schule. Es ist ein Plädoyer für eine Kultur gegenseitiger Achtsamkeit. Wir brauchen eine neue Beziehungskultur, die Klischees von desinteressierten Lehrern, aufmerksamkeitsgestörten Schülern und wahlweise ignoranten oder penetranten Eltern ad acta legt.
Oberstudienrat Vogel seufzt schon am Freitagabend, wenn er an den Montagmorgen denkt. Bernd Bonitz behauptet steif und fest, seine 3 400 netto im Monat seien schwer verdientes Geld, die Hauptschule, sagt er, sei der reinste Gulag, und lange mache er das nicht mehr. Fräulein Zimmerle hat sich krankschreiben lassen, die Kollegin Wildgruber schafft es nur noch mit Hilfe von Tabletten, Dr. Wartmann ist enttäuscht, Dr. Gross verbittert, die Frau von Koegler will sich scheiden lassen, und Fritzi Bauriedl hat neulich in der Konferenz gesagt: »Wenn ich noch einmal das Wort Rückstellerquote höre, dann schreie ich.« Woran mag das alles nur liegen? Das weiß anscheinend kein Mensch. Alle bisherigen Nachforschungen, so gründlich sie auch angestellt wurden, alle Pilotversuche, alle Innovationsausschüsse, alle Wahlpflichtdifferenzierungsmodelle, alle Didaktik-Designs, alle Evaluationsuntersuchungen, alle Bildungsgesamtpläne und Rahmenrichtlinien haben den langen, langen Jammer der Schulen nur noch verlängert.
Hans Magnus Enzensberger, Plädoyer für den Hauslehrer, in: Politische Brosamen, Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1982
Was klingt wie ein langer, langer Seufzer aus dem zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts, entstammt einem Essay von 1982. Geschrieben hat ihn Hans Magnus Enzensberger, und man sollte meinen, dass wir heute, mehr als dreißig Jahre später, befreit darüber lachen könnten. Amüsant ist der Text jedoch wegen seiner verblüffenden Aktualität. Oder, genauer gesagt, wegen seiner nahezu absurden Aktualität. Warum laborieren wir noch immer an den gleichen Problemen herum wie in der frühen Neuzeit der deutschen Bildungsdebatte? Warum kommen uns die satirisch überzeichneten Lehrertypen so bekannt vor, die hohl klingelnden Fachbegriffe, die kopfschüttelnde Ratlosigkeit des Autors?
Auch heute sorgt das Reizthema Schule wie kaum ein anderes für hitzige Kontroversen. Die Diagnose eines Bildungsnotstands gehört ebenso zum Inventar unserer Empörungskultur wie das Lamento über veraltete Lehrpläne, obsolete pädagogische Konzepte und nicht zuletzt die überforderten Lehrkräfte. An Therapievorschlägen mangelt es nicht. Kleinere Klassen, neue Lehrinhalte, offener Unterricht, die Abschaffung von Zensuren – in einem Klima, das von Alarmismus geprägt ist, überbietet man einander mit Ideen für strukturelle Veränderungen. Sie verheißen Befreiungsschläge, heraus aus der Bildungsmisere, hin zu einem Schulsystem, dessen Absolventen faire Chancen auf sozialen wie beruflichen Erfolg haben. Allerdings fällt auf, mit welch erstaunlicher Beharrungskraft das Gros der Lehrer auf den permanenten Optativ des Wünschens und Wollens reagiert: nämlich gar nicht. Während Politiker, Psychologen, Lernforscher, Kulturtheoretiker und neuerdings auch Hirnforscher unablässig Vorschläge unterbreiten, wie die Schule noch zu retten sei, bleibt es in der Lehrerschaft auffällig still. Reformen von außen werden zwar zähneknirschend umgesetzt, etwa die Reduzierung der gymnasialen Oberstufe um ein Jahr oder der jahrgangsübergreifende Unterricht in der Grundschule. Aber ein breiter vitaler Erneuerungswille von innen ist kaum spürbar. Eher hinhaltender Widerstand. Dabei wissen auch Lehrer seit Langem, dass etwas nicht stimmt im Kosmos Schule.
