Entscheider
"Wir sollten den Kohleausstieg verschieben"
Prof. Volker Wieland zählt zu den wichtigsten Ökonomen des Landes. Der Energiekrise will er mit Pragmatismus begegnen – und Kohle- und Kernkraftwerke länger am Netz lassen.
Herr Professor Wieland, die Inflation ist auf über sieben Prozent gestiegen. Ist endlich ein Ende der Teuerung in Sicht?
Nein. Eine gewisse Teuerung haben wir ja immer, die Notenbank rechnet meist mit zwei Prozent. Aber eine solch hohe Inflation wie gegenwärtig hatten wir schon lange nicht mehr. Da muss man sich fragen: Wo kommt das her und wie geht es weiter? Ich denke, dass die Preise hoch bleiben werden, aber dass die Inflationsrate in den nächsten Jahren zurückgeht. Insbesondere die Energiepreise sind extrem stark angestiegen. Wenn sie auf diesem hohen Niveau bleiben, aber nicht weiter ansteigen, dann tragen sie nächstes Jahr nicht mehr zur Inflationsrate bei, denn da wird ja immer die Erhöhung gemessen. Aber die Preise für andere Güter und Dienstleistungen steigen ebenfalls, und deshalb werden wir vermutlich längere Zeit über dem Zwei-Prozent-Ziel bleiben.
Gehen wir einmal davon aus, dass uns der Krieg gegen die Ukraine noch länger beschäftigen wird. Welche Folgen hätte das für die Inflationsrate?
Einige der Folgen sehen wir schon: zusätzlicher Druck auf die Energiepreise, zusätzliche Engpässe im Zulieferbereich, stark steigende Lebensmittelpreise. Ein Gas-Lieferstopp, wie Russland ihn nun gegen Polen und Bulgarien verhängt hat, kann auch auf Deutschland zukommen, denn auch wir wollen unser Gas nicht, wie zuletzt von Russland gefordert, direkt in Rubel bezahlen. Das würde dazu beitragen, die Sanktionen für Geschäfte mit der Notenbank zu umgehen. Wenn Russland seine Gaslieferungen an Deutschland einstellt, werden die Energiepreise weiter steigen.
Genau darüber debattieren die Ökonomen. Wie schätzen Sie die Folgen eines Boykotts russischer Energie ein?
Es geht nicht nur um einen Boykott unsererseits, sondern ebenso darum, dass Putin Deutschland den Gashahn zudrehen könnte. Die meisten Ökonomen rechnen dann mit einer Rezession. Schätzwerte liegen etwa bei einem Effekt von minus einem bis minus sechs Prozent der Wirtschaftsleistung. Es könnte also eine so schwere Rezession wie in der Coronakrise oder der Finanzkrise werden. Das ist nichts, was man verniedlichen sollte, aber es wäre auch nicht das Ende der Wirtschaft und nicht das Ende der Industrie.
Zur Person:
Volker Wieland (RC Frankfurt/M.-Friedensbrücke)
leitet seit 2012 das Institute for Monetary and Financial Stability an der Goethe Universität in Frankfurt/Main. Von März 2013 bis April 2022 war er Mitglied im Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung.
Aber diese Rezession würde uns zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt treffen.
Richtig. Unsere Wirtschaft ist von der Pandemie im Frühjahr 2020 sehr schwer getroffen worden. Sie hat sich dann wieder schnell erholt, aber jeden Winter ist das Wirtschaftswachstum in Deutschland noch mal ausgebremst worden. Darum lag die Wirtschaftsleistung zu Beginn dieses Jahres noch immer gut ein Prozent unter dem Wert im Jahr 2019. Aufgrund dieses niedrigen Ausgangsniveaus und der weiterhin anstehenden Erholung bei kontaktintensiven Dienstleistungen, ist für 2022 bisher noch mit einer positiven Wachstumsrate zu rechnen – trotz Krieg und hohen Energiepreisen. So hat der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung ein durchschnittliches Wachstum von 1,8 Prozent prognostiziert. Aber durch ein Gasembargo würden wir wohl einen Rückgang der Wirtschaftsleistung bekommen – und das zu einem Zeitpunkt, an dem wir noch immer unter Vorkrisenniveau sind. Zu der Frage, ob Deutschland sich jetzt sofort an einem Gasembargo beteiligen sollte, gibt es sehr unterschiedliche Meinungen unter Ökonomen. Ich befürchte schon, dass dies ebenso wie ein Lieferstopp seitens Russlands eine schwere Rezession auslösen würde.
