https://rotary.de/wirtschaft/der-einfluss-ist-fundamental-a-8804.html
Interview mit Clemens Fuest

» Der Einfluss ist fundamental«

Der neue Ifo-Präsident Clemens Fuest über Ökonomen als Berater, neue EU-Institutionen sowie Konjunktur und Flüchtlingskrise.

01.04.2016

Jetzt also München. Nach Pro­fessuren in Köln, Mailand, Oxford und Mannheim zieht Clemens Fuest in die bayerische Hauptstadt und übernimmt von Altmeister Hans-Werner Sinn die Leitung des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung. Es ist Fuests zweiter Chefposten. In Mannheim führte er bereits das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW). Doch in München ist er nicht nur als Wissenschaftler gefordert.

Herr Fuest, Ihr Vorgänger als Ifo-Präsident, Hans-Werner Sinn, ist Deutschlands populärster Ökonom. Wollen Sie ihm auch da nachfolgen?

Es gehört zu den Aufgaben von Wirtschaftsforschungsinstituten wie dem Ifo, Brücken zu schlagen zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit. Es wird erwartet, dass sie zu Debatten beitragen, die unser Land bewegen, derzeit zum Beispiel zur Diskussion über die ökonomischen Folgen der Zuwanderungswelle. Mir macht es Freude, an dieser öffentlichen Debatte teilzunehmen, ich habe das in den letzten Jahren getan und werde das als Ifo-Präsident weiter vorantreiben.

Warum wechseln Sie überhaupt vom ZEW zum Ifo-Institut? Was ist in
München anders?

Das Ifo-Institut ist insofern einzig­artig, als es ein internationales Netz-werk hat, das CESifo-Netzwerk, ein Verbund mit derzeit rund 1240 Wissenschaftlern. Hinzu kommt, dass ich in München habilitiert habe und der Münchner Fakultät für Volkswirtschaftslehre eng verbunden bin. Aber es gibt auch viele Gemeinsamkeiten zwischen Ifo und ZEW. Beide Institute sind vergleichbar groß und verfolgen ähnliche Ziele: Forschung, den Transport der Forschungsergebnisse in Öffentlichkeit und Politik und die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses.

Was wollen Sie am Ifo-Institut ändern?

In diesem Stadium frage ich weniger, was sich am Ifo ändern soll, sondern erst einmal, was ich mitbringen und beitragen kann. Dazu gehören meine Forschungsthemen: die Steuerpolitik, Fragen der Einkommens- und Vermögensverteilung und ökonomische Aspekte der europäischen Integration. Der Euro ist ja schon heute ein großes Thema am Ifo-Institut. Darüber hinaus gibt es viele andere spannende Themen, die am Ifo bearbeitet werden. Es wird Änderungen am Ifo-Institut geben, schon deshalb, weil ständig neue Themen und Aufgaben auftauchen. Aber diese Änderungen werden wir gemeinsam entwickeln mit den Mitarbeitern und den Gremien des Instituts.

Sie sitzen auch im Wissenschaftlichen Beirat des Bundesfinanzministeriums. Wie sehr hören die Politiker und die Ministerialen auf Sie?

Dem Beirat gehöre ich seit 2003 an, in der Zwischenzeit habe ich aber auch in anderen Gremien der Politikberatung gearbeitet. Zum Beispiel bin ich derzeit Mitglied der Mindestlohnkommission oder einer Kommission der EU, die Vorschläge für die Reform der EU-Finanzierung erarbeitet. In all diesen Gremien habe ich erlebt, dass wirtschaftspolitische Beratung durchaus Einfluss hat und sehr fruchtbar ist für beide Seiten.

Den Eindruck hat man nicht, wenn die Fünf Wirtschaftsweisen der Bundesre­gierung alljährlich den Jahreswirtschaftsbericht übergeben: über 100 Seiten Expertise, feierliche Übergabe, Pressekonferenz, Bilder und Berichte in den Medien – und das war’s dann.

Solche Situationen gibt es auch. Das ist ja das Paradox der gerade für Deutschland typischen unabhängigen Beratung. Die Regierung macht den Beratern keine Vorgaben, weist öffentlich erteilten Rat allerdings auch häufig zurück. Der Sachverständigenrat hat sich gegen einen gesetzlichen Mindestlohn ausgesprochen, die Regierung hat ihn trotzdem eingeführt. Zwischen unabhängigen Beratern und Politikern kommt es immer wieder zu Meinungsver­schiedenheiten, aber das ist nicht schlimm. Unabhängige Beratung ist vor allem Beratung der Öffentlichkeit, der Bürger.

