Debattieren & Verstehen
Das Diktat der Notenbanken
Die Lehren aus der Null-Zins-Politik:Wir brauchen Technokraten, keinemythenumrankten Gurus
Die Notenbanken regieren die Weltwirtschaft. Noch nie waren sie so mächtig. Noch nie aber waren sie auch so ohnmächtig den Geistern ausgeliefert, die sie selber gerufen haben. In höchster Not haben die Notenbanken in und nach der Finanzmarktkrise der unsichtbaren Hand der Kapitalmärkte das Steuer entrissen. Seitdem steuern sie weitgehend alleine die Weltwirtschaft. Wohin die Reise führt, ist offen. Denn die Zentralbanken haben keinen Kompass. Den alten Richtungsweiser der Geldpolitik – dass sich monetäre und reale Größen, also Geldmenge und Gütermenge, im Einklang bewegen sollen – haben sie über Bord geworfen. Ein neuer existiert (noch) nicht.
Mit dem Wegfall der Golddeckungspflicht, dem Übergang zu flexiblen Wechselkursen und als Folge der Finanzmarktkrise weitete sich der Entscheidungsraum der Zentralbanken. Sie wurden nun auch mit unterschiedlicher Priorität zuständig für die Wechselkurspolitik, die Finanz-
(markt)stabilität und die Bankenaufsicht. Je länger die Rezession dauerte, je mehr Deflationssorgen zunahmen und je langsamer sich die Weltwirtschaft erholte, umso mehr wurden den Zentralbanken auch makroökonomische Stimulierungsaufgaben übertragen, um die gesamtwirtschaftliche Nachfrage anzukurbeln und Arbeitslosigkeit abzubauen.
Die vielen Aufgaben und die ausgeweitete Machtfülle führten dazu, dass die Zentralbanken die Rolle als Unparteiischer preisgaben und selber als Spieler auf dem politischen Parkett auftraten. Um den zusätzlichen Erwartungen gerecht zu werden, mussten sie zu unüblichen und hoch riskanten Maßnahmen greifen. Null- oder Negativzinsen, quantitative Lockerung, Billionen Euro schwere Kaufprogramme für Anleihen und teure Wechselkursinterventionen wurden zum geldpolitischen Alltag. Am Ende war die Europäische Zentralbank (EZB) Richter über die Frage Grexit oder nicht. Und sie ließ Gnade vor Recht ergehen.
Solche Renditen sind einmalig
Das Ergebnis der erweiterten Zentralbankaktivitäten ist eine makroökonomische Katastrophe. „Nie zuvor sind die Zinssätze für so lange Zeit so niedrig gewesen. An ihrem Tiefpunkt rentierten deutsche, französische und Schweizer Staatsanleihen bis zu einer Laufzeit von 5, 9 beziehungsweise 15 Jahren negativ. Solche Renditen hat es noch nie gegeben. Die Leitzinsen sind sogar noch niedriger als auf dem Höhepunkt der Großen Finanzkrise, sowohl nominal als auch real. Überdies sind die realen Leitzinsen jetzt schon länger negativ als seinerzeit während der Großen Inflation der 1970er Jahre. Der Geldpolitik ist mit der Aufgabe, die Wirtschaft anzukurbeln, viel zu viel aufgebürdet worden. Der Grund der gegenwärtigen Malaise dürfte zu einem erheblichen Teil in dem Unvermögen liegen, in einer globalisierten Wirtschaft das Zusammenspiel des Finanzgeschehens mit der Produktion und der Inflationsentwicklung in den Griff zu bekommen. Finanzielle Ungleichgewichte haben das Wirtschaftsgefüge nachhaltig geschädigt, da sie die Produktivität geschwächt und zu einer Fehlallokation realwirtschaftlicher Ressourcen in allen Sektoren und im Zeitverlauf geführt haben. Die über derart lange Zeit äußerst niedrigen Zinssätze sind vermutlich keine ‚Gleichgewichtszinsen‘, die ein nachhaltiges und ausgewogenes Weltwirtschaftswachstum unterstützen würden. Sie wären demnach nicht einfach Ausdruck der gegenwärtigen Schwäche, sondern hätten diese teilweise verstärkt, indem sie kostspielige finanzielle Auf- und Abschwünge begünstigt hätten. Das Ergebnis: zu hohe Verschuldung, zu geringes Wachstum und übermäßig niedrige Zinssätze. Niedrige Zinssätze erzeugen noch niedrigere Zinssätze.“ Diese Aussagen sind nicht etwa das vernichtende Urteil aggressiver Notenbankkritiker. Es sind Zitate aus der Einleitung zum ersten Kapitel des aktuellen Jahresberichts der Bank für internationalen Zahlungsausgleich (BIZ) – also der Zentralbank der Zentralbanken.