Wer würde stärker darunter leiden, Russland oder Europa?
Russland ist bereits jetzt sehr viel stärker als Europa von den Wirtschaftssanktionen betroffen. Eine Rezession und hohe Inflation sind dort vorprogrammiert. Die Einnahmen aus den Energieexporten sind aber ein wichtiger Bestandteil des Staatshaushalts. Man könnte also Putin mit einem Embargo durchaus schaden. Selbst wenn wir komplett auf Kohle, Erdöl und Erdgas aus Russland verzichten, wird Russland zumindest einen Teil davon weiter an andere Länder verkaufen können, zwar zu einem Abschlag, aber immer noch einem deutlich höheren Preis als in den vergangenen Jahren. Das federt den Einnahmeverlust zumindest teilweise ab. So sieht man bereits jetzt, dass die Einnahmen aus russischen Erdölexporten deutlich gestiegen sind, obwohl das Volumen zurückgegangen ist.
Innerhalb Europas sind die Länder sehr unterschiedlich betroffen. Deutschland trifft es besonders stark, weil wir uns so abhängig gemacht haben von russischen Energieimporten. Das war ein Fehler. Auch der Sachverständigenrat hat dazu aufgerufen, diese Abhängigkeit bei Kohle, Öl und Erdgas umgehend zu beenden. In Frankreich etwa sieht das schon ganz anders aus. Dort setzt man sehr stark auf Nuklearenergie und kann Brennstäbe auch von woanders importieren. In Frankreich spielt also Erdgas längst nicht so eine große Rolle in der Energieversorgung wie bei uns. Wir setzen sehr stark auf erneuerbare Energien, aber weil häufig die Sonne nicht scheint und auch der Wind nicht immer weht, sind wir da großen Schwankungen ausgesetzt. Auch wenn Erdgas viel wichtiger ist für die Industrie und fürs Heizen – insbesondere um diese Schwankungen auszugleichen, brauchen wir es auch zur Stromproduktion.
Es gibt ja ein paar Ausweichmöglichkeiten.
Wir haben sehr viel Braunkohle in Deutschland und können Steinkohle aus anderen Quellen importieren. Wir sollten also den geplanten Kohleausstieg verschieben und in den nächsten Jahren verstärkt Kohle verstromen, um uns von Russland schnell unabhängig zu machen. Der Engpass betrifft nicht nur den kommenden Winter, sondern voraussichtlich mehrere Jahre. Deshalb ist es eine schlechte Idee, die letzten drei Kernkraftwerke, die derzeit noch im Betrieb sind, zum Ende des Jahres abzuschalten, mitten im Winter. Stattdessen sollte die Laufzeit um einige Jahre verlängert werden. Ebenso können die Kernkraftwerke, die im vergangenen Dezember abgeschaltet wurden, wieder aktiviert werden. Es gilt, Gas jetzt möglichst einzusparen und stattdessen für den Winter zu speichern.
Derzeit haben viele Industrie- und Energieversorgungsunternehmen aufgrund langlaufender Lieferverträge oder finanzieller Absicherungen Erdgas zu einem deutlich geringeren Preis als dem aktuell extrem hohen Marktpreis am Spotmarkt eingekauft. Sobald sich das ändert, weil die Verträge auslaufen oder aufgrund eines Boykotts oder Lieferstopps bei Importen aus Russland, lohnt sich die Produktion von Gütern, die viel Erdgas erfordert, hierzulande nicht mehr. Da hat etwa die USA klare Wettbewerbsvorteile, weil sie ihr Erdgas selbst produziert und es dort nur einen Bruchteil kostet.
