Rotary Aktuell
Hautnah auf den Spuren des Krieges
Die Anteilseigner der sieben Bürgerwindparks im münsterländischen Kreis Steinfurt und der RC Steinfurt unter Federführung von Claus Muchow sammelten bislang über zwei Millionen Euro zur Unterstützung der Menschen in der Ukraine. Unser Autor hat eine rotarische Projektreise in das vom Krieg gezeichnete Land begleitet.
Fast 7000 Kilometer in neun Tagen, da ist der Begriff Höllenritt nicht ganz unberechtigt. Zumal die Ziele in der Ostukraine liegen, auf dem Weg dorthin die polnischen Landwirte auch für eine Hilfstransportbegleitung nicht den Weg freimachen wollen und auf der Rückreise ein platter Vorderradreifen im Niemandsland zwischen der Ukraine und Polen für ungewollte Stopps sorgte. Ach ja, und ein harmloser Fotohalt an einer Gedenktafel für gefallene Soldaten in einem kleinen Kaff nahe der moldawischen Grenze lässt einen äußerst unentspannten ukrainischen Soldaten zur Pistole greifen. Dass es bei einem warnenden Herumfuchteln mit der geladenen Waffe vor meiner stattlichen Nase blieb, ist wohl nur der ukrainischen Freundin zu verdanken, die unser krisenerfahrener Missionsleiter per Telefon zuschaltet.
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Unterm Strich ist Claus Muchow mit seiner jetzt schon vierten Ukraine-Reise seit Ausbruch des Krieges mehr als zufrieden. Das Mitglied des Rotary Clubs Steinfurt kann sich während der Reise nicht nur davon überzeugen, dass erneut 150 gespendete Krankenhausbetten wieder dort angekommen sind, wo sie wirklich benötigt werden. Nämlich in den sogenannten Unterstützungshospitälern, in denen die oft schwerstverletzten Soldaten nach ihrer Erstversorgung an der Front behandelt werden.
Mürrischer Soldat
Wie zum Beispiel Juri. Der mürrische Soldat hat sichtlich keine Lust, sich mit einem deutschen Journalisten zu unterhalten. Abschätzig mustert er mich von oben bis unten und zieht die Augenbrauen abweisend in die Tiefe. Er liegt hier in Tarnhose und olivgrünem Fleeceshirt auf seinem Bett am Fenster, am Fußende schließt sich das seines Kameraden an. Den hat es auf den ersten Blick deutlich schwerer erwischt. Sein linkes Bein hängt in einem stählernen Gestell, ein Gewicht hält es in Position. Er starrt schweigend die Wand an. Ich weiß nicht, was Olha, unsere Begleiterin und Übersetzerin, dem schlecht gelaunten Juri da gerade sagt. Aber plötzlich hellt sich seine Miene auf, und er nickt mir aufmunternd zu. Und beginnt zu erzählen …
Seit vier Monaten liegt er im Krankenhaus. Das hier in Solotonoscha ist die dritte und hoffentlich letzte Station für ihn. Hier kommt er her, hier leben seine Eltern, die ihn meist einmal die Woche besuchen. Als sich Juri auf die Bettkante setzen will, sehe ich, warum er hier ist. Er muss beide Hände unter seinen rechten Oberschenkel schieben, um das Bein aus dem Bett zu heben. Mehrere Granatsplitter eines russischen Artilleriegeschosses haben ihn am Bein und am Oberarm getroffen. Ob er je wieder richtig laufen können wird und er damit zurück zu seiner Einheit muss? Juri weiß es noch nicht. „Am Montag kommt eine Kommission, um mich zu untersuchen, dann weiß ich mehr“, erklärt er.
Wo der 37-Jährige im Einsatz war, als es passierte, darf er mir nicht sagen. Nur so viel: „Es war in der Gegend um Donezk.“ Das ist eine Stadt im Osten der Ukraine, bekannt als Zentrum des Kohleabbaus. „Ich bin Commander einer Maschinengewehr-Einheit“, erzählt Juri weiter. Er hat sich direkt nach Ausbruch des Krieges freiwillig zur Armee gemeldet. Vorher war er Bahnhofsmanager. Ob er nach Kriegsende zur Bahn zurückkehren kann, steht für Juri auch noch in den Sternen.
