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Interview

Die Einheit und ihre Folgen

Interview - Die Einheit und ihre Folgen
Klaus von Dohnanyi überblickt fast ein ganzes Jahrhundert und ist noch immer ein gefragter und streitbarer Gesprächspartner © Markus Scholz/Picture Alliance/DPA

SPD-Urgestein Klaus von Dohnanyi ist zuletzt hart ins Gericht gegangen mit seiner Partei. Ein Gespräch über 35 Jahre deutsche Einheit, den Ukraine-Krieg, den Zustand unserer Demokratie und die Rolle der SPD

01.11.2024

Herr von Dohnanyi, Parteien, Medien, Vereine und auch Kirchen haben einen guten Teil ihrer Glaubwürdigkeit verloren. Heute tauschen sich die Menschen über soziale Medien und immer häufiger in Bürgerräten aus. Braucht es Parteien traditioneller Prägung überhaupt noch?

Parteien sind unentbehrlich für die Ordnung politischer Entscheidungen. Wir brauchen sie in den Parlamenten, aber auch im Gespräch mit den Bürgerinnen und Bürgern. Es ist ja nicht so, dass die Menschen sich an die sozialen Medien wenden, sondern die sozialen Medien intervenieren bei den Menschen direkt und persönlich. Schon im Jahre 1964 schrieb der bedeutendste Medienforscher des vergangenen Jahrhunderts, Marshall McLuhan, dass die Einführung neuer Medien in die Gesellschaft die gesamte Gesellschaft und nicht nur den Bereich der Medien grundsätzlich verändere. Damit müssen die Parteien jetzt umgehen. Auch die SPD.

Massenproletariat, Arbeiterbewegung, Arbeiterklasse: Die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts war gekennzeichnet durch Wohlstand und soziale Gerechtigkeit. Warum funktionieren die alten Integrationsgefäße der SPD nicht mehr?

Der Hauptgrund liegt wohl darin, dass sich durch die neuen Medien der gesellschaftliche Zusammenhang insgesamt aufgelöst hat. Schon vor langer Zeit kritisierte Helmut Schmidt, dass aus der Runde der Familie der Halbkreis vor dem Fernseher geworden sei. Und so geht es auch der SPD und allen Parteien: Ihre innere Kommunikation ist auf indirekte technische Mittel reduziert worden, die Menschen reden nicht mehr miteinander und streiten damit auch weniger, sondern sie kommunizieren in größeren Kreisen über die sozialen Medien. So ist es kein Wunder, dass die alten Integrationsgefäße der SPD nicht mehr dieselbe zusammenführende Wirkung haben.

Wir feiern 35 Jahre deutsche Einheit: Wie steht es um das demokratische Erbe der Bonner Republik?

Wir müssen ja Deutschland im Zusammenhang der weltweiten Entwicklungen sehen. Und da fragen sich gegenwärtig viele Menschen in verschiedenen klassisch demokratischen Ländern, wie es um ihr demokratisches Erbe steht. Die intensive Debatte in den USA haben wir hier bei uns ja eingehend verfolgt. Trump oder Biden, Trump oder Harris: Die Frage wird in wenigen Tagen entschieden sein. Aber damit ist noch keine endgültige Entscheidung über die Demokratie in den USA getroffen. Denn das Erbe von Donald Trump wird so bald nicht vergehen.

Nach der Wende richteten 17 Millionen neue Bürger ihre Erwartungen in großer Mehrheit an den Staat, weil sie es nicht anders kannten. Plötzlich waren 17 Millionen Menschen Teil eines Sozialsystems, in das sie nie eingezahlt hatten. Nun kann man sagen: Wir haben es trotz allem geschafft! Man könnte aber auch sagen, dass gegenwärtige Probleme des Sozialstaats auf die Wendezeit zurückzuführen sind.

