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Titelthema

Das Zeitalter des Xi Jinping

Titelthema - Das Zeitalter des Xi Jinping
© llustration: Pete Reynolds

Was will dieser Unbekannte, der so viel Macht hat? Ob Handel oder Corona, Klima oder Krieg – Xi Jinping beeinflusst unser aller Leben.

Stefan Aust und Adrian Geiges01.12.2022

Seit Ende des Zweiten Weltkriegs galt der US-Präsident als der mächtigste Mann der Welt. Zwar führten Stalin, Chruschtschow und Breschnew eine hochgerüstete Supermacht, und Mao waltete wie ein Gott. Doch das beschränkte sich auf ihr eigenes Land oder bestenfalls den Block ihrer Verbündeten. Zur weltweiten Führungsrolle fehlte ihnen das Geld. Wirtschaftlich lagen sie weit hinter den USA und anderen westlichen Staaten zurück. Der damalige deutsche Bundeskanzler Helmut Schmidt bezeichnete die Sowjetunion als „Obervolta mit Atomraketen“. Die Chinesen fuhren Fahrrad statt Auto, was damals nicht als ökologische Nachhaltigkeit galt, sondern als ökonomische Zurückgebliebenheit.


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Seither hat sich die Welt geändert. Im Jahr 2005 übertraf China Frankreich und nahm den fünften Platz unter den führenden Wirtschaftsnationen ein. 2006, 2007 und 2009 überholte es Großbritannien, Deutschland und Japan und wurde zur zweitgrößten Wirtschaftsmacht der Erde. Wann es die USA überholen wird, ist keine Frage des Ob mehr, sondern nur noch eine Frage des Wann. Nach dem kaufkraftbereinigten Bruttoinlandsprodukt liegt China bereits seit 2014 vor den USA.

Die Vision: Zurück zu alter Stärke

Laut Weltbank hat die Volksrepublik 850 Millionen Chinesen aus der Armut befreit. Eine gewaltige wirtschaftliche und humanitäre Leistung, die – gemeinsam mit der Auflösung des Ostblocks – viele im Westen hoffen ließ. Der US-Politologe Francis Fukuyama sprach gar vom „Ende der Geschichte“: Wenn sich weltweit Marktwirtschaft und Wohlstand durchsetzen, folge die Demokratie quasi von selbst.

China zeigt, dass dies eine Illusion war. Dabei sollte auch dort eine erneute Ein-Mann-Diktatur wie unter Mao Zedong verhindert werden. Die Amtszeit des Präsidenten wurde auf zweimal fünf Jahre beschränkt. Der Parteichef sollte lediglich ein Erster unter Gleichen sein, Mitglied einer kollektiven Führung. Privatwirtschaft und ausländische Investitionen wurden erlaubt. Die Kommunistische Partei behielt ihre Macht, dank Korruption konnten sich die Funktionäre jetzt bereichern. Auch der Bevölkerung ging es jedes Jahr ein Stück besser. Wer nicht offen gegen das System aufstand, konnte in Ruhe leben. Die ausländischen Konzerne erschlossen einen Markt von 1,4 Milliarden Menschen. Und die Konsumenten in Europa und Amerika bekamen preisgünstige Produkte aus Fernost, von Jacken bis zu Smartphones.

Dann kam Xi Jinping. Er ist der Sohn von Xi Zhongxun, einem Helden der kommunistischen Revolution, stellvertretender Premierminister unter Mao. „Prinzlinge“ nennt man solche Kinder von Spitzenfunktionären in China. Der alte Xi war 1962 in Ungnade gefallen, kam später ins Gefängnis. Sein Sohn litt wie Millionen andere unter der Kulturrevolution. Doch statt sich vom System abzuwenden, entschied er sich, „röter als rot“ zu werden, wie es später in einem Dossier der US-Botschaft über ihn hieß. Er wollte nicht ein Opfer der Macht sein, sondern die Macht selbst. Er ging den langen Marsch durch die Institutionen der Partei, Dorffunktionär, stellvertretender Bürgermeister, Provinzchef, Parteichef von Shanghai, bis er 2012 Generalsekretär der Partei und 2013 auch noch Staatspräsident wurde.

