Fremde Federn
Perspektiven statt Almosen
Die Flüchtlingskatastrophe im Mittelmeer als Herausforderung für die deutsche Entwicklungspolitik
Vor einigen Wochen war ich in der Bekaa-Ebene im Libanon und habe dort eine Flüchtlingssiedlung besucht. Beschämend, was ich dort gesehen habe, wie syrische Kriegsflüchtlinge dort leben müssen. Ich habe eine Frau in einem Zelt getroffen, neun Kinder, jeden Monat muss sie 100 Dollar zahlen, nur dafür, um zwischen Plastikplanen und Dreck einen Ort für sich und ihre Kinder zum Überleben gefunden zu haben. Oder der Besuch bei einem Pfarrer in Bangui in der Zentralafrikanischen Republik. Er hat einfach den Garten um seine Kirche umfunktioniert und Tausende Menschen aufgenommen, die vor marodierenden mordenden Banden ihr nacktes Leben retten konnten. Elend gibt es aber auch mitten in Europa. Ende Mai stand ich knöcheltief im Matsch einer Roma-Siedlung mitten in Belgrad. Wer mag es all diesen Menschen verdenken, dass sie nach Wegen suchen, ihrem Elend zu entkommen?
URSACHEN DER FLUCHT
Dabei ist das Flüchtlingselend und sind die Fluchtursachen sehr verschieden, und auch die Asylbewerberstatistik bei uns in Deutschland spiegelt uns die ganze Vielschichtigkeit der Flüchtlingsströme. Die meisten Asylbewerber kommen nämlich nicht aus dem syrischen Bürgerkrieg, aus Afghanistan oder aus notleidenden Regionen Afrikas. Auf Platz 1 der Asylbewerberstatistik stehen Menschen aus den Balkanstaaten. Fast alle ihre Asylanträge, über 99 Prozent, werden abgelehnt. Mit zusätzlichem Personal werden ihre Anträge nun schneller bearbeitet. Bei meinen Gesprächen in Kosovo und Serbien habe ich Ende Mai unsere Zusammenarbeit mit beiden Ländern in Sachen Migrationsaufklärung, Stärkung der beruflichen Ausbildung und Schaffung von Arbeitsplätzen in den Fokus genommen, um am Ausgangspunkt der Fluchtentscheidung anzusetzen und dafür zu sorgen, dass die Menschen erst gar nicht zu uns kommen. Gemeinsam mit der serbischen Regierung werden wir uns ganz praktisch der Lösung der Frage annehmen, wie wir vor Ort Perspektiven für Roma schaffen, die derzeit zu Tausenden aus Serbien nach Deutschland kommen – fast alle ohne Aussicht auf Asyl.
Ganz anders ist die Situation der Bürgerkriegsflüchtlinge. Über 10 Millionen Syrer sind auf der Flucht, jeder Zweite in Syrien ist vor der Brutalität des eigenen Regimes geflohen. Hunderttausende aus dem Nordirak aus Angst vor dem Morden von IS. Jordanien, der Libanon, die Türkei tragen die Hauptlast dieser Flüchtlingsströme. Staaten, die wir in Deutschland nach Kräften bei dieser schwierigen Aufgabe unterstützen. Wir investieren in Wasserleitungen in jordanischen Gemeinden, in denen oft jeder Zweite ein Flüchtling ist oder in 80.000 Schulplätze in Libanon. Das Land, das halb so groß ist wie Hessen, hat über eine Million Flüchtlinge aufgenommen, 1,6 Millionen Syrer haben in der Türkei Zuflucht gefunden. Es droht eine Destabilisierung der ganzen Region, Ägypten und Tunesien eingeschlossen.
Und es kommen afrikanische Flüchtlinge über das Mittelmeer nach Europa. Hunderttausende sind dort im Süden Nigerias auf der Flucht vor Boko Haram. Aus Eritrea fliehen junge Menschen in Scharen vor Unterdrückung und Perspektivlosigkeit. In Kenia gibt es in Dadaab das größte Flüchtlingslager der Welt. Das ist schlaglichtartig die Lage in Afrika – einem Kontinent 100 Mal so groß wie Deutschland und bei allen Chancen für viele junge Menschen kein Platz, um das Leben und die Zukunft in ihren Heimatländern zu gestalten.
Schätzungen zufolge lagern noch 800.000 Menschen in der sengenden Sonne Libyens und warten darauf, über das Mittelmeer nach Europa zu kommen. Meist macht sich einer aus einer notleidenden Familie auf den Weg in Richtung Europa in der Hoffnung, dort Arbeit zu finden und Geld nachhause zu überweisen. Menschen, die für eine ganze Schlepperindustrie inzwischen zur Beute geworden sind. In ihrer ganzen Verzweiflung nehmen sie hin, dass die teuer erkaufte Reise auf nicht seetüchtigen Schiffen den Tod bedeuten kann.
