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in Zeiten von Corona

Krisen-Reflexion

in Zeiten von Corona - Krisen-Reflexion
Welche Auswirkungen hat Corona auf die Wirtschaft, auf internationale Vernetzung, auf die Gesellschaft? © Pixabay

Die Entwicklungen dieser Tage treffen uns einigermaßen unvorbereitet - und persönlich. Was macht das mit uns, mit Unternehmen, mit der Gesellschaft? Ein Wirtschaftsfachmann zu Verantwortung und Lehren

Christoph Ph. Schließmann15.05.2020

Die Wirtschaftskrise vor zehn Jahren hat uns erstmals an das Phänomen der Komplexität herangeführt, an systemische Zusammenhänge und die Macht von Dominoeffekten im Unvorhersehbaren, Nicht-Linearen. Davor war kaum bewusst, wie hoch – latent und oft im Hintergrund – vernetzt unser ökonomisches, soziales und finanzwirtschaftliches globales System ist und welche Interdependenzen wir vielfach selbst geschaffen haben, ohne wirklich zu verstehen, was wir da im Labor unserer Möglichkeiten züchten. Der Begriff der "Systemrelevanz" bekam erstmals Bedeutung, auch wenn er sich vorwiegend auf die Banken- und Finanzwelt und deren Zusammenhänge mit der realen Wirtschaft bezog.

Was uns damals als Warnschuss für die Ergebnisse unreflektierter Planbarkeits- und Ratinggläubigkeit, Black-Box-Routinen und Derivaten, die nur wenige nachvollziehen konnten, eigentlich vor Augen halten sollte, wie fragil Systeme sein können, wurde schnell überwunden. Gelernt haben wir nicht wirklich daraus.

Die Coronakrise ist in vielerlei Hinsicht fundamental anders, trifft uns noch unvorbereiteter und unwissender. Wir verstehen kaum warum, wieso und wie das passieren konnte, wir haben weder belastbares Datenmaterial, geschweige Waffen und Abwehrmittel parat. Dazu ist jeder sehr persönlich betroffen. Es besteht Gefahr für Leib und Leben. Wir erkennen und diskutieren Systemrelevanz in neuer Dimension. Vor allem das Gesundheitswesen, in den letzten Dekaden leichtfertig gewinnorientierter Effizienz und Outsourcing unterworfen, offenbart seine Schwachpunkte. Wir merken plötzlich, was wirklich lebenswichtig für eine funktionierende Gesellschaft ist.

Anders aber als in früheren Krisen der Welt und Weltwirtschaft erleiden die Volkswirtschaften keinen Liquiditätsschock. Ausgefallene Nachfrage wird durch Billionen-schwere Rettungspakete ersetzt und die Notenbanken, die Welthandelsorganisationen und die G20-Staaten kooperieren im Sinne globale Steuerungen. Heute stehen mächtige Sozialstaaten bereit, die Auswirkungen der Krise zumindest zu dämpfen, um einen abrupten "Weltuntergang" zu verhindern.

Was bedeuten Resilienz und systemische Lebensfähigkeit gerade jetzt?

Resilienz bezeichnete ursprünglich die Fähigkeit, Extremsituationen durchzustehen, ohne Schaden an der Seele zu nehmen. Übertragen ist Resilienz wie ein unsichtbarer Schutzschild, den Menschen oder Organisationen mit sich tragen, um Krisen, Schicksalsschläge oder schwierige Situationen ohne fundamentalen Schaden und Trauma zu meistern.

Der häufigste Grund für das Sterben eines Unternehmens ist, dass es die notwendige Lebensfähigkeit nie erreicht oder nach Erfolgen, oft sogar Marktführerschaften, den jeweils nächsten Unternehmenslebenszyklus in sich dynamisch veränderndem System- und Marktumfeld nicht schafft.

"Lebensfähigkeit" ist dabei die situative und sensible Relation von "Komplexität" zum Produkt aus "Agilität" und "Robustheit". Je höher die Komplexität und je geringer Agilität x Robustheit eines Systems, desto größer werden die Risiken für die Steuerbarkeit und Lebensfähigkeit eines Unternehmens.