Unsere Politiker werden von allen möglichen Entwicklungen „überrascht“ und fahren dann gerne „auf Schritt“. Xi Jinping hingegen hat eine klare Vision. Er spricht vom „chinesischen Traum“. Damit meint er keinen individualistischen Traum wie den amerikanischen, es geht ihm um die Nation als Ganzes. Er will China zu der Größe zurückführen, die es hatte, bevor die westlichen Kolonialmächte kamen. Noch im Jahr 1820 erwirtschaftete China ein Drittel des Bruttoinlandsprodukts der Welt. 800 Jahre vor Gutenberg hatten die Chinesen Bücher gedruckt. 1300 Jahre vor den Europäern stellten sie Stahl her. Sie erfanden das Papier, das Porzellan, das Schießpulver und den Kompass.

Die Formel: Marxismus trifft Nationalismus

Für Chinas Comeback hat Xi einen Zeitplan, den er „Zweimal hundert Jahre“ nennt. Die ersten hundert Jahre waren 2021 vorbei, hundert Jahre nach Gründung der Kommunistischen Partei Chinas. Bis dahin sollten alle Chinesen in bescheidenem Wohlstand leben – ein Ziel, das weitgehend erreicht ist. Die zweiten hundert Jahre werden 2049 vollendet sein, hundert Jahre nach der Staatsgründung der Volksrepublik China. Bis dann soll sie die führende Macht der Welt sein.

Xi Jinping glaubt dabei nicht an einen Selbstlauf. Im Gegenteil, trotz der wirtschaftlichen Erfolge sieht er das Modell China bedroht. Insbesondere Wut über die Korruption und Ärger über die Umweltzerstörung könnten dazu führen, dass die Partei ihre Macht verliert. Deshalb bekämpft er nicht nur diese Übel, sondern vor allem jeglichen Dissens. Freimütige Diskussionen im Internet, die es vor einigen Jahren noch gab, werden heute innerhalb von wenigen Sekunden gelöscht. Umgekehrt nutzt er digitale Mittel zur Totalkontrolle der Bürger, insbesondere über ihre Smartphones.

Ein soziales Punktesystem belobigt etwa das Singen roter Lieder im Park und bestraft religiöse Betätigung. Auch kontroverse Diskussionen innerhalb der Kommunistischen Partei, der einzigen realen politischen Kraft, sind untersagt. Xi Jinping sagt klar: „Die Bildung von Fraktionen und Cliquen jeglicher Art ist verboten.“

Xi Jinping ist ein überzeugter Kommunist. „Feindlich gesinnte Kräfte im In- und Ausland versuchen unentwegt, unsere Partei zum Fahnenwechsel zu bekehren, mit der Absicht, dass wir unseren Glauben an Marxismus, Sozialismus und Kommunismus aufgeben“, warnt er. „Nach dem Ende des Kalten Krieges haben einige Länder an westlichen Werten furchtbaren Schaden genommen. Sie sind entweder vom Krieg zerrissen oder befinden sich im Chaos.“ Da jedoch auch in China nicht mehr allzu viele Leute an marxistische Formeln glauben, nutzt Xi eine wirksamere Waffe: den Nationalismus. Während Mao noch gegen die Traditionen des alten feudalistischen Chinas wetterte, sieht sich Xi Jinping in einer Linie mit Konfuzius und den Kaisern.

Selbst die Gedanken sind nicht mehr frei

Den Kult um Mao ersetzt Xi Jinping durch einen Kult um sich selbst. An Straßenkreuzungen stehen Werbetafeln mit seinem überlebensgroßen Porträt. Kaufhäuser verkaufen Teller mit seinem Konterfei. Ihm wird sogar in Rapsongs und Cartoons gehuldigt. Viele Chinesen sind ernsthaft begeistert. Sie unterstützen Xis Kampf gegen die Korruption. Sie erleben ihn als ersten chinesischen Staatspräsidenten, der sich mit seiner Ehefrau in der Öffentlichkeit zeigt, die zudem auch noch eine bekannte Volkssängerin ist. Und sie staunen über Fernsehaufnahmen von ihm, auf denen er in einfacher Kleidung in einem noch einfacheren Straßenimbiss eine Mahlzeit zu sich nimmt, weil sie so etwas von einem chinesischen Parteiführer noch nie gesehen haben. Auch wenn das nur Show ist.