Mit der Analyse der BIZ ist alles gesagt. Der Geldpolitik (und damit den Zentralbanken) ist zu lange zu viel aufgebürdet worden. Notenbanken sind nicht in der Lage, nachhaltig weder Wachstum noch Beschäftigung zu stimulieren. Nicht einmal die Wechselkurse können sie wesentlich managen. Die Geldpolitik der Notenbanken hat sich komplett von der Realwirtschaft gelöst. Die Vervielfachung der Zentralbank-Geldmengen hat nichts mehr mit den Veränderungen der realen Wirtschaft zu tun. Langfristige Verhaltensregeln des Monetarismus und der Geldwirtschaft sind außer Kraft gesetzt. Die Geldpolitik erfolgt auf kurze Sicht.
Null- oder gar Negativzinsen der Notenbanken zerstören die Knappheitssignale der realen Güter-, Arbeits- und Investitionsmärkte. Vermögen fließt in Sachwerte. Sparer müssen ihre Anlagen umschichten, damit sie nicht real enteignet werden. Die Niedrigzinspolitik der Notenbanken macht erstens die (Kredit-)Finanzierung von Aktienkäufen billig. Sie führt zweitens dazu, dass die reale Verzinsung von Spareinlagen und „sicheren“ Staatsanleihen negativ oder bestenfalls geringfügig positiv wird. Das macht Aktien vergleichsweise attraktiver. Tiefe Zinsen bedeuten drittens, dass sich Firmen günstig verschulden können. Dadurch rechnen sich nahezu sämtliche Investitionen, die Unternehmen helfen, ihre Produktivität und damit Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Alle Gründe sorgen dafür, dass die Risikobereitschaft von Investoren zunimmt, Vermögen in Aktien umzuschichten. Ob und wann sich daraus Preisblasen ergeben, ist eine Frage der Zeit. Auf jeden Fall werden Vermögensillusionen gebildet.
Ebenso werden Angebot von und Nachfrage nach Arbeit und damit Lohnverhältnisse verzerrt und dadurch verfälscht. So wird etwa bei tiefen Hypothekarzinsen viel gebaut. Damit steigt die Nachfrage nach Bauarbeitern, was deren Löhne hoch treibt. Als Folge davon wird es für viele – gerade auch jüngere - Arbeitskräfte attraktiv, aus anderen Branchen in die Bauwirtschaft zu wechseln. Die Entwicklung in Spanien in den letzten zwei Jahrzehnten veranschaulicht, mit welchem Katzenjammer das enden kann. Die hohe Jungendarbeitslosigkeit von heute ist das Erbe des spanischen Baubooms der 2000er Jahre und des Platzens danach, Tausende Bauarbeiter stürzten in die Arbeitslosigkeit.
Bekanntlich sollten Aktienkurse die Erwartungen in die künftige Geschäftsentwicklung der Firmen abbilden. Wenn aber Vermögen, das bis dahin in Staatsanleihen, festverzinslichen Wertpapieren oder als Spareinlagen gehalten wurde, mangels Profitabilität in Aktien oder Sachwerte umgeschichtet wird, steigen die Börsenkurse oder Immobilienpreise als Folge der zusätzlichen Nachfrage und nicht wegen neuer betriebswirtschaftlicher Erfolge.