"Agilität" ist die Fähigkeit eines Systems, flexibel, anpassungsfähig und initiativ mit Veränderungen und Unsicherheiten umzugehen. Agilität ist jedoch nicht mit Aktionismus zu verwechseln. Keineswegs sind – wie oft missverstanden – Systeme ständig im Wandel, sondern sie suchen vielmehr immer wieder einen stabilen Systemzustand gegebenenfalls auf einem anderen beziehungsweise höheren Niveau.

"Robustheit" ist als Counterpart der Agilität die Fähigkeit eines Systems, seine Funktion auch bei Schwankung der Umgebungsbedingungen aufrecht zu erhalten, ohne sich selbst und seine anfänglich stabile Struktur in Frage zu stellen. Robustheit ist eine spezifische Unempfindlichkeit, Absorptionsfähigkeit oder auch Regenerationsfähigkeit gegenüber bestimmten Einflüssen, Entwicklungen und Störungen.

Es genügt nicht, dass ein Unternehmen (über)lebt, sondern es muss die Kunst entwickeln, sich in einem relevanten und per se lebensfähigen System unentbehrlich zu machen. Unternehmen und Lebensraum müssen also zukunftsfähig sein. Dies erfordert:

  • Analyse des aktuellen Geschäftsmodells und seiner Lebensfähigkeit für die Zeit nach der Krise vor dem Hintergrund möglicher neuer Szenarien
  • Analyse des Systems, von dem das Unternehmen seine Lebensfähigkeit dann ableitet beziehungsweise das es gegebenenfalls auch direkt oder indirekt beeinflussen kann. Im Rahmen der Systemanalyse wird regelrecht die für das Unternehmen individuell relevante DNA des Systems erstellt und geprüft, welche Systemparameter

• wie miteinander vernetzt sind und sich aktiv und passiv beeinflussen, und

• welche Parameter systemrelevant sind, das heißt das System bestimmen, also eine Art Hub-Schlüsselfunktion einnehmen

  • Prüfung, inwieweit das Unternehmen mit den Erkenntnissen aus den ersten beiden Punkten die Zukunft bestehen kann, ohne dabei nur reagierender Mitläufer und "Überlebender" zu sein

• Wie steht das Unternehmen im aktuellen Systemumfeld und welche Szenarien ergeben sich dynamisch?

• Kann das Unternehmen im System nachhaltig agieren?

  • Je nach Ergebnis erfolgt eine Anpassung oder eine grundlegende Neuausrichtung

• des Geschäftsmodells

• der Positionierung in Markt und System

• der Prozesse des Geschäfts

Die Rolle und Qualität der Führung entscheiden, ob beziehungsweise wie die Folgen der Coronakrise überwunden werden können.


Führung anderer und sich selbst erfordert in erster Linie Wahrnehmung und Adaption auf die eigene Betroffenheit. Wandel kann nur durch Bewusstmachung und Einsicht entstehen.


Was Unternehmen jetzt brauchen, ist ein besonderes "Lebensfähigkeits-Gen". Zu viele Parameter haben sich in hochkomplexen Zusammenhängen regelrecht chaotisch verändert und sind weder greifbar noch planbar. In Zeiten massiver Unsicherheit ist ein wohlüberlegtes und pragmatisches Fahren auf Sicht die einzig greifbare Lösung. Unser Denken muss von den verfügbaren Ressourcen ausgehen und daraus pragmatisches Handeln entwickeln und ableiten. Dabei müssen wir bedenken, inwieweit wir investieren beziehungsweise welche Verluste wir uns in nächster Zeit leisten können oder müssen, um Notwendiges zu tun und attraktive Chancen zu nutzen. Gewinner werden die sein, die mit hoher Kreativität daraus Nutzen erschaffen können.

Was brauchen wir aktuell?

  • Kapitän-artige Führung: Klarheit, Besonnenheit, Mut und Verantwortung zur Entscheidung, klare Ansage und Machen. Es ist keine Zeit für lange Diskussionen. Jetzt muss das Ruder in besonnene, erfahrene Hände.
  • Ruhe bewahren, mit Kalkül und Intuition Orientierung geben. Jede glasklare Entscheidung ist besser als keine.
  • Nichts beschönigen. Mut zur Wahrheit und Offenheit. Nur wenn wir dem Stier in die Augen sehen, können wir mit ihm umgehen.
  • Laufende Informations-Aktualisierung. Reden. Dies mindert Angst.
  • Unabhängig davon brauchen Unternehmen eine Lebensfähigkeits-Basis, das heißt eine strategische Position, die die Zukunft sichert.