Einzigartige Kooperation
Er ist vor vier Monaten direkt nach seiner Verletzung bei einer mobilen Sanitätseinheit für den Transport hinter die Front stabilisiert worden. Danach wurde er ausgeflogen in eines der vielen Unterstützungskrankenhäuser, die neben dem Normalbetrieb die Versorgung der zahlreichen verletzten Soldaten übernehmen. Für die Hospitäler oft ein großes Problem, wie die Klinikdirektorin hier in Solotonoscha, Ruina Nasalska, erklärt. Zusätzliche Mittel gibt es weder von der Kommunalverwaltung noch von der Regierung in Kiew. Hinzu kommt die Personalknappheit, viele Kollegen seien ins Ausland gegangen oder an der Front. Urlaub hat es seit dem Angriff der Russen nicht gegeben. Nasalska ist über die Unterstützung aus Deutschland natürlich sehr dankbar. Claus Muchow hat sich gerade bei einem Rundgang durch das alte Gebäude vom ordnungsgemäßen Erhalt von fünf Spezialkrankenhausbetten unter anderem für Schwerstverletzte überzeugt. Sie sind alle schon in Gebrauch. Auf der Intensivstation liegen zwei Soldaten, im Nebengebäude drei werdende Mütter.
Die per Lkw vor wenigen Tagen angelieferten Betten sind das Ergebnis einer einzigartigen Kooperation. Da sind zum einen die Anteilseigner der sieben Bürgerwindparks im Kreis Steinfurt im Münsterland. „Wir wurden durch die explosionsartig gestiegenen Strompreise nach dem Angriff der Ukraine durch Russland ungewollt zu Kriegsgewinnern“, beschreibt Gerhard Göckenjan, einer der Geschäftsführer des Bürgerwindparks Hollich, die damalige Ausgangssituation. Was tun? Die Parks zwackten in einer Gemeinschaftsaktion eine erkleckliche Summe von den Erlösen ab, um damit die ukrainische Bevölkerung zu unterstützen. 2,2 Millionen Euro kamen unterm Strich zusammen. Geld, das sorgsam ausgegeben werden sollte, und natürlich nur dort, wo es auch tatsächlich benötigt wird.
Ansprechpartner Rotary
Hier kommt Rotary ins Spiel – in der Person von Claus Muchow, großartig unterstützt von seinen rotarischen Freunden aus dem RC Steinfurt. Der Bezirksschornsteinfegermeister in seinem Heimatort Steinfurt war über 20 Jahre lang für das Internationale Rote Kreuz an den Krisenherden dieser Welt. Meistens als Head of Mission, also als Leiter der von Genf aus gesteuerten Hilfsaktionen. Das Erdbeben auf Haiti, der Tsunami in Thailand, die Balkankrise oder die Ebola-Epidemie in Westafrika: Claus Muchow hat nicht nur viel Elend gesehen, er hat auch mitgeholfen, es zu beseitigen. Das Bundesverdienstkreuz und einen Bambi hat der bescheidene ehrenamtliche Helfer für seinen Einsatz über die Jahre erhalten. Somit war Muchow – in seiner Heimatstadt natürlich bekannt wie der sprichwörtliche bunte Hund – der Mann für diese Ukraine-Aktion. Nicht nur für den Check vor Ort. Nein, auch um Projekte auszukundschaften, für die sich der Spendeneinsatz lohnt.
Ansprechpartner in der Ukraine: Rotary. Schnell landete Muchow in Tscherkassy, wo unter der Regie von Prof. Dr. Olha Paliychuk ein Rotary-Verteilzentrum eingerichtet worden war, von dem aus Hilfsgüter aus aller Welt in dem vom Krieg gezeichneten Land weiterverteilt werden. „Schnell war klar, dass es in der Ukraine einen großen Mangel an modernen Krankenhausbetten gibt, in dem gerade Schwerstverletzte adäquat gelagert werden können“, erinnert sich Claus Muchow. Aber auch soziale Projekte für die vielen Binnenflüchtlinge sollten mit den Mitteln aus dem Kreis Steinfurt finanziert werden.
