Titelthema
Ein Fest für die Sinne
Die 300 Kilometer nördlich des Polarkreises gelegenen Vesterålen stehen im Schatten der bekannteren Lofoten. Gut so! Massentourismus gibt es hier nicht.
Wir sitzen auf dem Oberdeck der M/S Jacquelyn und können es kaum glauben, was wir rückblickend nach Langøya, Norwegens drittgrößter Insel, zu sehen bekommen: Eine schiefergraue Wolkenwalze fließt hinter der Kulisse des malerisch hingestreuten Fischerorts Stø wie ein Wasserfall die gipfelgarnierten Berge herab, um sich flirrend in allen Regenbogenfarben aufzulösen. Schon dieses Präludium unserer Fahrt mit einem Walbeobachtungsschiff macht andächtig und lässt verstehen, was Bjørnstjerne Bjørnson gemeint hat mit dem berühmten Satz „Wenn die Vereinigten Staaten Gottes eigenes Land sind, wurde Norwegen zumindest vom Heiligen Geist gezeugt.“
Pottwale im Sommer, garantiert
Dann verwischt das Land hinter bewegten Schleiern, und nur ein paar Seemeilen weiter wirkt der Himmel plötzlich wie eine Kuppel aus Vogelgeschrei und schwirren Heerscharen von Papageientauchern, Tordalken und Kormoranen um die Schäreninsel Anda, die zu den bedeutendsten Seevogelkolonien Norwegens zählt. Die Fahrt hat sich jetzt bereits gelohnt, obwohl ihr eigentliches Ziel, die über 1000 Meter tiefe Unterwasserschlucht von Bleik, noch etliche Seemeilen weiter nördlich liegt. Doch auch diese Passage, die entlang der strandreichen Insel Andenes führt, ist ein einziges Fest für die Sinne. Und schon gar die Ankunft am Tiefseegraben selbst. Dort nämlich hält sich allsommers ein stabiler Bestand von Pottwalen auf, und die Wahrscheinlichkeit, einen der bis zu 70 Tonnen schweren und 20 Meter langen Meeressäuger zu Gesicht zu bekommen, wird mit 95 bis 99 Prozent beziffert. So steht es im Prospekt. Und kaum ist der Rand des Tiefseegrabens erreicht, da steigt schon meterhoch der Blas eines ausatmenden Pottwals auf, dessen riesenhafter Rücken kurz darauf die Flut teilt. Dann liegt er ruhig da, bevor er erneut in die Tiefsee sticht und uns sekundenlang seine mächtige Fluke zeigt.
Das einzigartige Naturerlebnis einer solchen Tour trägt man in sich. Lebenslang! Denn egal ob aus Bird- oder Whale-Watching- oder landschaftlicher Sicht: Die etwa 300 Kilometer nördlich des Polarkreises gelegene Inselgruppe der Vesterålen ist schwer zu toppen, auch wenn sie im Schatten der südlich angrenzenden Lofoten steht, wo die Schmerzgrenze des Tourismus vielerorts längst überschritten ist. Auch sind die Berge dort eher schroff und nicht leicht zu erwandern, während die Vesterålen allein schon 156 markierte Wanderungen auf und um die „grünen Alpen im Nordmeer“ zählen. Ihre berühmteste ist die 15 Kilometer lange Königinnenroute. Rund fünf bis acht Stunden ist man entlang des Nordrands der Insel Langøya zwischen Stø und Nyksund unterwegs, und Highlight dieser landschaftlich extrem abwechslungsreichen Rundtour ist die 448 Meter hohe Finngamheia, von der aus sich schlicht atemberaubende Panoramen bieten. Nyksund hingegen, einst verlassen, ab 1985 wiederbelebt und heute knapp zwei Dutzend Einwohner groß, präsentiert sich mit seinen bunten Fischerhäusern, teils noch verfallen, teils renoviert, ganz pittoresk und vermittelt ein authentisches Bild ursprünglicher nordnorwegischer Lebensweise.
Inmitten größtmöglicher Einsamkeit
Dazu gibt es norwegenweit kein Pendant, wie auch das vor dem Südrand von Langøya gelegene Litløy kein Gegenstück kennt. Dort nämlich, sozusagen am Magnetpol der größtmöglichen Einsamkeit, können Sie sich die Extravaganz erfüllen, im ehemaligen Leuchtturmwärterhäuschen auf einer eigenen und ganz unbewohnten Insel die Seele baumeln zu lassen, ohne auf behaglichen Komfort verzichten zu müssen. Nirgends macht das süße Nichtstun reicher und glücklicher, hier lässt es sich herrlich in der eigenen Existenz baden und die Sinneseindrücke genießen. Auch im Winter sind die Vesterålen unbedingt einen Besuch wert. Statt prächtiger Wale gibt es dann prächtige Nordlichter.
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8/2022
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