Das Unbehagen ist groß, auch die Resignation in einem qua Verwaltung und Verbeamtung ruhiggestellten System. Dennoch leisten viele Lehrer einen hervorragenden Unterricht. Einzelne Lehrer und Schulleiter versuchen außerdem, auf eigene Faust Innovationen durchzusetzen. Zu den unerschrockenen Pionieren gehört das Kollegium der Integrierten Gesamtschule Göttingen. Trotz permanenter administrativer Gängelungsversuche – einmal sollte die Schule sogar geschlossen werden – wird hier erfolgreich ein eigenes Lernmodell verwirklicht. Innovationsgeist bewies ebenfalls der Schulleiter des Albrecht-Ernst-Gymnasiums in Oettingen, der das Konzept der Lernlandschaften entwickelte. Symptomatisch sind diese Beispiele nicht. Wie auch anderswo, hat die Normalität eine defensive Kraft. Viele Impulse verebben, weil es einfacher scheint,
einen unbefriedigenden Status quo aufrechtzuerhalten, statt Neues, Unbequemes zu wagen. »Das Kollegium muss sich in der Umsetzung einig sein und die erforderliche Mehrarbeit leisten. Ein Konsens ist oftmals nur schwer zu erreichen«, erklärt Albert Zimmermann von der Universität Köln das business as usual. Mehr Eigeninitiative wäre jedenfalls dringend notwendig. Eine international vergleichende Schulstudie des Boston College von 2013 kommt zu dem Schluss: Im Gegensatz zu anderen Ländern, wo äußere Sicherheit und gute Ausstattung von Schulen einen hohen Leistungsstandard der Schüler gewährleisten, sei es in Deutschland ausschlaggebend, ob der Schulleiter den Lernerfolg seiner Schüler anstrebe. Der Begriff des Leistungsstandards ist zwar erklärungsbedürftig, mehr Selbstverantwortung der Schulleiter und Lehrer ist jedoch fraglos vonnöten. Offenbar mangelt es an Energie und Tatkraft.
Befragt man Lehrer, ist vor allem eines erkennbar: ihr hoher Leidensdruck. Was ist von einem Berufsstand zu halten, in dem Survival-Ratgeber kursieren, in dem nur rund 40 Prozent der Beschäftigten die Regelaltersgrenze erreichen und in dem das Risiko eines Burn-outs höher ist als in jeder anderen Berufsgruppe? Auch wenn Enzensberger auf dem Boulevard der essayistischen Übertreibung flaniert: Grundsätzlich hat seine satirische Skizze wenig von ihrer Treffsicherheit verloren, vor allem im Hinblick auf das pädagogische Personal. So sinnvoll und angebracht es ist, über veränderte schulische Rahmenbedingungen nachzudenken, so wenig aussichtsreich sind verordnete Reformen, wenn das öffentliche Bild, aber auch die Selbstwahrnehmung der Lehrer derart desaströs bleiben wie zurzeit. Untersuchungen belegen, dass sie zunehmend mit sich selbst beschäftigt sind, mit Überforderung, Hilflosigkeit, Resignation.
Eine Allensbach-Studie von 2012 mit dem bezeichnenden Titel »Lehre(r) in Zeiten der Bildungspanik« ergab: 49 Prozent der Befragten meinen, das Unterrichten sei anstrengender geworden, 33 Prozent beklagen starke psychische Belastungen. In der folgenden Allensbach-Studie aus dem Jahr 2013 sind es bereits 54 Prozent der Lehrer, die über erschwerte Verhältnisse stöhnen. 74 Prozent meinen überdies, eine individuelle Förderung von Schülern sei unter den gegenwärtigen Bedingungen unmöglich. Angesichts solcher Zahlen muss man davon ausgehen, dass weniger Desinteresse als vielmehr innere Emigration für die Misere des Lehrerberufs verantwortlich ist. Oft beginnt die Spirale der Frustration bereits während des Referendariats. Jeder zweite Lehrer fühlt sich unzureichend auf den Schulalltag vorbereitet.