Trotzdem hat Beratung Einfluss auf die Politik. Woher sollen die Politiker wirtschaftspolitische Ideen nehmen, wenn nicht von den Ökonomen?Vielleicht entwickeln die Politiker auch mal eigene Ideen?

Die meisten Wirtschaftspolitiker übernehmen Ideen von irgendwelchen Ökonomen, oft ohne es zu merken, wie John Maynard Keynes einmal sagte. Politiker mit wirtschaftswissenschaftlicher Ausbildung sind oft durch ihr Studium geprägt. Wer an Universitäten unterrichtet, beeinflusst die Studenten. Viele meiner ehemaligen Studenten arbeiten heute in Ministerien oder politischen Parteien. Der Einfluss ist meines Erachtens sehr groß, er ist fundamental, aber er ist nicht direkt. Die klugen Politiker, die ich erlebt habe, hören sich unterschiedliche Berater an. Auch in den Fachabteilungen der Ministerien gibt es oft unterschiedliche Ansichten. Es ist Aufgabe der gewählten Politiker, sich möglichst breit zu informieren und dann verantwortlich zu ent­scheiden.

Welchem wissenschaftlichen Ratschlag ist die Politik denn gefolgt?

Die Politik hat viele Dinge umgesetzt, die von wissenschaftlichen Beratern vorgeschlagen wurden. Ein Beispiel: In den letzten Wochen wurde viel über den Bericht der Bundesregierung über die Nachhaltigkeit der Staatsfinanzen diskutiert. Der Bericht stellt fest, dass die deutschen Staatsfinanzen nicht nachhaltig sind. Da klafft wegen der Belastung des Staatshaushalts durch die Alterung der Bevölkerung ein Riesenloch. Dass es diesen Bericht gibt, geht auf Ideen des Wissenschaftlichen Beirates beim Bundesfinanzministerium zurück. Dass eine Schuldenschranke ins Grundgesetz eingefügt wurde, ist auch zu einem erheblichen Anteil das Ergebnis wissenschaftlicher Beratung. Ähnliche Beispiele gibt es aus den europäischen Institutionen. Der wahrscheinlich einflussreichste Ökonom des letzten Jahrhunderts ist John Maynard Keynes. Seinen Ideen folgen bis heute viele Politiker, allerdings greifen sie oft nur die Ideen heraus, die ihnen gerade passen.

Der ist vor einem halben Jahrhundert gestorben. Welche zeitgenössischen Ökonomen sind ähnlich einflussreich? Welche Ideen von heute die Wirtschaftspolitik langfristig beeinflussen werden, ist schwer vorherzusagen. Deutschland steht vor drei großen Aufgaben: Flüchtlinge, Euro, Konjunktur. Welche Aufgabe muss die Bundesregierung zuerst anpacken?

Am drängendsten ist meines Erachtens die Frage der europäischen Integration, die sowohl den Euro als auch die Flüchtlingsfrage berührt. Europa steckt in der Krise, weil wir uns institutionell nicht richtig auf­gestellt haben. Europa war sehr erfolgreich darin, einen europäischen Binnenmarkt zu entwickeln, auch wenn dieser Binnenmarkt weiter vertieft werden muss. Leider kommt es immer wieder vor, dass sich die Regierungen der EU-Staaten auf etwas einigen, aber nicht dafür sorgen, dass die Absprachen auch in einer Krise Bestand haben. In der Krise opfern die Länder dann die europäischen Verpflichtungen den nationalen Interessen. Das können wir sowohl in der Eurokrise als auch in der Flüchtlingskrise beobachten. Meines Erachtens brauchen wir deshalb mehr institutionelle Integration.

Gibt es nicht eher zu viele europäische Institutionen, zu viele EU-Behörden?

Nein, der Meinung bin ich nicht. Die EU beschäftigt sich zwar mit allen möglichen Themen, aber bei vielen davon entscheiden letztlich die nationalen Parlamente. Wie hoch darf das Haushaltsdefizit eines Landes sein? Dafür gibt es in Europa klare Regeln. Aber wie stark sich ein Staat tatsächlich verschuldet, entscheidet nicht Brüssel, das entscheidet in jedem EU-Staat das nationale Parlament. Die vereinbarten Regeln werden dabei nicht sonderlich ernstgenommen. Wenn wir wollen, dass europäische Politik auch dann umgesetzt wird, wenn sie einzelnen nationalen Regierungen gerade nicht in den Kram passt, dann müssen wir europäische Institutionen schaffen, die entsprechende Kompetenzen haben.Wenn wir einen europäischen Grenzschutz hätten, dann würden die europäischen Außengrenzen vermutlich effektiv kontrolliert, und nationale Grenzkontrollen wären entbehrlich.