Zu lange haben wir die Augen davor verschlossen, dass wir es hier mit einer Herausforderung zu tun haben, die uns nicht nur die nächsten Jahre, sondern die nächsten Jahrzehnte beschäftigen wird. Alle hilflosen Versuche, unsere Zäune hochzuziehen oder die Seenotrettung einzustellen, haben nichts gebracht – im Gegenteil: der Problemdruck steigt von Jahr zu Jahr. Endlich hat die Europäische Union die ganze Dramatik der Situation erkannt. Doch das Engagement der 28 Mitgliedstaaten geht noch längst nicht weit genug. Eine gerechtere Verteilung der Flüchtlinge in Europa kann hier nur ein Anfang sein. Der zentralen Herausforderung, die Fluchtursachen wirksam zu bekämpfen, hat sich bisher kaum einer mit der Vehemenz gestellt, die nötig wäre, um der größten Flüchtlingswelle seit dem Zweiten Weltkrieg mit fast 60 Millionen Menschen auf der Flucht Herr zu werden. Deutschland macht bereits sehr viel. Allein im Umfeld der Syrien-Krise haben wir rund eine Milliarde Euro für die Menschen in Not eingesetzt. Die Hälfte unserer Haushaltsmittel investieren wir in die Entwicklung unserer Partnerländer in Afrika. Doch das reicht bei weitem nicht. Wir brauchen eine konzertierte europäische Flüchtlingspolitik, koordiniert von einem Sonderbeauftragen, der sich alle 28 Mitgliedsstaaten gleichermaßen verpflichtet fühlen.
FLÜCHTLINGSFONDS UND RÜCKKEHRERPROGRAMME
Wir brauchen eine diplomatische, humanitäre und entwicklungspolitische Offensive, denn: Wenn wir die Probleme nicht in den Krisenregionen lösen, kommen die Probleme zu uns.
Für mich ist dies die zentrale Frage, an der sich das Schicksal der Europäischen Union in diesem Jahrzehnt entscheiden wird. Ich habe ein 10 Milliarden- Euro-Programm für die Fluchtländer vorgeschlagen, aus denen derzeit die meisten Menschen über das Mittelmeer zu uns kommen. Dass dies umgesetzt werden kann, hat die Kommission bewiesen, in dem mein Vorschlag für eine erste Sondermilliarde bereits beschlossen wurde. Geld, das wir in Schulen, berufliche Bildung und Mikrokredite zur Gründung von Unternehmen investieren. Nicht mit der Gießkanne, sondern konzertiert, koordiniert und kraftvoll, dort wo die Hauptursachen für Flucht bestehen. Wir brauchen ein Rückkehrer- Programm für die geschätzt 800.000 Menschen, die an der libyschen Küsten auf Überfahrt warten. Warum soll es nicht gelingen, sie zu einer Rückkehr in ihre Heimat zu überreden, wenn wir sie bei einer Ausbildung oder beim Start in eine berufliche Zukunft unterstützen? Aus den vielen Gesprächen, die ich mit Flüchtlingen geführt habe, weiß ich: Kein Mensch flieht freiwillig, die Menschen wollen bei ihren Familien, ihren Freunden bleiben. Aber dazu braucht es eine Ausbildung, einen Job und eine Perspektive.
SCHWERPUNKT EINER NEUEN ENTWICKLUNGSPOLITIK
Eine neue europäische Entwicklungspolitik muss aber noch viel weiter gehen. Wir müssen endlich ein Zeichen setzen, dass wir es ernst damit meinen, die Globalisierung gerecht zu gestalten. Ursache für die meisten Krisen und Kriege ist die ungleiche Verteilung des Wohlstands. Dazu tragen wir in den Industrieländern mit unserem Konsumverhalten bei. Unter unwürdigen Umständen nähen Menschen in Asien unsere Kleider, Kinderarbeit auf Kakao- und Kaffeeplantagen ist Alltag, Ausbeutung in den Coltan-Minen im Kongo für unsere Handys sind an der Tagesordnung. Wir müssen unsere Welthandelssysteme von einem freien hin zu einem fairen Markt entwickeln. Am Anfang jeden Produkts steht ein Mensch, der von seiner Arbeit sich und seine Familie ernähren, die Kinder in die Schule schicken und seine Gesundheitsversorgung bezahlen können muss.
Gewiss, es ist eine Herkulesaufgabe, die globalen Lieferketten fair zu gestalten. Vor dieser Aufgabe dürfen wir aber nicht zurückschrecken, wir müssen sie annehmen und lösen. So wie wir es jetzt mit unserem Textilbündnis in Gang gesetzt haben. Starke Partner aus Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Politik können starke Beiträge für eine neue Entwicklungspolitik setzen. Wir sind Eine Welt – für die jeder von uns Verantwortung trägt. Deutschland stellt sich dieser Verantwortung und geht in Europa und international mit guten Beispielen voran.
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7/2017
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