Eins noch: Wir könnten tatsächlich auch in Deutschland mehr Erdgas fördern, aber derzeit sind kommerzielle unkonventionelle Fracking-Vorhaben bei uns verboten. Derzeit wird hauptsächlich darauf gesetzt, Flüssiggas aus dem Ausland zu importieren, etwa aus Katar. Unser Wirtschaftsminister hat sich dort tief vor dem Emir verbeugt. Ob es viel bringt, ist aber fraglich, weil das Flüssiggas bereits über langfristige Verträge mit Asien verkauft ist. Wir müssen also hoffen, dass wir mehr Fracking-Gas aus den USA bekommen. Dann sollten wir uns aber so ehrlich machen, es selbst zu fördern. Derzeit decken wir sechs Prozent unseres Bedarfs selbst. Dies könnte deutlich erhöht werden, wenn Fracking genutzt wird. Eine Ressourcenabschätzung der Bundesanstalt für Geowissenschaften hat bereits 2016 ein großes Potenzial an technisch förderbarem Schiefergas ergeben. Dort steht, dass im Mittel mit 800 Milliarden Kubikmeter förderbarem Schiefergas in Deutschland zu rechnen ist. 2020 importierte Deutschland 56 Milliarden Kubikmeter an Erdgas aus Russland. Die eigene Förderung kann also einen Unterschied machen.
Mit diesen Aussagen machen Sie sich nicht nur Freunde.
Natürlich müssen wir die Umwelt schützen und den Klimawandel bekämpfen. Die wichtigste Maßnahme zur Begrenzung des Ausstoßes an Treibhausgasen, ist ein hoher Preis auf solche Emissionen. Aber auch die aktuell sehr hohen Preise für fossile Brennstoffe helfen, denn sie bilden einen besonderen Anreiz, Energie einzusparen. Und sie liefern gute Argumente, in Solar- und Windenergie zu investieren. Man muss aber realistisch sein: Nur mit Erneuerbaren allein, kommen wir nicht durch diese Knappheiten. Außerdem wird in Europa nicht automatisch mehr an Treibhausgasen emittiert, wenn wir den Kohleausstieg verschieben. Wer das behauptet, hat ein falsches Verständnis der Mechanismen.
Der Energiesektor und die Industrie müssen Zertifikate für Emissionen kaufen und das verfügbare Volumen an Zertifikaten ist gedeckelt. Dies führt dazu, dass Treibhausgasemissionen an anderer Stelle in Europa eingespart werden, wo dies kostengünstig möglich ist.
Es gibt verschiedene Möglichkeiten, einem möglichen Gasmangel zu begegnen. Man könnte die Nachfrage begrenzen, das Angebot erhöhen und auch ein staatlicher Gaspreisdeckel ist im Gespräch. Sie halten es für am sinnvollsten, das Angebot zu erhöhen?
Es geht nicht darum, das Angebot etwa im Vergleich zu vor dem Krieg zu erhöhen. Es gilt stattdessen, einen möglichst hohen Anteil der Importe aus Russland – 50 Prozent der Gesamtimporte – aus anderen Quellen zu ersetzen. Und da setze ich mich vehement für Pragmatismus ein. Natürlich wollen wir klimaneutral werden, natürlich wollen wir raus aus der Kernenergie, aber wir müssen uns doch jetzt überlegen, wie wir wirtschaftlich verträglich und gesellschaftlich verträglich durch die nächsten Winter kommen, wenn wir die Abhängigkeit von Russland beenden. Das ist eine Riesenaufgabe, für die wir alle Hebel nutzen müssen.
Nicht nur die Industrie, auch Privathaushalte – und insbesondere einkommensschwache Haushalte – spüren die stark gestiegenen Preise. Weil die Energiepreise einen großen Anteil davon ausmachen: Müssen wir nicht auch die Nachfrage verringen?
