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Im Stadtteil Barmen gleitet die Wuppertaler Schwebebahn an der Junior-Uni vorbei. In der privat finanzierten Einrichtung lernen Studenten im Alter von vier bis 18 Jahren. © Imago Images/Jochen Tack

Wo einst große Ideen und Weltkonzerne geboren wurden, kämpft man heute mit den Schulden. Mit der Idee des „Circular Valley“ soll endlich an die goldene Vergangenheit angeknüpft werden.

Lothar Leuschen01.05.2022

Wuppertal hat seine goldenen Zeiten hinter sich. Lang ist es her, dass Elberfeld und Barmen das Zentrum der Industrialisierung auf dem europäischen Festland gewesen sind. Erfinder, Entwickler, Unternehmer und Vordenker haben die damals noch getrennten Städte auf die internationale Landkarte gehievt. Ohne den dringenden Wunsch der Kaufleute an der Wupper hätte es den Zollhafen Düsseldorf und damit die spätere Metropole am Rhein womöglich nicht gegeben. Es war die Zeit, in der Friedrich Bayer den Grundstein zu einem später weltweit agierenden Konzern legte, es war die Zeit, in der ein gutbürgerlicher Unternehmersohn namens Friedrich Engels Gesellschaft neu dachte und mit Karl Marx Ideen schuf, die später revolutionäre Kraft entfalten sollten. Lang ist es auch her, dass Adolf Kolping und Johann Gregor Breuer im Tal der Wupper wirkten und die Anfänge des Sozialsystems schufen. Barmen und Elberfeld waren zu Kaisers Zeiten nicht am Puls der Zeit, sie waren der Puls der Zeit. Vorbei. Seither haben Stadtmütter und Stadtväter mehr oder minder erfolgreich versucht, Wuppertal neu zu erfinden. 1929 gegründet, führt die Stadt jedoch unentwegt einen Kampf gegen Geldnot und ihren Abstieg.

Wirtschaft, Umwelt, Wohlstand

Deshalb sind Entwicklungen wie die Junior-Uni für Studierende im Alter von vier bis 18 Jahren so bemerkenswert. Aus der Mitte der Gesellschaft gegründet und vollständig privat finanziert, markiert das bunte Gebäude im Stadtteil Barmen die Erkenntnis, dass Selbsthilfe notwendiger denn je ist, wenn die Stadt dem Abwärtsstrudel entkommen will. Das mag sich auch Carsten Gerhardt gedacht haben, als er über die Schienen der stillgelegten Nordbahntrasse spazierte und den Entschluss fasste, aus der Strecke einen Fuß- und Fahrradweg zu machen. Heute ist die Nordbahntrasse einer der Publikumsmagneten Wuppertals. Doch dessen Anziehungskraft reicht nicht aus, um das Ruder des immer noch sehenswerten, aber angerosteten Dampfers Wuppertal ganz herumzureißen.

Nun also der nächste Coup des Unternehmensberaters und Geschäftsführers von Kearney. Gerhardt hat mit gleichgesinnten „Circular Valley“ ins Leben gerufen. Ziel ist es, Nachhaltigkeit mit Wirtschaftswachstum zu verbinden. Kreislaufwirtschaft – ganz im Sinne Ernst Ulrich von Weizsäckers, dem Gründer des Wuppertal Instituts für Klima, Umwelt und Energie. Wo einst Garnbleicher die Wurzel der Textilindustrie auf dem europäischen Festland mitbegründeten, soll ein Dreieck entstehen, das auf den Eckpunkten Wirtschaftswachstum, Umweltschutz und Wohlstand für möglichst viele Menschen basiert. Der Anfang ist gemacht. Mithilfe ansässiger Unternehmen und Konzerne hat Circular Valley begonnen, erste vielversprechende Blüten zu treiben. Auf dem Gelände von Vorwerk im Wuppertaler Stadtbezirk Laaken, just dort, wo der weltberühmte Küchenhelfer Thermomix vom Band läuft, ist ein sogenannter Accelerator entstanden. Das Vorwerk-Gebäude gibt bis zu 20 Start-ups aus aller Herren Länder Raum und finanzielle Ressourcen, um Produkte und Konzepte zu entwickeln, die im Sinne des Dreiecks wirken könnten.