Ich glaube nicht, dass die gegenwärtigen Probleme des Sozialstaats in Deutschland in erster Linie auf diese Wendezeit zurückzuführen sind. Das ließe sich schon dadurch beweisen, dass es eine Wiedervereinigung mit ihren ökonomischen Folgen weder in England noch in Frankreich oder Italien gegeben hat: Aber sind die Probleme in diesen Ländern deswegen heute geringer? Ich denke, wir haben mit der Wiedervereinigung und der Aufnahme der „neuen“ Bürgerinnen und Bürger eine große politische und menschliche Leistung vollbracht. Allerdings natürlich nicht ohne Folgen. Ich hatte im Sommer 1990 in wenigen Monaten ein viel gelobtes Buch geschrieben: Das deutsche Wagnis. Von Anbeginn habe ich die deutsche Wiedervereinigung als ein großes Zukunftsproblem für Deutschland angesehen, eben als ein Wagnis. Und ich habe damals in den Schlusskapiteln dieses Wagnis begründet: Ich befürchtete möglicherweise eine große Enttäuschung in den neuen Ländern, weil natürlich dort auf lange Zeit nichts so sein könne wie im früheren Westen der Republik. Und so sind die Zustände heute ja auch: Wir haben über neun Billionen Euro in den neuen Ländern investiert, und doch sind dort viele Leute nicht zufrieden, wie man auch an den hohen AfD-Stimmanteilen sehen kann.

Ein Blick auf die politische Deutschlandkarte nach den Kommunalwahlen im Sommer und den Landtagswahlen im Osten lässt eine neue Teilung Deutschlands deutlich werden – exakt entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze. Wie bewerten Sie den Zustand der deutschen Einheit?

Wir haben ein gemeinsames Parlament, den Deutschen Bundestag; wir haben eine gemeinsame Regierung, wenn auch ungeliebt: die Ampel; und wir wissen, dass wir in unserem Schicksal eng zusammenhängen. Aber was die Parteien angeht, so fehlt den klassischen Parteien, insbesondere der SPD, die Verwurzelung in der Bevölkerung. Die SPD wurde ja von der kommunistischen Führung in der DDR zu einem Zusammenschluss zwischen der kommunistischen SED und den Sozialdemokraten gezwungen. So ging die Sozialdemokratie dort faktisch unter; zwar nicht im Gedankengut, nicht im demokratischen Denken der Sozialpolitiker, aber sehr wohl im Machtgebilde des DDR-Staates. Und so fehlt der SPD, meiner schönen alten Partei, die gerade in einem Teil der sogenannten „neuen Länder“ ja ihre Gründungszeiten hatte, in den neuen Ländern heute die Wurzel. Im Parteiensystem ist Deutschland also auf der politischen Linken nicht wirklich wiedervereinigt; das gilt für die Unionsparteien in diesem Sinne nicht. Im Ganzen gesehen aber bewerte ich den Zustand der deutschen Einheit als ein ebenso unausweichliches wie am Ende doch auch gelungenes Experiment.

Blicken wir in die Ukraine: Wie ließe sich Ihrer Meinung nach der Krieg beenden?

Nach meiner Überzeugung muss man an den Ursprung der Kriegsursachen zurückkommen. Und nach meiner festen Überzeugung, die sich auch aus vielen Dokumenten beweisen lässt, war die Ursache nicht ein Wunsch von Putin, Westeuropa zu erobern oder die befreiten osteuropäischen Länder als Teil Russlands zurückzugewinnen. Eine Absicht war zu verhindern, dass das westliche Militärbündnis, die Nato, unmittelbar an Russlands Grenzen stationiert wird. Die Ausweitung der Nato bis an die russische Grenze, auch unter Einbeziehung ehemaliger russischer Staatsgebiete (Ukraine, Georgien) war das zentrale Problem. Hier fühlte sich die Russische Föderation sicherheitspolitisch beeinträchtigt, und diese Meinung wurde von bedeutenden westlichen politischen Strategen geteilt. So warnte unter anderem der bedeutende ehemalige polnische Sicherheitsberater Zbigniew Brzeziński schon 2014/15 vor einer Ausweitung der Nato in das Gebiet der Ukraine, weil das möglicherweise zum Krieg führen könnte. Auch der heutige Chef der Sicherheitsdienste (CIA) in den USA, William Burns, teilte in seinem Buch The Back Channel im Jahre 2019 diese Befürchtung. Ich habe diese wichtigen amerikanischen Stimmen in meinem jüngsten Buch Nationale Interessen – Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche als Warnung aufgenommen: Wenn wir mit der Erweiterung der Nato fortfahren, wird es zum Krieg kommen. Der Ukraine-Krieg wird sich nur beenden lassen, wenn es in der Frage der Nato-Ausdehnung bis an die russische Grenze eine Lösung gibt.