Wir leben glücklicherweise in einer Marktwirtschaft, da geht das automatisch. Eine Knappheit von Gütern, Dienstleistungen und Ressourcen drückt sich im Preis aus, den wir zahlen. Die hohen Preise auf Benzin und Gas führen automatisch dazu, dass die Nachfrage zurückgeht. In Unternehmen wie in Privathaushalten wird jetzt geschaut, wo man Energie einsparen kann. Nur wer nicht ausweichen oder verzichten kann, wird bereit sein, einen höheren Preis zu zahlen. Berufspendler können zum Beispiel auf öffentliche Verkehrsmittel umsteigen, wenn sie Anschluss an den Nahverkehr haben. Die Möglichkeit teilweise im Home-Office zu arbeiten, reduziert die Fahrtkosten.
Aber natürlich gilt, wir sind ärmer geworden, die Gesellschaft als Ganze. Die deutsche Volkswirtschaft ist ärmer geworden, weil sie Energieträger zum größten Teil importiert, und dafür nun einen sehr viel höheren Preis zahlen muss. Deshalb werden auch die hier hergestellten Produkte in der Produktion teurer. Das wird zum Teil bereits sozial abgefedert. Wenn die Heizkosten steigen, steigt auch die staatliche Unterstützung für Haushalte mit niedrigen Einkommen. Wenn der Staat aber einen Tankrabatt für alle anbietet, ist das ein Linke-Tasche-rechte-Tasche-Spiel. Er wird das Geld an anderer Stelle wieder reinholen müssen – entweder über Steuern oder über Inflation. Im Fall der Inflation heißt das, dass die Güter und Dienstleistung teurer und der Wert der Staatsschulden geringer wird. Daher macht es wenig Sinn, einen großen Schutzschirm aufzuspannen. Wir müssen den Preis leider wirken lassen, weil er die Nachfrage reduziert. Deswegen ist es so wichtig, das Angebot möglichst zu stützen – eben auch über Kohleverstromung und eine Laufzeitverlängerung der Kernkraftwerke.
Andere Länder diskutieren auch über einen Gaspreisdeckel.
Das hilft nicht. Der Staat muss das Gas ja trotzdem zum Marktpreis einkaufen. Wer ist denn der Staat? Das sind doch wir Steuer- und Abgabenzahler. Auf die eine oder andere Weise werden wir den Preis eben doch zahlen.
Wenn nun Fracking im eigenen Land erlaubt wäre, könnte das wirklich helfen, die aktuelle Krise abzufedern? Die Förderung läuft ja nicht von heute auf morgen an.
Es geht um die nächsten vier bis fünf Winter. Das heißt, es würde auch helfen, wenn es einige Zeit dauert. Der Gasverbrauch ist saisonal. Ab dem Frühjahr werden die Gasspeicher befüllt, im Winter leeren sie sich. Die Gasspeicher, die im Besitz von Gazprom waren, wurden im letzten Jahr nicht im üblichen Ausmaß befüllt. Dies wurde schon im Herbst 2021 kritisch öffentlich diskutiert. Wir kamen aus dem letzten Winter mit insgesamt relativ niedrigen Füllständen. Die Politik hat sich trotzdem darauf verlassen, dass das Gas aus Russland geliefert wird. Bis zum nächsten Winter sollten wir die Speicher gut füllen.
Außerdem: Wenn wir jetzt mit Flüssiggas aus den USA rechnen, ist dies ja auch nur verfügbar, wenn die Förderung massiv hochgefahren und gegebenenfalls neue Förderstätten erschlossen werden. In Zeiten niedriger Gaspreise ist Fracking weniger attraktiv, aber jetzt lohnt es sich. Da sollten wir uns ehrlich machen, und gegebenenfalls selbst fördern.
Schauen wir mal auf die Europäische Zentralbank. Müsste Sie nicht viel mehr ihre Rolle einer Krisenmanagerin wahrnehmen und die Zinsen spürbar erhöhen?