Sie behaupten, Deutschland profitiert nicht von den Flüchtlingen – trotz Fachkräftemangels, trotz alternder Gesellschaft. Warum nicht?

Ich bin sehr dafür, Kriegsflüchtlingen zu helfen, aber es geht um Solidarität, nicht darum, ein Geschäft zu machen. Der Zustrom an Flüchtlingen ist rein wirtschaftlich betrachtet keine Entlastung, sondern eine Belastung für die vorhandene Bevölkerung. Deutschland ist ein Wohlfahrtsstaat. Jeder, der kommt, profitiert von den öffentlichen Leistungen, die wir gemeinsam finanzieren. Wer weniger verdient als der Durchschnitt der hier Arbeitenden, empfängt mehr öffentliche Leistungen, als er durch Steuern und Abgaben zu deren Finanzierung beiträgt. Dadurch entsteht für die schon vorhandene Bevölkerung eine Belastung. Eine Entlastung würde entstehen, wenn die Zuwanderer produktiver wären als die vorhandene Bevölkerung. Dann würden die Zuwanderer mehr in die öffentlichen Kassen einzahlen, als sie an Leistungen beanspruchen. Die Verdienstchancen der Zuwanderer, die derzeit kommen, sind nicht hoch genug, damit daraus eine Entlastung für die Inländer resultiert. Wenn eine Million Flüchtlinge nach Deutschland kommen, dann belastet das die Staatsfinanzen nach Berechnungen des ZEW-Forschers Holger Bonin einmalig mit 150 bis 250 Milliarden Euro. Kommt eine weitere Million, verdoppelt sich die Belastung.

Also Grenzen dicht?

Nein, es ist richtig, Flüchtlingen zu helfen. Aber wir helfen nicht, weil wir dann eines Tages davon profitieren, sondern wir helfen aus humanitären Gründen.

Muss die Regierung einen Flüchtlings-Soli einführen?

Das Bewusstsein für die Kosten der Flüchtlingswelle ist in der Bevölkerung hinreichend vorhanden. Aber die Nachhaltigkeitslücke in den Staatsfinanzen, die auch ohne die Kosten für die Flüchtlinge besteht, wird durch die Zuwanderungswelle größer. Die Steuereinnahmen sind in den letzten Jahren stark angestiegen. Statt Steuern weiter zu erhöhen, würde ich empfehlen zu prüfen, ob alle öffentlichen Ausgaben, die wir derzeit haben, wirklich notwendig sind. Brauchen wir zum Beispiel eine Bausparprämie? Sie geht an Leute mit mittlerem Einkommen, die ein Haus bauen wollen. Das sind auch diejenigen, die einen erheblichen Teil der Steuern und Abgaben zahlen. Muss man denen wirklich Geld aus der rechten Tasche nehmen, um es dann in ihre linke zu stecken? Auch bei der Riester-Rente muss man sich fragen, ob die Förderung bei denen ankommt, die sie wirklich brauchen, weil sie von Altersarmut bedroht sind.

Noch wächst die deutsche Wirtschaft, aber wie lange geht es so weiter?

Man kann sich schon fragen, ob wir bei Nullzinsen, niedrigem Euro-Kurs, sinkendem Ölpreis und expandierender Staatsnachfrage nicht ein höheres Wachstum haben müssten als die derzeit erwarteten 1,5 bis 2 Prozent. Für Deutschland hängt viel von der weiteren Entwicklung der Weltwirtschaft ab; vor allem davon, ob Chinas Wirtschaft die weiche Lan­dung gelingt, die beispielsweise der Internationale Währungsfonds (IWF) prognostiziert. Auf die Weltwirtschaftskrise 2008 hat China mit einem riesigen Investitionsprogramm reagiert und musste das Jahr für Jahr fortführen, um das Wirtschaftswachstum zu halten. Dabei ist es zu hohen Fehlinvestitionen gekommen. Einen gewissen Rückgang der Nachfrage aus China kann die deutsche Exportindustrie durch verstärktes Engagement in anderen Märkten kompensieren. Aber ein größerer Einbruch, den man nicht ausschließen kann, wäre gefährlich.


Prof. Dr. Clemens Fuest, 47, ist seit 1. April 2016 Präsident des Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung in München. Außerdem lehrt er an der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität Volkswirtschaft. Von 2013 bis zu seinem Wechsel nach München leitete er das Zentrum für Europäische Wirtschaftsforschung (ZEW) in Mannheim. Fuest ist Mitglied im RC Mannheim.

Infos: www.cesifo-group.de