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Ein ganz besonderes Weihnachtsfest
Jeder wünscht sich festliche Stimmung und anregende Gespräche zum Weihnachtsessen. Wie wäre es also, wenn historische Personen zum Essen kämen? Eine Weihnachtsgeschichte von Marion Uhlmann
Das ganze Jahr habe ich hart gearbeitet und jede freie Minute in die Entwicklung meiner Zeitmaschine gesteckt, um sie noch vor dem Weihnachtsfest fertigzustellen.
Es handelt sich dabei um keine gewöhnliche, sondern um die "Super Magenda 2.0 reloaded". Die einzige Maschine, mit der man nicht nur selbst durch die Zeit fliegen, sondern sich historische Personen direkt nach Hause holen kann.
Ich bin bestens auf Weihnachten vorbereitet, denn ich werde es in diesem Jahr gemeinsam mit großen Persönlichkeiten der europäischen Geschichte, also Legenden feiern! Der Weihnachtsbaum ist mit bunten Kugeln und viel Lametta geschmückt, so wie man es von früher gewohnt ist. Allerdings benutze ich aus Sicherheitsgründen LED-Lichter anstelle von Kerzen
Auf dem Tisch steht die Weihnachtsgans, drum herum festliches Geschirr, Servietten, Gläser, der ganze Schnickschnack, der zu einer guten Feier gehört.
Ich schenke mir ein Glas Rotwein ein und nehme die Zeitmaschine in die Hand. Sie ist nicht größer als ein Notebook, sehr modern – "2.0 reloaded", wie gesagt. Eine Gästeliste mit exklusiven Namen liegt vor mir. Leider kann ich sie nicht alle auf einmal einladen. Nach kurzem Zögern drücke ich die Taste.
König Etzel, der große Hunnenkönig landet und läuft sofort laut nach Kriemhild rufend durch das Zimmer. Ein Kreuzritter muss her. Ich drücke erneut den Knopf und er landet neben dem Tisch. Sofort zückt er seinen Dolch und sticht auf die Weihnachtsgans ein. Napoleon erscheint auf der Bildfläche. Er hat tatsächlich die Hand unter seiner Jacke, wie auf dem berühmten Bild! Allerdings nur, um eine Pistole zu ziehen und damit die Kugeln vom Weihnachtsbaum zu schießen. Der nächste Gast ist Achill, der große griechische Held des trojanischen Krieges. Furchteinflößend steht er im Raum und wirft einen strafenden Blick auf den Ritter, der weiter auf die Gans einsticht. Hildegard von Bingen blickt sich erschrocken um und folgt dann singend König Etzel, der noch immer rufend durch den Raum läuft. Wahrscheinlich will sie ihn beruhigen.
Die Weihnachtsgans sieht mittlerweile aus wie pulled pork oder auf Deutsch, Gänsefrikassee.
König Etzel und die singende Hildegard eilen an mir vorbei. Ich nehme einen Schluck Rotwein und studiere meine Gästeliste. Der nächste wäre Siegfried, der große Held der Nibelungensage. Er ist allerdings der erste Mann von Kriemhild. Das gibt nur Ärger mit König Etzel. Ich streiche ihn von der Liste und nehme mir vor, beim nächsten Mal mehr Mühe auf die Gästeauswahl zu verwenden.
Napoleon schießt weiter auf die Kugeln. Etzel leert mein Weinglas in einem Zug und rennt auf Achill zu. Der weicht zurück und stößt mit der Ferse an das Tischbein. Mit einem Schrei bricht er zusammen.
Ich zucke vor Schreck zusammen. Ist nicht die Ferse seine einzige verletzliche Stelle? Im trojanischen Krieg traf ihn der Pfeil des Paris in die Ferse – der Held brach zusammen – zack bumm – tot... Wenn es um seine Ferse geht, scheint er empfindlich zu sein.
Ich springe auf und ziehe ihn mit Hilfe von Hildegard von Bingen aufs Sofa. Achill ist sehr blass und hat glasige Augen. Ich lege ihm ein Kühlpack auf die Stirn, während Hildegard Kräuterelixier auf seine Sehne träufelt und singt. Meine Gedanken rasen. Wie soll der trojanische Krieg ausgehen, wenn Achill auf meinem Sofa stirbt?
Ich renne zurück zum Tisch, komme ins Stolpern und drücke versehentlich auf die Tasten der Zeitmaschine.
Caesar betritt den Raum, Brutus an seiner Seite. Letzterer wirft hasserfüllte Blicke um sich – und sieht die zerrupfte Gans auf dem Tisch stehen. Er nimmt das Bratenmesser und richtet es gegen Caesar. Auch Etzel fixiert den römischen Kaiser mit verschlagenem Grinsen. Lagen die Hunnen nicht mit den Römern im Krieg? Die Lage spitzt sich zu. Mir wird ganz mulmig.
Hastig drücke ich die Nottaste – und alle sind verschwunden. Eine fast gespenstische Stille breitet sich aus. Eine Kugel, die sich bis jetzt noch am Baum gehalten hat, fällt herunter und zerbricht.
Ich schalte festliche Musik an, schenke mir Wein nach und belade meinen Teller mit "pulled Gans". Ich werde dieses Jahr allein Weihnachten feiern – und nächstes Jahr fokussierter und intensiver an der Gästeauswahl arbeiten.
Dr. Marion Uhlmann (RC Büdingen) war 1984 Preisträgerin des Literaturwettbewerbs "Schüler schreiben" des hessischen Kultusministeriums und veröffentlichte bisher Artikel in der regionalen Presse. Sie arbeitet als Diabetologin und ist Clubmeisterin im Jahr 2023/24.
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Axel Gallun ist Maler, Bildhauer und Grafiker. Er lebt und arbeitet im oberhessischen Büdingen. Neben Gemälden gehören Großplastiken und Bühnenbilder zu seinem Repertoire. Er ist Träger des Wetterauer Kulturpreis.