"Und Friede auf Erden!"
Die Weihnachtsgeschichte ist in Literatur gegossener Protest gegen Krieg, Gewalt und Unterdrückung und sie ergreift zugleich Partei für deren Überwindung.
Dieser weihnachtliche Ruf der himmlischen Heerscharen in der Nacht von Bethlehem richtete sich an die Hirten, also an eine Gruppe von vermutlich recht ungehobelten und nicht gerade für ihre Frömmigkeit bekannten Kerlen. Kein Wunder, dass sie mit einer Mischung aus Erschrecken und Zweifel reagierten und erstmal loszogen, um dieses eigenartige Szenario vom Kind in der Krippe mit eigenen Augen zu überprüfen.
Man stelle sich eine ähnlich schillernde und unüberhörbare Ankündigung vom Frieden auf Erden in unseren Tagen vor, zum Beispiel als Lautsprecherdurchsage in belebten Fußgängerzonen. Die Reaktion heute wäre derjenigen der Hirten von damals vermutlich recht ähnlich: Einige Humorvolle würden vielleicht über einen saisonalen Gag der technischen Abteilung schmunzeln, aber im eigenen geschäftigen Trott innehalten oder gar diesem merkwürdigen Ruf auch nur einen Hauch von Glauben schenken – das würde wohl kaum jemand fertigbringen. Kein Wunder, denn abgesehen von den eingespielten und kaum Irritationen duldenden Routinen weihnachtlichen Brauchtums erscheint die Diskrepanz zwischen weihnachtlicher Friedensbotschaft und gegenwärtigem Zeitgeschehen fast unerträglich groß. Gerade den gut Informierten, den Nachdenklichen und Empathischen kommen die üblichen Wünsche für ein fröhliches Weihnachtsfest in diesem Jahr schwerer über die Lippen also sonst. Immer wieder werden solche Wünsche für ein frohes Fest reflexhaft überlagert von Gedanken an die Zivilisten und Soldaten in der Ukraine, an jüdische Familien, die um ihre als Geiseln verschleppten Liebsten bangen oder an fliehende Palästinenserfamilien, die innerhalb der engen Landesgrenzen kaum noch einen Flecken finden, auf dem sie vor tödlichen Granaten und Kugeln sicher sein können.
Gibt es eine Idee oder Anregung, wie angesichts solcher tödlichen Krisenherde – von denen einer sogar in Israel, dem Ursprungsland der biblischen Weihnachtsgeschichte stattfindet – bei uns überhaupt die Feier einer „fröhlichen Weihnacht" möglich sein kann? Auf den ersten Blick bieten sich zwei emotional verständliche Szenarien zum Umgang mit dieser Spannung an: Der eine Weg sagt "Nein!" und verzichtet aus Mitgefühl mit den Opfern von Terror und Krieg auf die Inszenierung heimischen Frohsinns. Dieser Weg übergeht auch die weihnachtliche Friedensbotschaft als unpassend und belanglos. Der zweite Weg spaltet die bedrohliche Weltlage gedanklich ab und sperrt sie sozusagen vom häuslichen Frohsinn unter dem Tannenbaum aus. In diesem Setting kann der himmlische Ruf vom Frieden auf Erden durchaus seinen liturgischen Platz haben, allerdings um den Preis, dass er unter der Hand zurechtgestutzt und auf eine lediglich häusliche Reichweite begrenzt wird – so als würden die Engel nicht rufen "Friede auf Erden" sondern "Friede bei dir zu Hause".