Claus Muchow hat mittlerweile über 400 Krankenhausbetten mithilfe der Rotary Clubs in der Ukraine an die richtigen Adressen vermittelt. „Weitere werden noch folgen“, verspricht er im Militärkrankenhaus in Charkiw. 1000 Soldaten sind hier untergebracht. Trotz eines vorher vereinbarten Termins müssen wir nach einer fünfstündigen Anreise draußen bleiben. Die Gefährdungslage lässt einen Besuch in den Krankenzimmern, wo die Betten aus Deutschland stehen, nicht zu, sagt man uns. Ein Kommunikationsoffizier macht aber für mich wenigstens ein paar Bilder. Das Militärkrankenhaus liegt im Zentrum von Charkiw. Hier brummen gerade die Generatoren. Stromausfall, Blackout. „Das Hospital ist voll belegt“, erläutert Mishel Gagarkin, der für alle 20 Krankenhäuser in der Region für die Logistik verantwortlich ist. Gerade ist im Stadtbezirk nebenan, keine 500 Meter Luftlinie, eine russische Rakete eingeschlagen. Trauriger Alltag in der zweitgrößten Stadt der Ukraine, rund 40 Kilometer von der russischen Grenze entfernt.
Leben mit Luftalarm
Wir lernen Anna Korotchenko kennen. Die 37-jährige Mutter von zwei Kindern ist Mitglied im Rotary Club Nadiya in Charkiw. Ein Club, der nur Frauen als Mitglieder hat. Anna erzählt mir, wie es sich lebt in einer Stadt, in der täglich mehrmals die Luftalarm-Sirenen heulen. Die Alarme und die Angriffe hat Anna mit der Hoffnung, dass ihrer Familie schon nichts passiert, innerlich verarbeitet. „Aber die Kinder …“ Wenn sie nachts die Einschläge hört, geht sie zu ihren beiden Töchtern und umarmt sie, damit sie keine Angst bekommen. „Und am nächsten Morgen musst du ihnen vorspielen, alles wäre ganz normal. Du fragst, was in der Schule anliegt, besprichst den Nachmittag. Das ist hart.“ Während sie das erzählt, gibt sie zu, „I get goosebumps“. Sie bekommt Gänsehaut. Wenn sie dann ihre Kinder mit dem Auto zur Schule bringt, denkt sie oft: „Das ist alles hier so surreal wie bei Alice im Wunderland.“ Nur ohne Fun.
Natürlich bekommen ihre Kinder den Krieg hautnah mit. Erst vor ein paar Wochen schlug eine Rakete keine 150 Meter von ihrem Haus entfernt ein. Die Erschütterungen waren wie bei einem Erdbeben zu spüren. Aber gerade die 13-Jährige, unlängst in der Pubertät angekommen, rebelliert schon mal, wenn wieder mal Partys oder andere Freizeitaktivitäten ausfallen müssen, weil ein Angriff droht. Bei solchen Gelegenheiten bekommt Mutter Anna allen Frust ab. Ihre Standardantwort: „Das musst du nicht mir, das musst du Herrn Putin sagen.“
Die kleinen Patienten des Kinderkrebskrankenhauses Nummer 16 leiden besonders unter dem Krieg. Jeden Abend geht es für die 250 Jungen und Mädchen die Stufen hinunter in den Keller, damit sie dort halbwegs geschützt vor den Bomben durchschlafen können. Mithilfe vieler Geldgeber, darunter auch der Rotary Club Nadiya, wurde der Keller so gut es geht als Schutzraum hergerichtet. Die Windparks haben auch für diese Einrichtung Betten gekauft. Krankenhausdirektorin Marynia Kucherenko erzählt uns von Angriffen auf die Stadt, bei denen in der Nähe des Hospitals Raketen einschlugen. Ärzte wie Pfleger bleiben in solchen Situationen wie selbstverständlich bei ihren Schützlingen. Solche Erlebnisse bringenalle Beteiligten psychisch an ihre Grenzen, das ist der Direktorin deutlich anzumerken. Sie will sich aber nicht unterkriegen lassen. Marynia verabschiedet uns mit den Worten, dass die Ukraine erkennen musste, dass aus Nachbarn die schlimmsten Feinde werden können. Sie ist überzeugt: „Was man gegeben hat, bekommt man irgendwann auch wieder zurück. Im Guten wie im Bösen.“
Odessa, unsere letzte Station in der Ukraine, ist für uns ein besonders krasses Beispiel dafür, dass das Bild des Krieges ein äußerst ambivalentes sein kann. Auf den ersten Blick pulsiert hier das ganz normale Großstadtleben. Die Cafés sind bei schönstem Frühlingswetter gut gefüllt, vor der Kathedrale verkauft ein Maler seine kleinen Ölbilder mit Stadtansichten. Wir müssen schon genauer hinschauen, um die Spuren der ständigen Angriffe zu sehen. Die Verklärungskathedrale, einer der Anziehungspunkte für Besucher der Stadt, ist abgesperrt, der Glockenturm zerstört. Bei unserem Versuch, das Schwarze Meer zu sehen, scheitern wir immer wieder an den Absperrungen des Militärs. Der Hafen mit seiner Infrastruktur ist häufig Ziel russischer Angriffe.