Natürlich muss sie die Zinsen erhöhen. Dies ist notwendig, um die Inflation wieder unter Kontrolle zu bekommen. Die EZB kann den Krieg nicht verhindern und sie kann uns nicht mit mehr Energie versorgen, aber sie kann dafür sorgen, dass die Inflation nicht dauerhaft hoch bleibt. Sie hat die Inflation ja auch mit angeheizt. Derzeit liegt der Notenbankzins bei -0,5 Prozent und die Inflation bei mehr als sieben Prozent. Die reale Verzinsung liegt also unter -7,5 Prozent. Hätte ich letztes Jahr gesagt, dass die EZB selbst bei einer Inflationsrate von über 7 Prozent an ihrem negativen Notenbankzins festhalten würde, dann hätte mir das wohl niemand abgenommen.
Übrigens, hatte ich bereits im Februar 2021 davor gewarnt, dass die Inflation das Ziel der EZB deutlich und anhaltend überschreiten könnte, insbesondere weil das Geldmengenwachstum und die Staatsverschuldung bereits 2020 sehr stark angestiegen waren. Aber das, was wir derzeit erleben, ist nochmal eine ganz andere Größenordnung.
Alles andere wird ja auch teurer, nicht nur Energie
Die Produzentenpreise im Euroraum sind bereits stark gestiegen. Das ist noch gar nicht bei uns Konsumenten angekommen. Allerdings dürfte der Anstieg der Energiepreise auch einmal zu einem Ende kommen. Dann tragen sie nicht mehr zur Inflation bei, und die Inflationsrate dürfte sinken. Aber die Preise anderer Güter und Dienstleistungen werden auch dann noch weiter ansteigen, was die Kerninflation treibt. Die Kerninflation wird im nächsten Jahr entsprechend höher ausfallen. Auch die Löhne werden steigen, weil die Arbeitnehmer natürlich sagen: Ich brauche mehr Geld. Fünf bis sechs Prozent Inflation jetzt schon im zweiten Jahr bedeuten einen großen Kaufkraftverlust. In allen Bereichen, in denen Arbeitskräfte knapp sind, wird man Lohnerhöhungen fordern und durchsetzen können.
Klingt alles so, als müsste die Schuldenbremse auch im kommenden Jahr ausgesetzt werden.
Da würde ich noch abwarten. Die Auswirkungen der Corona-Krise sind schon länger zurückgegangen. Damit lässt sich keine Aussetzung mehr begründen. Außerdem wurden inzwischen Umgehungsmöglichkeiten geschaffen, wie das Sondervermögen für Klimamaßnahmen. Dort werden sozusagen buchungstechnisch Mittel in großem Stil eingestellt. Und weil wir die Ausnameregelung für Notfälle im letzten Jahr sowie in diesem Jahr gezogen haben, kann man ein sehr hohes Defizit fahren. Aber die tatsächlichen Ausgaben der Klimapolitik werden erst in den kommenden Jahren getätigt. Dann fließen sie aber nach der neuen Regelung nicht mehr in die Berechnung des Spielraums für neue Schulden ein. Man hat also praktisch schon eine buchungstechnische Umgehung einer bindenden Schuldenbremse in den kommenden Jahren geschaffen. Somit ist dafür keine erneute Ausnahme von der Schuldenbremse nötig. Diese recht fragliche kreative Buchführung erlaubt es, die Schuldenbremse wieder einzuhalten.
Jetzt kommt noch das Sondervermögen von 100 Milliarden Euro für Verteidigungsausgaben hinzu. Allerdings soll es so im Grundgesetz verankert werden, dass es nicht für die Schuldenbremse angerechnet wird. Die Steigerung der Verteidigungsausgaben ist unbedingt notwendig, denn die Bundeswehr muss in einen Zustand versetzt werden, dass sie Deutschland verteidigen und die Nato-Aufgaben erfüllen kann. Allerdings sollte die Regierung mittel- und längerfristig ihre Ausgabenprioritäten verändern, so dass eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben auf mehr als zwei Prozent des BIP strukturell im Haushalt eingeplant wird, ohne dauerhaft die Schuldenquote zu erhöhen.