Neben diesen beiden etwas schematisch skizzierten Optionen zum Umgang mit der Spannung zwischen heimischer Festfreude und globalen Krisenherden ist noch ein weiterer Weg denkbar. Er findet seinen Ausgangspunkt und tragendes Fundament gerade in der Weihnachtserzählung mit dem Friedensruf der Engel und verweilt zunächst einen Moment bei dieser Geschichte. Zu entdecken ist darin mit den Hirten eine erste Hörerschaft der Engelbotschaft, die Last und Elend des Lebens und der Welt noch viel plastischer vor Augen hatte als die allermeisten Hörer unserer Zeit. Ungerechtigkeit, Gewalt und bitterer Kampf ums Überleben kannten die Hirten nicht nur aus Berichten, sondern die gehörten zu ihren tagtäglichen Erfahrungen. Die in unserer Gegenwart empfundene Spannung zwischen weihnachtlichem Friedensruf und krisenhafter Alltagsrealität ist also keineswegs etwas historisch Neues, sondern war bereits Bestandteil der Weihnachtsgeschichte selbst. Eine dynamische Entwicklung nimmt die Weihnachtsgeschichte in dem Moment, in dem die Hirten sich in Bewegung setzen in Richtung Bethlehem, um der merkwürdigen Ankündigung von der Geburt in der Krippe auf den Grund zu gehen. In diesem Moment verharren sie nicht mehr in resignierter Akzeptanz ihres bitteren Loses, sondern sie lassen sich herauslocken aus ihrem grauen Alltag. Sie beugen sich nicht der Macht des Faktischen und der scheinbaren Unabänderlichkeit des Status Quo sondern lassen sich in Bewegung setzen von der Botschaft der Engel. Vielleicht wirkt der weihnachtliche Friedensruf wie eine Art Trigger und mobilisiert eine tief in den Hirten vergrabene, von lebensfeindlichen Alltagserfahrungen immer wieder verschüttete, aber dennoch glimmende Sehnsucht nach genau solchen Verhältnissen, wie sie da ausgerufen werden: nach Frieden auf Erden und den Menschen ein Wohlgefallen.
Gute Geschichten entfalten ihre orientierende und kulturprägende Kraft, wenn sie Raum geben, sich in ihre handelnden Charaktere hinein zu versetzen. Wer als heutiger Leser das Gedankenexperiment unternimmt, sich in die Hirten von Bethlehem hineinzuversetzen, der und die entdeckt die Weihnachtsgeschichte zum einen als eine Widerspruchs- und Protestgeschichte. Denn sie ist in Literatur gegossener Protest gegen Krieg, Gewalt und Unterdrückung und sie ergreift zugleich Partei für deren Überwindung. Ebenso ist sie eine Ermutigungs- und Hoffnungsgeschichte. Denn sie gibt nicht klein bei, sondern postuliert einen gerade angesichts aktueller Krisenherde nahezu unverschämt entgrenzten Horizont umfassenden Friedens für die gesamte Welt. Wohlgemerkt: Frieden nicht nur für das eigene Haus, für gute Zeiten oder für die Angehörigen eigener Religion oder Weltanschauung, sondern "auf Erden".
Ein solcher umfassender Frieden (hebräisch: Shalom) ist nicht nur menschliches Herzensanliegen, sondern als Verheißung und Ankündigung auch Kern jüdischer und christlicher Überlieferung. Auf dem Weg hin zu diesem großen Ziel der Welt ermutigt der Glaube zu einem Handeln, das dem Frieden dient. Zugleich vertraut er aber auf mehr als nur menschliche Kräfte und Möglichkeiten, diesen Frieden zu etablieren – und hier liest sich die Weihnachtsgeschichte dann als eine Einladungsgeschichte. Sie lädt ein und ermutigt, angesichts des Flickwerks menschlicher Friedensgefährdungen und Friedensbemühungen nicht zu verzagen, sondern mit Gottes guten Kräften zu rechnen, die es gut meinen mit der Welt und die sie ihrem Shalom entgegenführen. In diesem Blickwinkel ist die Weihnachtsgeschichte zu guter Letzt eine Trostgeschichte. Denn sie erzählt von Gott, der sich in die Armut der Habenichtse hineinbegibt und – als Kind in der Krippe – sich in der Gefährdung und Schutzlosigkeit menschlichen Lebens zeigt. Diese Dramaturgie kann man lesen als eine Einladung zu Trost und Ermutigung für all diejenigen, die inmitten unseres Wohlstands unter den Spannungen zwischen ersehntem Frieden und weltweiten Krisenherden leiden. Die Ankunft und Gegenwart Gottes unter gefährdeten Menschen lässt sich ebenso lesen als ein Angebot von Trost und Ermutigung für diejenigen, die direkt betroffen und bedroht sind von Krieg und Gewalt – in der Ukraine, in Israel, Gaza und anderswo.
Friedemann Green (RC Eckernförde) war in mehreren Funktionen als Pastor und Propst in der evangelisch-lutherischen Nordkirche tätig, bevor er für elf Jahre das Amt des Vorstehers der Stiftung "Das Rauhe Haus" in Hamburg bekleidete. Seit Beginn seines Ruhestands im Jahre 2019 lebt er wieder in seiner Geburtsstadt Eckernförde.