Dabei geht es beispielsweise um die Wiederverwertung von abgenutzten Autoreifen, um die Erzeugung chemischer Produkte aus dem Kohlendioxid, das in der Luft vorhanden ist. Es geht unter anderem darum, Elektroschrott zu annähernd 100 Prozent wiederzuverwerten und Nahrungsmittel auch gegen Ende ihrer Haltbarkeit noch zu nutzen und nicht auf den Müll zu werfen.

Eine industrielle Revolution?

Carsten Gerhardt spricht von einer neuen industriellen Revolution. Und für ihn ist es eine historische Chance, dass sie dort ihren Ursprung nehmen kann, wo einst ein Zentrum der linearen, also der Ressourcen verbrauchenden Einbahnstraßenwirtschaft auf dem europäischen Festland gewesen ist. Seine Geschäftsstelle hat Circular Valley schließlich in einem umgebauten Gasometer im Stadtteil Heckinghausen gefunden, kaum einen Steinwurf von der Stelle entfernt, an der Friedrich Bayer und Johann Friedrich Westkott mit neu entwickelten Farben den Grundstein zur heutigen Bayer AG legten. „Es ist ein riesiges Zukunftsthema, das wir jetzt anpacken können. Kein Ort der Welt kümmert sich um hochwertige Recyclinglösungen und neue Geschäftsmodelle der zirkulären Wertschöpfung. Wenn es wo gelingen kann, dann hier“, sagt Gerhardt.

Silicon Valley – Circular Valley. Die phonetische Verwandtschaft ist kein Zufall. Von Wuppertal soll ein weltumspannender Prozess ausgehen. Eben so wie vom Silicon Valley, das Basis und Motor von Digitalisierung und künstlicher Intelligenz ist. Deshalb haben Gerhardt und seine Unterstützer ihr Projekt von vornherein auch international angelegt. Die Erfindung der perfekten Kreislaufwirtschaft ist für eine Stadt allein ein paar Nummern zu groß. Aber das Thema ist brisant und erkannt. Und NRW ist mit seiner Wirtschaftskraft sowie seiner dichten Bildungslandschaft ein vielversprechender Ausgangspunkt. Es kommt nicht von ungefähr, dass Konzerne wie Vorwerk, Bayer, Evonik, Unternehmen wie die Kirchhoff Gruppe, das Duale System Deutschland, aber auch Banken und Versicherungen längst mehr als ein Auge auf das geworfen haben, was da in Wuppertal im Werden ist. Kreislaufwirtschaft, die Wiederverwertung von Rohstoffen, ist das Thema der Zukunft, wenn es um ressourcenschonendes Wachstum und den Kampf gegen den Klimawandel geht. Deshalb sind Unternehmen bereit, bis zu sechsstellige Beträge beizusteuern, um als Sponsor oder Partner Teil des Circular Valley sein zu dürfen.

Am Ende geht es auch ums Geld

Das Land Nordrhein-Westfalen und das Bundeswirtschaftsministerium subventionieren das ambitionierte Projekt mit Millionen. NRW-Wirtschaftsminister Andreas Pinkwart (FDP) ist im politischen Raum einer der ganz großen Unterstützer. Schließlich besteht eine realistische Aussicht darauf, dass aus dem idealistisch-ideologischen Ansatz wirtschaftlicher Erfolg für ganz Deutschland und gar für Europa erwachsen kann. Am Ende geht es eben schnöde auch um Geld. Und für Wuppertal geht es darum, mit einer zukunftsträchtigen Idee endlich an seine goldene Vergangenheit anzuknüpfen. 

Lothar Leuschen
Lothar Leuschen, RC Wuppertal, ist Chefredakteur der Westdeutschen Zeitung. Der Wahl-Wuppertaler ist bekennender Gladbacher Borusse und seit 2013 leidenschaftlicher Rotarier.