Wie in der Medizin gilt - für mich wie auch für die Wirtschaft - die zentrale Frage: Geht der Betrieb X an oder mit Corona zugrunde?


Die Beantwortung dieser Frage bedeutet, dass wir im Sinne einer wirtschaftlichen Obduktion überlegen müssen, woran und warum Betriebe scheitern. Corona entschuldigt nicht alles und ist auch nicht der Existenzkiller, zu dem das Virus momentan gerne gemacht wird.

Je nach Entwicklung beziehungsweise Erholung oder Nicht-Erholung in bestimmten Branchen kommt es zu einer V-, einer U- oder einer L-Entwicklung. Gerade für viele kleinere und mittelständische Unternehmen mit geringeren Margen und Rücklagen kann eine U- oder gar L-Entwicklung wirtschaftlich existentiell vernichtend sein, weil sie diese Durststrecke nicht finanzieren werden können und an Corona und der damit direkt verbundenen Krise sterben. Die Coronakrise ist für eine Welt, deren Lebensfähigkeit schon vor dem Virus instabil geworden war, nur ein Brandbeschleuniger auf dem Weg, Geschichte zu werden.

Derzeit lesen wir viele Thesen darüber, wie grundlegend sich die Krise auf unser Denken und Handeln, unsere Strukturen und Prozesse der Zukunft auswirken wird und wie positiv die Krise das soziale Verhalten der Menschen positiv und ethischer beeinflussen würde. Ich bin mit dieser Sichtweise ob vielerlei Erfahrungen sehr vorsichtig.

Diese Krise hat viel mit Verantwortung nach innen und außen, Selbstdisziplin und Vernunft zu tun. Nur wer versteht, dass Freiheitsbeschränkungen ein Investment in die Freiheit der Zukunft sind, hilft allen zu gewinnen.

An dieser Stelle will ich gar nicht tiefer auf die hochkomplexe Thematik der verfassungsrechtlichen Vereinbarkeit der Beschränkungsmaßnahmen eingehen. Natürlich gilt, dass je länger die Pandemie-Beschränkungen dauern, desto engmaschiger sie auf ihre weitere Verhältnismäßigkeit zu überprüfen sind. Es gilt immer neu situationsgerecht anhand des Infektionsverlaufes abzuwägen, ob feiner abgestufte, mildere Maßnahmen zum Gesundheitsschutz zur Verfügung stehen. Wir müssen bei all diesen Diskussionen aber verstehen, dass alle diese Abwägungen Prüfungen in einem Umfang und Schwierigkeitsgrad voraussetzen, zu denen wir vor allem in der Hochphase der Infektionsmultiplikation weder die Daten noch die Zeit hatten.

Es wäre aber naiv zu glauben, die Coronakrise würde aus uns allen bessere, ethischere, sozialere, reflexivere, werte-orientiertere Menschen machen. Die Krise war sicher das, was wir alles andere als vorhergesehen und gebraucht haben. Wir sind mitten in einem schwierigen und umfassenden Erkenntnisprozess.

Die Wirtschaftskrise vor zehn Jahren war noch lange nicht vorbei, da sind viele bereits zu "business as usual" übergegangen. Das wird bei Teilen unserer Gesellschaft je nach Charakter und Mentalität auch wieder so sein. Manche haben einfach das rechte Maß verloren. Das Parfüm des Scheins ist ja so berauschend.

Bereits jetzt gibt es für mich acht wichtige Erkenntnisse aus der aktuellen Krise:

    1. Systemrelevanz muss neu definiert und organisiert werden. In der prosperierenden Partygesellschaft der letzten Dekade sind viele Honorierungsschieflagen entstanden. Nunmehr lernen wir: Systemrelevanz vor Brot und Spiele! Wir sollten einmal alle sehr nachdenklich werden, was wir da in den letzten Jahren gebaut haben. Wir haben vor Jahrzehnten China zur verlängerten Werkbank erkoren und nicht gemerkt, wie diese mit dem verdienten Reichtum in der Lage war, zur Weltmacht wiederaufzusteigen und sich der Quellcodes und Schlüsselindustrien des Kapitalismus zu bedienen – und wie wir erpressbar sind.
    1. Oberste Priorität aller Regierungen der Welt muss die Gesundheit der Bürger sein. Wie sich zeigt, sind die Gesundheitssysteme und -ausstattungen in höchst unterschiedlichem und oft desolatem Zustand - mit fehlendem Personal, Equipment und Technologie. Meines Erachtens gehört das Gesundheitssystem in staatliche Hände und muss ohne Achtung von Wirtschaftlichkeit und Gewinnstreben privater Gesundheitsorganisationen dem Bürger dienen. Gesundheit, Wissen und Ausbildung sind die wertvollsten Ressourcen einer Gesellschaft. Medizinische Versorgung muss wie Bildung ein Grundrecht sein. Die Assets dazu dürfen nicht outgesourced werden. Wir dürfen nicht von anderen abhängig sein. Gesundheit ist ein systemrelevantes Thema, das im Kern im Land bleiben muss.
    1. Wir müssen es schaffen, die Digitalisierung konsequent zu nutzen, ohne uns von ihr geißeln zu lassen. Die Krise darf nicht zum Überwachungssystem und zu einer abstrakten Welt führen.
    1. Die Digitalisierung wird vor allem große Chancen und Veränderungen in Aus- und Weiterbildung eröffnen. Die Universitäten haben sehr schnell in der Krise den Unterricht digitalisiert und damit enorme Freiheiten mit Einsparungen an Logistik und Zeitverlust im Lernprozess ermöglicht. Unsere Kinder und Schüler wie auch deren Lehrer stehen dagegen momentan, meines Erachtens zu spät, mitten in einer Digitalrevolution. Hier ist man sich vor allem noch überhaupt nicht einig, wie entsprechend digital unterstützte Lernformate pädagogisch wertvoll aussehen sollen. Sicher ist dies nicht das, was bei den meisten Kindern im Schüleralter oft ein Synonym für Digitales ist, nämlich Reizüberflutung, wahlloses Herumdaddeln und ungefilterter Informationskonsum. Hier ist es wichtig zu lehren, wie Informationen ausgewählt, bewertet und zu Wissen und Nutzen transferiert werden können.
    1. Und wenn wir schon bei Pandemie und Digitalisierung sind, möchte ich auf das Virus hinweisen, das uns latent bereits schon bedroht, nämlich das der Cyber-Kriminalität. Mit jedem Ausbau der Digitalisierung werden wir auch stärker dem Risiko ausgesetzt, dass wir über digitale Einfallstore nicht nur transparent werden, sondern auch beeinflussbar und kriminell angreifbar.
    1. Für die Gesellschaften gibt es nach einer Krise zwei Richtungen, die Wahl zwischen Öffnung oder Abschottung. Derartige Krisen sind nur in internationaler Zusammenarbeit und durch Multilateralismus zu lösen. Dies muss ohne populistischen Protektionismus organisiert und manifestiert werden.
    1. Wir sollten lernen, bedachter zu kommunizieren. Ständige Weltuntergangsnews ziehen selbst den Stärksten in die Depression. Und die brauchen wir gerade nicht, um mit Schwung auch wieder aus dem Tal zu kommen. Wer endlich rückt Information hin zur Klarheit und Relation der Fakten? Wann lernen gerade Autoritäten, sich zu kontrollieren und Verantwortung für das zu übernehmen, was sie von sich geben oder auslösen?
    1. In der Art und Weise kann es maximal situativ Alternativlosigkeit zu bestimmten Maßnahmen geben. Ansonsten sind immer Einschränkungen im Detail zu prüfen und im Sinne der Verhältnismäßigkeit abzuwägen.
Christoph Ph. Schließmann

Prof. Dr. Christoph Ph. Schließmann (RC Rhein-Main International) ist Fachanwalt für Internationales Wirtschaftsrecht, Gründer und Inhaber von "CPS Schließmann. Wirtschaftsanwälte in Frankfurt am Main". Schließmann lehrt seit den 90er Jahren Entrepreneurship und strategische Unternehmensführung an der Schnittstelle von Wirtschaft und Recht an der Universität Salzburg sowie dem MCI Innsbruck und war 16 Jahre in St. Galler Executive-Programmen tätig. Er ist Autor von zehn Fachbüchern und einer Fülle von Fachartikeln zu rechtlichen und wirtschaftlichen Themen.