Wie muss unser Verhältnis zu Russland und zu den USA sein? Können wir es uns leisten, in die alte West-Orientierung zurückzukehren?

Unsere West-Orientierung ist unsere Normalität. Wir sind ein Teil des Westens. Aber das bedeutet nicht, dass wir nicht auch positive Beziehungen zu Russland brauchen. Denn Russland ist unser großer Nachbar auch auf europäischem Boden. Diese Freundschaft auf persönlicher Ebene gibt es immer noch, und wir müssen sie unbedingt bewahren. Aber eine Freundschaft zwischen den USA als Staat und den europäischen Staaten, sei es Frankreich, Deutschland oder Italien, hat es nie gegeben. Es ist eine alte Tradition angelsächsischer Politik, festzustellen, dass es zwischen Staaten keine Freundschaften, sondern nur Interessen gibt. Und diese Interessen sind auf amerikanischer Seite ganz andere als auf europäischer: Für die Amerikaner ist ihre Verflechtung mit Europa nichts anderes als ein Brückenkopf zur Weltmacht (Brzeziński), und sie haben hier immer ihre Interessen vertreten, die nicht immer auch unsere Interessen sein konnten. Als der amerikanische Präsident Franklin D. Roosevelt auf der Jalta-Konferenz 1945 alle osteuropäischen Staaten der Sowjetunion übergab, verkündete er hinterher im amerikanischen Kongress, jetzt gebe es das stabilste Europa, das es je gegeben habe. Die Auslieferung von Estland, Polen, Ungarn oder Rumänien an die Sowjetunion war vielleicht im Interesse der USA, aber ganz gewiss nicht im Interesse Europas.

Was ist eigentlich von den Jahrzehnten der engen deutsch-amerikanischen Freundschaft geblieben? Wir denken ans Aspen-Institute, an die Amerika-Brücke, die Fulbright-Studenten.

Nach meiner, auch sehr persönlichen Erfahrung sind diese Institutionen weiterhin sehr aktiv und stärken die freundschaftlichen Beziehungen zwischen Deutschland und den USA. Fulbright, zum Beispiel, verdanke ich mein erstes Stipendium! Aber natürlich ist seit meiner Zeit in und mit den USA die Welt anders, größer, vielfältiger geworden. Ich erinnere, dass während meines ersten Aufenthaltes in den USA 1949 zum Beispiel Mao gerade seinen Siegeszug antrat. Meine damaligen chinesischen Freunde in New York verfolgten seinen Weg mit großer Zustimmung: Endlich werde China frei sein von ausländischer Bevormundung! Wie lange ist das nun her! Als ich dann von New York und der Columbia University zur Yale Law School übersiedelte, gewann ich dort auch als Mitglied im Editorial Board des Yale Law Journal viele lebenslange Freunde. Ich sehe vieles kritisch an der Politik der USA, aber das trübt doch meine Freundschaft mit diesem großen Lande nicht!

Kommen wir zum Schluss in die Gegenwart: Sie haben immer wieder die Spitze der SPD kritisiert. Warum sind Sie noch in der Partei?

Ich bin ein treuer Anhänger der SPD und warte noch immer auf ihre Rückkehr zur europäischen Friedenspolitik. Ich fühle mich der SPD tief verbunden und kann mir eine andere Antwort auf diese Frage überhaupt nicht vorstellen.

Das Gespräch führten Johann Michael Möller und Björn Lange.


Zur Person:

Klaus von Dohnanyi gehört seit 1957 der SPD an. Der promovierte Jurist bekleidete zahlreiche politische Ämter, war unter anderem Bundeswissenschaftsminister, Staatsminister im Auswärtigen Amt und Erster Bürgermeister der Freien und Hansestadt Hamburg. Bis heute hat er zahlreiche ehrenamtliche Aufgaben inne und greift immer wieder in die intellektuellen Debatten Deutschlands ein.


 

 


Klaus von Dohnanyi

Nationale Interessen – Orientierung für deutsche und europäische Politik in Zeiten globaler Umbrüche

Siedler Verlag,

237 Seiten, 24 Euro