Ende dieses Jahres, wenn wir die Steuereinnahmen kennen und wissen, ob eine Rezession kommt, werden wir auch wissen, ob wir nächstes Jahr wegen des Krieges die Schuldenbremse nochmal aussetzen müssen.
Nehmen wir 2021 als Beispiel. Noch im Frühjahr 2021 hat die Bundesregierung ein sehr hohes Defizit für 2021 von 9 Prozent prognostiziert. Tatsächlich liegt das Defizit für 2021 nun bei 3,7 Prozent. Das ist noch immer eine Menge, aber längst nicht so schlimm wie befürchtet. Darum gilt auch für 2023: Die Einnahmenseite könnte sich besser entwickeln als erwartet, und da die Regierung verschiedene Sondervermögen eingerichtet hat, könnte es sein, dass wir die Schuldenbremse nicht aussetzen müssen.
Mit Ablauf des April haben Sie den Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung verlassen. Was hat Sie dazu veranlasst?
Ich war nun schon mehr als neun Jahre dabei, und damit weit länger als der Durchschnitt der früheren Ratsmitglieder. Neun Jahresgutachten, drei Sondergutachten, drei Produktivitätsberichte und 20 Konjunkturprognosen. Die vergangenen zwei Jahre brachten noch einmal besondere Belastungen mit sich, insbesondere auch für die Familie, wenn es darum ging, Homeoffice, Home-Kindergarten und Home-Grundschule miteinander zu vereinbaren.
Hinzu kam noch, dass der Sachverständigenrat seit mehr als einem Jahr nur noch vier Mitglieder hatte, weil die große Koalition damals die Position von Lars Feld, nach seinem Ausscheiden, nicht wiederbesetzt hat. Das hat es schwieriger gemacht, gemeinsame Positionen zu finden. Der Gesetzgeber hat in seiner Weisheit ja fünf Ratsmitglieder vorgesehen, damit es immer eine Mehrheit gibt.
Zuletzt haben wir aber mit unserem Konjunkturupdate im März eine wichtige Analyse und wirtschaftspolitische Botschaft nachdrücklich gemeinsam vertreten. Dafür haben wir uns sehr intensiv mit der Energieabhängigkeit Deutschlands beschäftigt, haben alle Risiken diskutiert und analysiert. Ende März haben wir die Ergebnisse im Kanzleramt vorgestellt. Wir konnten diese Fragen ausführlich diskutieren – mit dem Bundeskanzler, dem Wirtschaftsminister, dem Finanzminister, dem Gesundheitsminister, dem Arbeitsminister und dem Kanzleramtsminister.
Für mich war das ein schöner Anlass und ein guter Zeitpunkt, um zehn Monate vor dem Ende meiner Amtszeit auszuscheiden, so dass ich mich wieder mehr meiner Haupttätigkeit in Forschung und Lehre sowie als geschäftsführender Direktor eines Universitätszentrums widmen kann. Bis die Arbeit am Jahresgutachten, das im November an die Regierung übergeben wird, beginnt, verbleibt nun genügend Zeit, die Position neu zu besetzen.
Es genügt ja, wenn Sie den Sachverständigenrat verlassen. Rotary bleiben Sie doch treu?
Natürlich. Ich muss aber zugeben, dass ich in den vergangenen neun Jahren in meinem Rotary Club nur wenig präsent sein konnte. Der Sachverständigenrat ist zwar eine Nebentätigkeit, aber eben eine, die mich in Teilen des Jahres stark absorbiert hat. Meine Clubfreunde habe mich aber immer wieder eingeladen, über unsere Gutachten zu berichten. Besonders schätze ich den Austausch mit Kolleginnen und Kollegen aus ganz anderen Tätigkeitsbereichen. Ich bewundere es, wie viele Rotarier sich praktisch für andere Menschen und unsere Umwelt einsetzen und selbst Hand anlegen.
Das Gespräch führte Björn Lange.
© Bernd Lammel
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