Damit solche Bilder wirken, hilft der Staat kräftig nach. 2017 startete die chinesische Jiangxi-Provinz, in der relativ viele Christen leben, eine Kampagne: „Religiöse Gläubige in Gläubige der Partei verwandeln“. In der Stadt Ji’an musste in einer katholischen Kirche das Bild der Jungfrau Maria durch ein Porträt von Xi Jinping ersetzt werden. Im Landkreis Yugan zwangen die Behörden 600 Dorfbewohner, statt der Jesusbilder in ihren Häusern Fotos von Xi aufzuhängen. Skurrile Auswüchse in entlegenen Gegenden? Seit Oktober 2018 müssen Studenten an chinesischen Universitäten Pflichtkurse in „Xi-Jinping-Gedanken“ belegen.

Mao hatte sein kleines rotes Buch Worte des Vorsitzenden Mao Zedong, im Westen als „Mao-Bibel“ bekannt. Xi Jinping hat etwas viel Besseres – eine kleine rote App fürs Handy. Für die Xi-Lektüre werden Punkte vergeben, liest man ihn nachts, zählen die Punkte doppelt. Vorbei die Zeiten, in denen man die Parteizeitung ungelesen in den Papierkorb werfen konnte. „Die Gedanken sind frei“ war gestern. Jetzt sind sie im digitalen Käfig.

Und dieses China sieht Xi von außen bedroht. Der Reformer Deng Xiaoping meinte einst: Wenn man das Fenster öffnet, kommen auch Fliegen rein. Er meinte damit: Macht nichts, die frische Luft ist wichtiger. Xi hingegen fürchtet die „Fliegen“. Deshalb nutzte er Covid als Vorwand, um China vom Ausland zu isolieren. Erfolgreiche Unternehmer wie Jack Ma lässt er drangsalieren, weil sie ihm zu mächtig geworden sind.

Ist Xi Jinping in seinem Weltmachtanspruch noch zu stoppen? Lässt sich ein Krieg mit Taiwan verhindern, nachdem sich Xi unter Zeitdruck gesetzt hat, indem er andeutet, er werde die Insel noch in seiner Amtszeit heim ins Reich holen? Wenn jemand Xi Jinping gefährlich werden kann, ist es vor allem Xi Jinping selbst. Denn nicht er und seine kommunistische Ideologie haben China wirtschaftlich stark gemacht. Es war die 1978 begonnene Reform und Öffnung. Sie entfesselte den Fleiß und Geschäftssinn der Chinesen. Sie brachte internationales Know-how und Kapital ins Land. Xi Jinping meint, China sei jetzt so stark, dass es darauf nicht mehr angewiesen ist.

Das Trauma: Bleibt China erneut stehen?

Vielleicht sollte sich Xi mit dem Seefahrer Zheng He befassen, der von 1371 bis 1433 lebte. Der Eunuch diente den Ming-Kaisern, brachte es bis zum Admiral. Verglichen mit ihm war Kolumbus ein Hobbysegler. Zheng He befehligte 27.870 Seeleute auf 300 Schiffen, unternahm sieben Expeditionen nach Südostasien, Indien, Afrika und Arabien. Astronomen und Meteorologen begleiteten ihn. Kolumbus hingegen hatte gerade mal 90 Mann, seine drei Nussschalen waren nur halb so groß wie Zheng Hes 140 Meter langes Schiff mit neun Masten.

Unmittelbar nach dem Tod des Eunuchen verboten die Ming-Kaiser den Bau von hochseefähigen Schiffen, ließen die bisherigen vernichten und die Eigentümer verhaften. Begründung: Das Reich der Mitte brauche keine Verbindungen zur Außenwelt. Damit begann der Niedergang, der sich über mehrere Jahrhunderte erstreckte. Die europäischen Nationen entwickelten sich und expandierten, zum Leid der Kolonialvölker. China blieb stehen. 


Buchtipp



Stefan Aust, Adrian Geiges

Xi Jinping – Der mächtigste Mann der Welt

Piper 2021,

288 Seiten, 22 Euro

Stefan Aust und Adrian Geiges
Stefan Aust ist einer der bekanntesten Journalisten Deutschlands. Sein Buch Der BaaderMeinhof-Komplex gilt als Klassiker. Er gründete Spiegel TV und war 13 Jahre lang Chefredakteur des Spiegel. Heute ist er Herausgeber der Welt.
Adrian Geiges lebte als Fernsehkorrespondent in Moskau, Hongkong, New York und Rio de Janeiro. In Shanghai leitete er die Tochterfirma eines großen deutschen Unternehmens. Dann war er viele Jahre Peking-Korrespondent des Stern. Er ist Autor zahlreicher Bücher.