Erst nach vier bis sechs Jahren Studium wird vielen Lehramtskandidaten klar, worauf sie sich eingelassen haben: auf die oft anstrengende Begegnung mit Kindern und Jugendlichen, auf Herausforderungen, denen sie sich nicht gewachsen und für die sie sich nicht qualifiziert fühlen. Manchem wird auch bewusst, dass er möglicherweise weniger am Pädagogendasein interessiert war als an seinen Neigungsfächern. Kein Wunder, dass viele Referendare die ersten Erfahrungen mit der Praxis als Schock empfinden. Allerdings ohne die Konsequenzen daraus zu ziehen, wie Bildungsforscher Udo Rauin kritisiert: »Sie verdrängen ihre Inkompetenz in der Hoffnung, dass sich das schon irgendwie legen wird, da der Lehrerberuf andere Vorteile hat beziehungsweise die Perspektivlosigkeit in anderen Bereichen so groß ist, dass man dann doch dabeibleibt.«
Natürlich gibt es sie, die engagierten, aufopferungsvollen Lehrer, die hochmotiviert vor ihrer Klasse stehen und Schüler begeistern können. Das ist jedoch nicht die Regel. Unzufriedenheit und subjektiv empfundene Belastungen wachsen, während die gesellschaftliche Anerkennung sinkt oder ganz ausbleibt.Im Schuljahr 2012/2013 unterrichteten in Deutschland rund 670 000 voll- und teilzeitbeschäftigte Lehrer etwa 11,25 Millionen Schüler. Knapp 12 Millionen Deutsche verbringen also täglich viele Stunden im Klassenzimmer, ein Teil davon ganztags.Eine gewaltige Zahl. Rechnet man die Familien von Lehrern und Schülern hinzu, kann man ermessen, wie viele Menschen sich tagein, tagaus mit dem Thema Schule auseinandersetzen, als Akteure, als Zuschauer, als Kommentatoren. Die Art und Weise, wie Schule erlebt wird, hat damit einen kaum zu unterschätzenden Einfluss auf das gesellschaftliche Klima.
Die historische Entwicklung des Lehrerberufs in Deutschland ist die Geschichte eines Imageproblems. Lange vor der Lehrerschelte heutiger Tage wurde das Außenseiterspiel erfunden. Dorfschulmeister waren oft lausig ausgebildet, sozial isoliert und wurden als Witzfiguren wahrgenommen – exemplarisch verewigt in Wilhelm Buschs Lehrer Lämpel. Als Hauslehrer der Adelsschicht fristeten Pädagogen ein Dasein als deklassierte Bedienstete. Und seit sie in den Status des Berufsbeamtentums wechselten, empfand man sie als wenig sympathische Vollstrecker des Obrigkeitsstaats. Auch der Typus des studentenbewegten Lehrers der Siebzigerjahre, der seine Schüler duzte und Bob-Dylan-Songs zum eigenhändigen Gitarrenspiel vortrug, sorgte für keine Imageverbesserung. Mit der Feuerzangenbowlen-Gemütlichkeit ist es lange vorbei. Heute ist Lehrerbashing Volkssport. Die haben morgens recht und nachmittags frei, heißt es. Eine Mischung aus Neid und Verachtung schlägt ihnen entgegen. Oft verbirgt sich dahinter eine hochtrainierte Form von Ignoranz. Fundamentalkritik kann eine subtile Variante des Schweigens sein, auch der unterlassenen Hilfeleistung. Viele Lehrer sind am Limit. Mit Solidarität oder gar Unterstützung können sie jedoch kaum rechnen.Den einen sind sie zu autoritär, die anderen spotten über Kuschelpädagogen. Manche fordern Entertainer, andere leistungsbetonte Entspaßer.
Symptomatisch ist die Einschätzung einer Lehrerin, die den »Aberwitz des Schulalltags« schildert: »Mit mir hat niemand Mitleid«, beschwert sie sich. »Aus dem Fernsehen weiß ich, dass es eigentlich nur zwei Sorten Lehrer gibt: weltfremd, vertrottelt und vergammelt oder arrogant, böse und zynisch. Ich habe mich entschieden: lieber Megäre als Depp!« Nur als »Kinderschreck« überlebe sie die Zumutungen aufsässiger Pubertierender, hauptberuflicher Mütter und besserwisserischer Kollegen.
Erst wenn sich Lehrer energisch von negativen Selbstbildern emanzipieren und als geistige Entwicklungshelfer auftreten, werden sie eine gesellschaftliche Aufwertung erfahren. Dafür brauchen sie mehr Autonomie und weniger administrative Gängelung; dafür brauchen sie aber auch den ernsthaften Willen, selbst am notwendigen Wandel mitzuwirken. Ohne die solidarische Unterstützung aller Beteiligten wird das nicht möglich sein. Daher geht es in diesem Buch weder um eine Diffamierung der Lehrer noch um Attacken auf die öffentliche Schule. Es ist ein Plädoyer für eine Kultur gegenseitiger Achtsamkeit. Wir brauchen eine neue Beziehungskultur, die Klischees von desinteressierten Lehrern, aufmerksamkeitsgestörten Schülern und wahlweise ignoranten oder penetranten Eltern ad acta legt.