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Unter allen Umständen
Daniel Kehlmanns Roman "Lichtspiel" erzählt vom Selbstbetrug des Filmregisseurs W. G. Pabst.
Man kann es nicht fassen. Die Hauptfigur des Romans "Lichtspiel" von Daniel Kehlmann, der Filmregisseur W. G. Pabst, weiß ganz genau, was ihm blüht, wenn er ins Deutschland Hitlers geht, und macht es trotzdem. Es gibt offenbar Menschen, die sehenden Auges in ihr Unglück laufen. Und sie wissen es. Den Werber, der ihm aus dem "Reich" nach Hollywood nachgereist ist und damit lockt, dass er zuhause mit offenen Armen empfangen werden würde und jeden Film machen könnte, schiebt Pabst 1936 zur Seite und sagt ihm: "Solange es Nazi-Propaganda wäre". Aber es ist nicht sein letztes Wort. Als er später – im August 1939 – von Frankreich über die Schweiz nach Österreich reist, was zu dieser Zeit schon Österreich nicht mehr heißen darf, sondern Ostmark, um seine kranke Mutter zu besuchen, wehrt er die Frage des Grenzers nach seiner politischen Gesinnung ab und antwortet: "Ich bin kein politischer Mensch. Ich drehe nur Filme. Spannende Filme. Krimis und Abenteuer." Am Grenzbahnhof fällt sogar dem halbwüchsigen Sohn auf, dass die hinausgehenden Züge alle voll mit Menschen sind und ihrer leer. Darüber soll er besser nicht reden, warnt ihn der Vater: "So was darfst du jetzt nicht mehr sagen. Wenn wir selbst wieder draußen sind, dann schon, aber bis dahin nicht. Hast du verstanden?" – Sie sind bis zum Ende des "Reichs" nicht wieder "draußen". Am 1. September beginnt der Krieg und die Grenzen werden geschlossen. Die Falle hat zugeschnappt und der Filmregisseur W. G. Pabst sitzt mit Frau und Kind fest.
Kehlmann gelingt in "Lichtspiel" ein besonderes Spannungsmoment, das bis zur letzten Seite wirkt: Was Pabst tut, kann man nicht fassen und will es trotzdem "irgendwie" verstehen. Der Roman benutzt einiges aus dem Leben des Filmregisseurs, nicht alles, nur die 30er und 40 Jahre, die Vor- und Nachgeschichte seines Lebens und Arbeitens in Deutschland, als alle Menschen von Verstand das Land verlassen wollten. Pabst gilt bereits als großer Regisseur des Stummfilms, war Entdecker von Greta Garbo, hat mit Asta Nielsen und Paul Wegner gedreht. Sein Lieblingsschauspieler war Werner Krauß. Die Amerikanerin Louise Brooks, mit der er in Deutschland Ende der 20er Jahre zwei erfolgreiche Filme machte, hat er leidenschaftlich geliebt, ist aber bei seiner Familie geblieben.
Pabst schaffte in Hollywood, Frankreich und Deutschland den Anschluss an den Tonfilm. Es war seine Kunst des Schnitts, die seine Filme besonders machte, dass sie bis heute zur deutschen und österreichischen Filmgeschichte zählen. Aus diesem biografischen Material schöpft Kehlmann seinen Stoff und organisiert ihn um die Frage: Wie sehr kann sich ein Mensch an die Umstände seines Lebens anpassen, ohne dass er sich selbst verleugnet? Kann das, was in einer Umgebung der Unmenschlichkeit entsteht, überhaupt Kunst sein? Pabst widerspricht seinen eigenen Zweifeln, wenn er feststellt: "Vielleicht ist es gar nicht so wichtig, was man will. Wichtig ist, Kunst zu machen unter den Umständen, die man vorfindet." In der Weimarer Zeit galt er mit seinen sozialkritischen Filmen als Linker, jetzt empfängt er Macht und Geld aus Goebbels Propagandaministerium, wo die Drehbücher abgesegnet werden und die Besetzungslisten. Pabst sieht es und will es nicht sehen.
