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Corona

Covid-19 im Spannungsfeld zwischen Gesundheit und Ökonomie

Corona - Covid-19 im Spannungsfeld zwischen Gesundheit und Ökonomie
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Betrachtungen zu dem Interview mit Stefan Keitel - Rotary Entscheider: "Ich halte den Lockdown für grotesk" (www.rotary.de/a16249)

15.07.2020

Die Covid-19-Pandemie hat die allermeisten von uns mehr oder weniger unvorbereitet vor erhebliche Herausforderungen gestellt: soziale, ökonomische und medizinische.

Je nach Sichtweise und Fachgebiet werden die Schwerpunkte sehr unterschiedlich gesetzt und insbesondere die Abwägung zwischen medizinischen und ökonomischen Interessen zeigt leider immer häufiger sich ausschließende anstelle sich ergänzender Argumente. Dabei ist dies nicht zwangsläufig.

Natürlich standen zu Beginn der Pandemie die medizinischen Probleme ganz im Vordergrund. Die Bilder, zunächst aus Wuhan und dann aus Italien, Spanien und Frankreich, machten allen klar, dass hier etwas so in unserer Generation nicht Bekanntes über uns hereinbricht, auf das wir mehr oder minder schlecht vorbereitet waren. Unter diesen Voraussetzungen haben wir in Deutschland weder fehler- noch alternativlos, aber dennoch sehr gut (re-)agiert. Ein Fehler lag nicht in den Handlungen selbst, sondern vielmehr in deren Kommunikation.

Wir haben vom Schutz unseres Gesundheitssystems vor Überlastung gesprochen. Das war aber nur der Weg zu einem wichtigen anderen Ziel, nämlich, jedem unserer Bürger, unabhängig von sozialem Status oder Alter, die gleiche bestmögliche Behandlung gewähren zu können. Die Würde eines Menschen ist nicht mehr gewahrt, wenn er in hilfloser Angst allein gelassen wird. Es ging also von Anfang an um den Menschen und nicht um ein System.

Wir haben Masken als wenig hilfreich bezeichnet, nicht, weil erwiesen, sondern, weil eine logistische Notwendigkeit. Es waren einfach nicht genug verfügbar. Hätten wir das so kommuniziert, wäre es sicher leichter gewesen, sie mit breiter Verfügbarkeit nun als einen wichtigen zusätzlichen Schutzfaktor einzuführen, der sie nach heutigen Erkenntnissen sicher sind.

Die wichtigste und richtigste Maßnahme war zweifellos das Social Distancing. Aber von wem sollten wir uns "sozial" distanzieren, gemeint war also doch eher Physical Distancing, die Wahrung eines körperlichen, nicht aber eines sozialen, gesellschaftlichen Abstands. Im Gegenteil muss eine Gesellschaft in einer solchen essentiellen Krise näher zusammenrücken, wofür auch viele rotarische Projekte stehen, und die physische Distanz wurde dabei sogar zu einem wichtigen Zeichen gegenseitiger Verantwortung.

Die Krankheit ist komplex und dementsprechend lernen wir auch heute noch dazu und – es gibt nicht die eine Lösung, wie wir sie gern hätten. Dementsprechend gab es viele wechselnde und auch sich widersprechende Meinungen und sowohl die Medien als auch wir Wissenschaftler hätten gut daran getan, nicht jede Gelegenheit zu neuen Stellungnahmen und Informationen zu nutzen. Verwirrung führt schnell zu Misstrauen. Die Masken sind ein Beispiel!

Wissenschaft ist auch trial and error, also, das was heute gilt, ist morgen durch eine neue Erkenntnis überholt. Die R-Zahl zum Beispiel war und ist ein wichtiger Orientierungswert zur Einschätzung der Infektionsausbreitung, auch in der Phase von Lockdown und Lockerung. Es liegt in der Natur der Erkrankung und der anfänglichen epidemiologischen Erfassungsmöglichkeiten, dass die ersten Berechnungen retrospektiv sein mussten und erstmals im Epidemiologischen Bulletin 17/2020 des RKI zum "Nowcasting", auf das die Berechnungen aufsetzen, am 9. April veröffentlicht wurden, darin dann auch die retrospektive Entwicklung der R-Zahl im Verlauf des Monats März. Somit konnten diese am Tag der Lockdown-Entscheidung, noch nicht belastbar zu Grunde liegen, wie in dem Interview und auch in vielen Social Media behauptet oder gemutmaßt wurde. Dass wir heute weitere und auch andere Werte berücksichtigen, ist neueren Erkenntnissen geschuldet, so wie wir auch einige Behandlungsoptionen verwerfen mussten, während andere sich als viel versprechend zeigen.

Manche kritischen Argumente erscheinen mir schwer verständlich. Wer würde das Nichtrauchen in Frage stellen, wo er doch gar nicht an Lungenkrebs erkrankt ist. Wir stellen den Lockdown in Frage, weil wir doch nur niedrige Fallzahlen haben? Dementsprechend war der Lockdown nicht grotesk, wenngleich man über die ein oder andere Entscheidung diskutieren mag.

Wir haben sicher nicht alles richtig gemacht, aber vieles, und wir haben im Übrigen auch kein perfektes, aber dennoch ein ziemlich gutes Gesundheitssystem. Bei allem Respekt vor der Ökonomie ist die Gesundheit einschließlich eines würdevollen Lebens und Sterbens immer noch ein hohes Gut in unserer Gesellschaft.

Ich möchte mich nicht als ökonomischer Experte darstellen, der ich auch sicher nicht bin, wage aber dennoch die These, dass Verhältnisse, wie wir sie in anderen Ländern sehen mussten, auch einen noch schwereren wirtschaftlichen Schaden nach sich gezogen hätten. Dass wir lockern mussten und weiter müssen, ist nur logisch und auch sicher möglich, wenn man sich mit Vernunft untereinander abstimmt. Von 0 auf 100 kann nicht funktionieren und - es wird nicht umsonst gehen, also, wenn wir mehr zulassen, heißt das nicht, alles wieder zuzulassen und heißt das andererseits, dass Öffnen auf der einen Seite weiterhin Sicherheitsmaßnahmen wie das Tragen von Schutzmasken auf der anderen Seite erforderlich machen kann. Kommunikation: Das eine ist hilfreich und notwendig, damit das andere möglich wird. 

Am Ende: Only bad news are good news, dieser Spruch mag für viele Medien und auch viele Experten aus den unterschiedlichsten Bereichen immer noch gelten, aber – Menschen brauchen auch Perspektiven. Und – eine Reihe ökonomischer Probleme scheinen mir auch nur durch Corona offensichtlich geworden. Wir wussten, dass einige Blasen seit langem zu platzen drohten oder gewisse Entwicklungen so nicht weitergehen konnten, und es ist zu hoffen, dass wir einige Lehren aus und nach der Krise ziehen anstatt wieder eines "weiter so wie bisher".  Wenn wir aus dieser Krise und ihren Folgen lernen, werden wir und wird unser Gemeinwohl gestärkt daraus hervorgehen, wenn nicht, werden wir weitere Schäden in Kauf nehmen.

Rainer Moosdorf
PDG 1820