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Titelthema: Hunger

„Afrika braucht afrikanische Lösungen“

Interview: In Ostafrika bahnt sich eine Hungerkatastrophe verheerenden Ausmaßes an. GERD MÜLLER, Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, über die Pflicht zu helfen, geeignete Maßnahmen und das Potenzial des Kontinents

Gerd Müller01.07.2017

Herr Dr. Müller, Sie schreiben in Ihrem gerade erschienenen Buch „Hunger ist Mord“. Wie meinen Sie das?
Gestern, heute, morgen sterben Tausende von Kindern in den Dürregebieten Ost­afrikas. Ich war gerade vor Ort und es ist beschämend, dass die Weltgemeinschaft die überschaubaren Mittel nicht aufbringt, das Überleben dieser Menschen zu sichern. Weltweit leiden nach wie vor 800 Millionen Menschen an Hunger und Mangelernährung. Dies müsste nicht sein, denn der Planet Erde hat das Potenzial, zehn Milliarden Menschen täglich satt zu machen. Wir haben die Möglichkeiten, das Wissen, die Technik. Und dennoch schauen wir zu, wie täglich Tausende verhungern. Da wir das mit dem notwendigen Einsatz von Wissens- und Tech­nologietransfer relativ schnell ändern könnten, aber nicht tun, machen wir uns schuldig. Mahatma Gandhi bezeichnete deshalb zu Recht Hunger als Mord. Wir Reichen auf der Sonnenseite des Lebens und des Planeten können und dürfen nicht so tun, als wenn uns das unberührt lässt und nichts angeht.

Was also kann und sollte die Welt­gemeinschaft tun, um den Hunger zu beenden?
Afrika braucht afrikanische Lösungen. Und zwar langfristige. Die Eigeninitiative der afrikanischen Staaten ist die tragende Säule für wirtschaftlichen Erfolg. Afrika kann und muss selber mehr leisten. Es gibt bereits Erfolgsstaaten, die mit zwei­stelligen Wachstumsraten vorausgehen. Die „Reformagenda 2063“ der Afrikanischen Union, die unter anderem den Kampf gegen Korruption, die Einhaltung der Menschenrechte, Investitionen in ländliche Regionen, Bildung und Gleichberechtigung beinhaltet, ist Afrikas ­Vorgabe und Weg zur Lösung der Probleme. Unsere Zusammenarbeit muss dort ansetzen, wo afrikanische Staats- und Regierungschefs den Kurs angeben. Der „compact with Africa“ – die neue Partner­schaftsinitiative der Bundesregierung – setzt genau an diesem Punkt an. Afrika­ni­sche Länder, die diese Voraussetzungen erfüllen, sind zukünftig unsere privilegierten Partner einer verstärkten Zusammenarbeit.

Welche Art von Investments meinen Sie?
Bis 2050 wird sich die Bevölkerung in ­Afrika verdoppeln. Diese unglaubliche Dynamik und Entwicklung erfordert ­Investments in die gesamte Breite der ­Infrastruktur. Angefangen bei der Sicherstellung der Ernährung, über den Ausbau der Gesundheitsinfrastruktur, Schulen, Energiewirtschaft, Verkehrskonzepte. Nahezu alles, was wir auf dem europäischen Kontinent in den letzten 80 Jahren entwickelt haben. Eine Beendigung des Hungers ist mit öffentlichen Geldern ­allein nicht zu lösen. Wir brauchen eine Investitions-, Innovations- und Ausbildungsoffensive und eine wesentliche Verstärkung privater Investitionen. Eine weitere entscheidende Entwicklungs­säule ist die Verwirklichung fairer Handelsbeziehungen der Industriestaaten mit den Entwicklungsländern. Fair heißt, vor Ort Wertschöpfungsketten zu ermöglichen. Fair heißt, soziale und ökologische Mindeststandards auf den Kaffee-, Kakao- und Baumwollplantagen umzusetzen. Fair heißt auch, in den Textilhallen Äthio­piens den Tausenden von Frauen einen fairen Lohn zu bezahlen. Sie nähen ­unsere Jeans und Kleider und bekommen dafür einen Hungerlohn. Wir können und müssen das ändern.