Daniel Kehlmann ist Sohn eines in seiner Zeit bekannten und erfolgreichen Film- und Fernsehregisseurs, also mit dem Medium Film bestens vertraut. Als Künstler kennt er das obsessive Moment der Kreativität. Neben realistische Handlungsszenen stellt er andere, in denen die Arbeit im Filmstudio, die Wiederholung der Szenen, die Fixierung auf den Kameraausschnitt und das Verschwinden der Umgebung eine eigene Magie schaffen. Kehlmann nimmt sie auf. Er taucht darin ein. Lässt die Sprache aus dem rechten Winkel fallen, überblendet Szenen mit anderen und nutzt die Unschärfe für irreale Erzählräume. Dann ist es, als würde der Autor mit dem Roman selbst einen Film drehen.
Sein Roman "Lichtspiel" ist ein Künstlerroman und mit dem Blick auf die Zeit der braunen Diktatur auch ein Gesellschaftsroman. Das zeigt sich, wenn der Roman die Studios verlässt und die Geschichte von Jakob weitererzählt. Der Vater liefert mit der Rückkehr nach Deutschland nicht nur sich an die Macht aus, sondern auch seinen Sohn. Bei ihm wirken Propaganda und Erziehung, ihn verführen Uniform der Hitlerjugend, ihn verlockt das Soldatsein. Seinen Eltern schreibt er aus dem Internat, wie sehr er sich freue, dass es nun endlich so weit ist: Man habe ihn einberufen. Nicht nur der Verrat an sich selbst und seiner Kunst, auch das Schicksal seines Sohnes geht am Ende auf das Schuldkonto des Vaters.
Kehlmanns Roman bewegt sich in der Biografie von W. G. Pabst, aber ist keine Biografie. Das zeigt sich an der sorgfältigen Zeichnung vieler Figuren um Papst herum. Bei jeder Figur, bei jedem Detail erfüllt Kehlmann seinen eigenen Anspruch, gegen das Naheliegendste, das Abgenützte zu schreiben. Dazu zählt auch, dass er das Thema der Anpassung an eine Diktatur nicht etwa ausweitet auf spätere Entwicklungen deutscher Geschichte oder gar der Gegenwart. Stoff und Thema sind in "Lichtspiel" stabil verankert in der Erzählzeit. Auf vordergründige Aktualität ist Kehlmann nicht aus. Ein Zeitvergleich bleibt Sache des Lesers.
Wie der Romanautor das Biografische verlässt und Gelegenheiten zur Fiktion nutzt, zeigt das "Molander"-Kapitel. "Molander" war der letzte Film, den Pabst im Dritten Reich gemacht hat. Die Dreharbeiten, die Ende 1944 in den Prager Barrandov-Filmstudios stattgefunden haben, sind wenig dokumentiert. Der fertige Film gilt bis heute als verschollen. Als Roman-Autor setzt Kehlmann in die Lücken seine Fantasie. Erzählt wird die Geschichte eines Geigers und dazu braucht es einen Konzertsaal mit mehreren hundert Besuchern. Die für die Komparserie geplanten Soldaten werden am Ende des Kriegs nicht mehr freigestellt. So kommt es dazu, dass KZ-Häftlinge in eilig enger genähten Anzügen und Fräcken das Publikum darstellen müssen. Dass Pabst für Dreharbeiten KZ-Häftlinge eingesetzt hat, ist keinesfalls verbürgt. Nachgesagt wird es Leni Riefenstahl. Aber der Film "Molander" und sein Anspruch, Kunst zu sein, ist verwirkt. Nichts ist "unter allen Umständen" gut. Dass der Film im Roman verloren geht, wirkt wie ein Akt höherer Gerechtigkeit. Literatur kann das.
Um die Wirkung des neuen Kehlmann-Romans mit anderen zu vergleichen, könnte man an Jurek Beckers "Jakob der Lügner" oder Bernhard Schlinks "Der Vorleser" denken. Romane, die mit ihrem klaren Blick auf den Faschismus in Deutschland Leuchttürme in der deutschen Literatur geworden sind. Daniel Kehlmanns Roman "Lichtspiel" darf dazu gezählt werden.
Daniel Kehlmann: Lichtspiel
Rowohlt-Verlag. 475 Seiten, 26 Euro
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