Lebensgefährliche Leichensuche
In einem unscheinbaren Begegnungszentrum in einer Vorstadt von Odessa treffen wir die Gruppe von Leonid Ignatiev. Sie ist einmalig in der Ukraine. Das 14-köpfige Team gehört nicht zur Armee, arbeitet aber eng mit ihr zusammen. Es sind Freiwillige, geeint unter der Maxime: Einer muss den Job ja machen.Was das für ein Job ist? Die Männer und eine Frau suchen nach Leichen auf den Schlachtfeldern des Krieges. Denn solange gefallene Soldaten nicht gefunden und identifiziert sind, gelten sie als vermisst. Was ihre Familien und Freunde in quälender Ungewissheit lähmt. Offiziell sind es bislang 25.000 Soldaten, deren Schicksal ungeklärt ist. Leonid Ignatiev ist überzeugt: „Die Dunkelziffer ist sehr viel höher.“
Am Montag geht die Gruppe in den nächsten Einsatz. Katerina Rotarenko, die einzige Frau in der Gruppe: „Nahe Kiew suchen wir nach vermisst gemeldeten Soldaten.“ Wie man sich die Arbeit auf den verlassenen Kampfzonen vorstellen muss? „Wir setzen Drohnen ein, gehen das Gebiet aber auch zu Fuß ab.“ Was lebensgefährlich ist. Die Minengefahr lauert überall. Rotarenko lacht. „Mittlerweile haben wir so viel Erfahrung, dass die Minenräumer hinter uns hergehen.“ Vor den Russen hat die 30-Jährige nicht mehr so viel Angst. Sie lief unlängst einer Patrouille des Gegners über den Weg. Der Anführer fragte, was sie dort mache. „Leichen bergen.“ – „Nur Ukrainer?“ – „Nein, auch Russen.“ Da durfte Katerina unbehelligt weitermachen. Ja, in der Tat. Die Privatinitiative macht da keine Unterschiede. Tote russische Soldaten werden dem Gegner überstellt.
Einer muss den Job ja machen – und ein anderer bezahlen. Auch hier hilft Rotary. In diesem speziellen Fall sind es Sponsoren, die Leonid, auch Rotarier, in seiner freien Zeit immer wieder überzeugen muss, ihr Portemonnaie für seine Sache zu öffnen. Allein an Sprit verfahren die Ehrenamtlichen monatlich umgerechnet 2500 Euro. Erst gerade musste der Chef seinen Geländewagen reparieren lassen. Er hat Minensplitter abbekommen. Claus Muchow kann am Ende eines eindrucksvollen Gesprächs nichts versprechen. Er wird das Projekt aber auf jeden Fall in Steinfurt seinen Geldgebern präsentieren.
Der Diesel des VW Bullis singt sein leises, monotones Lied. Wir sind irgendwo hinter Uman, auf dem Weg Richtung polnische Grenze. Claus hat gerade das Steuer für eine unserer Zwei-Stunden-Schichten übernommen. Zeit, ihn nach seinem ganz persönlichen Fazit dieser vierten Ukraine-Reise zu fragen. Er reibt sich das Kinn – und zitiert aus der Mail, die uns Katerina Rotarenko eben geschickt hat: „Es ist für uns so wichtig, dass es Leute gibt wie euch, die ihre Zeit für Menschen opfern, die ganz tief in Schwierigkeiten stecken, weil wir mit dem Bösen zu tun haben und einem Diktator, der den Verstand verloren hat.“ Dem ist aus der Sicht von Claus Muchow nichts mehr hinzuzufügen.
Spendenkonto:
Rotary Deutschland Gemeindienst
Deutsche Bank
IBAN DE 80 3007 0010 0394 1200 00,
BIC: DEUTDEDD
Stichwort: Bürgerwind hilft der Ukraine/C11717 P2301
Bei Spenden von Nicht-Rotariern ist bitte im Verwendungszweck auch die vollständige Anschrift anzugeben, damit später eine Zuwendungsbestätigung ausgestellt werden kann.
Axel Roll ist Redaktionsleiter der Lokalredaktion Borghorst/Burgsteinfurt der „Westfälischen Nachrichten“