Bei der Digitalisierung sind manche afrikanische Staaten weiter als wir hierzulande. Beispiel Mobile Payment: Die Art der Bezahlung via Smartphone ist dort – aus Mangel an Kreditkarten – Gang und Gäbe. Gibt es weitere Entwicklungsfelder, die für die deutsche Wirtschaft spannend sind oder bald werden könnten?
Der afrikanische Kontinent ist der am schnellsten wachsende Markt der Welt für Informations- und Kommunikationstechnologie. In den letzten zehn Jahren haben sich 700 Millionen Menschen ein Handy oder Smartphone besorgt. Zwischenzeitlich ist der Internetempfang in vielen Ländern Afrikas besser als in ländlichen Regionen Deutschlands. Die damit verbundenen Möglichkeiten und Chancen sind grandios. Das Beispiel Mobile Bezahlsysteme zeigt, dass Quantensprünge möglich sind. Wichtig ist, die digitale Begeisterung der jungen Generation zu nutzen und zur Anwendung zu bringen. Ein weiterer wichtiger Schritt ist die Stärkung der ländlichen Entwicklung, die Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktion zur Eigenversorgung Afrikas, angepasste Technologien einzusetzen, in Wissen und Ausbildung zu investieren, um eine wei­tere Stufe der Industrialisierung einzuleiten. Besonders spannend und herausfordernd ist die Lösung der Energiefrage. Afrika kann und muss der Kontinent der Erneuerbaren Energien, der Nutzung der Sonne, Biomasse, Wasser und Wind werden. Deutschland ist Weltmeister im Bereich der Anwendung erneuerbarer Energien. Da ergeben sich großartige Möglichkeiten der Zusammenarbeit.

Woran denken Sie konkret, wenn Sie vom Ausbau der Erneuerbaren Energien in Afrika sprechen?
Die Sonne Afrikas, die Biomasse kann und muss genutzt werden. Die entsprechenden Technologien sind vorhanden. Notwendig sind neue Finanzierungsformen, nachhaltige Anlageprodukte und Risikoabsicherung für private Investments. Die Lösung der Energiefrage ist die Grundfrage zur Entwicklung wirtschaftlichen Fortschritts.

In Afrika wächst die größte Jugend­ge­neration aller Zeiten heran, das Durchschnittsalter auf dem Kontinent liegt aktuell bei 18 Jahren, eine riesige Chan­ce. Was wird konkret vor Ort ­getan, um diesen Jugendlichen eine Perspektive in ihren Heimatländern zu bieten? 
Jedes Jahr kommen 20 Millionen Afrikaner neu auf den Arbeitsmarkt. Das heißt, in den nächsten 20 Jahren braucht Afrika 400 Millionen Arbeitsplätze. Dies ist eine unglaubliche Herausforderung. Arbeit schafft Zukunft und Bleibeperspektive. Der erste und wichtigste Schritt ist die Stärkung der Investitionen in Bildung und berufliche Ausbildung. Wir investieren deshalb in den Aufbau der dualen Ausbildung in vielen afrikanischen Staaten, in Lehrerbildung, Start-ups, die Förderung von Handwerksberufen mit dem Ziel, ­Beschäftigung für die Jugend Afrikas zu schaffen. Schon heute sind acht der am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften afrikanische Länder. Afrika besitzt einen großen Reichtum an Ressourcen, ein überwältigendes Potenzial junger Men­schen. Deutschland, die europäischen Staaten und die Weltgemeinschaft müssen in einer neuen Partnerschaft und ­einer neuen Dimension der Zusammenarbeit die afrikanischen Länder unterstützen.

40 Prozent der Mädchen werden Stu­dien zufolge vor ihrem 18. Lebensjahr verheiratet. Damit sinkt erfahrungs­gemäß ihre Chance auf Bildung. Wie kann diese Tradition beendet werden?
Bildung ist auch der Schlüssel zu solchen Fragen der Familienplanung. Die Erfahrungen in asiatischen, aber auch in afrikanischen Staaten zeigen: Dort, wo der Bildungsgrad steigt, sinkt die Kinderrate. Volle Gleichberechtigung der Frau, Zugang zu Bankdienstleistungen, Landrechten und beruflicher Ausbildung ist tatsächlich von zentraler Bedeutung.

Gerd Müller
Dr. Gerd Müller MdB ist seit 2013 Bundesminister für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung. Der CSU-Politiker kritisierte in der Vergangenheit Bundesregierung und EU offen für ihren Umgang mit der Flüchtlingsproblematik und den Fluchtursachen.
 
gerd-mueller.de

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