Wenn Börsenkurse oder Immobilienpreise deutlich rascher steigen als die reale Wachstumsrate von Produktivität, Effizienz oder Leistungsfähigkeit von Unternehmen, müssen zwangsläufig die Warnlichter angehen. Für zu viele Insider an den Finanzmärkten erhöhen sich dann die Anreize, die Ungleichgewichte zwischen realer und monetärer Entwicklung auszunutzen, Volatilität zu erzeugen und auf Kosten von Kleinanlegern oder Laien Kasse zu machen. In der Situation aber wird die Absicht, sich durch den Kauf von Aktien und anderen Sachwerten gegen Unsicherheit abzusichern, zum Bumerang. Er trifft diejenigen, die durch ihre Nachfrage erst eine Blase aufgepumpt haben.
Mehr Bescheidenheit angesagt
Die wirtschaftspolitisch klügste Reaktion kann nur darin bestehen, die Aufgaben der Notenbanken stark zu reduzieren. Insbesondere sind sie davon zu befreien, die Gesamtnachfrage steuern zu sollen. Also: „weg von der illusorischen Feinsteuerung der Gesamtwirtschaft auf kurze Sicht hin zu mittelfristigen Strategien, weg von der starken Fokussierung auf kurzfristige Produktion und Inflation hin zu einer systematischeren Berücksichtigung der langsamer verlaufenden Finanzzyklen“, um noch einmal den BIZ-Bericht zu zitieren.
Mehr Bescheidenheit ist angesagt – auch für die Zentralbanken. Geldpolitik hat eine dienende Funktion. Sie ist kein Selbstzweck. Geld soll Maßstab sein, um realwirtschaftliche Transaktionen bewerten und abwickeln und Werte über längere Zeit stabil aufbewahren zu können. Nichts mehr soll Geldpolitik sein. Schon gar nicht darf sie sich an kurzfristigen Wechselkurszielen oder Wachstumsstimulierung orientieren. Genauso wie es ein Irrglaube ist, dass offene Volkswirtschaften von nationalen Regierungen global gesteuert werden können, ist es nicht möglich, durch Geldpolitik eine nachhaltige Wirtschaftspolitik jenseits der Geldwertstabilität betreiben zu können.
Wenn sich Notenbanker anmaßen, mehr zu tun, als für die Stabilität der Preise und des Finanzsystems zu sorgen, verlassen sie den Pfad des Machbaren. Sie sollen ausführende Technokraten sein, nicht aggressive Falken oder moderate Tauben und schon gar nicht mythenumrankte Gurus, deren Lippenbewegungen die Kapitalmärkte in Panik versetzen. In einer komplexen, global hoch vernetzten, dynamisch anpassungsfähigen Weltwirtschaft muss jeder Versuch scheitern, durch eine geldpolitische Wachstumsstrategie das Verhalten von Menschen und Firmen präzise steuern zu wollen.
Das Feld der Wirtschaftspolitik darf nicht auf Dauer dem Diktat der Notenbanken überlassen bleiben. Es ist an der Zeit, das Postulat der politischen Unabhängigkeit der Notenbanken zu hinterfragen. Es geht um zu viel, als das geldpolitische Handeln Entscheidungsmechanismen zu überlassen, die zur heutigen Krise wesentlich beigetragen haben. Eigenmächtige Alleingänge der Notenbanken darf es nicht mehr geben.
Die Zukunft des Geldwesens muss durch wasserdichte Verfassungsregeln vor der Hektik der Kurzfristigkeit geschützt werden – genau wie es Absicht und Versprechen der Satzung der Europäischen Zentralbank ist. Geldpolitik soll sich auf die makroökonomische „Neutralität des Geldes“ zurückbesinnen. So, dass der bewährte Grundsatz des Monetarismus befolgt wird: Geldmenge und Gütermenge müssen sich synchron verändern. Dann müsste nur noch festgelegt werden, wie Geldmenge definiert und gemessen werden soll und welche Rolle Veränderungen der Umlaufgeschwindigkeit des Geldes zukommt. Da Einigkeit herbei zu führen, ist schon schwierig genug. Alles Übrige könnten nicht nur, sondern müssten die Notenbanker anderen überlassen.