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Abenteurer, Hasardeur, Entdecker

Titelthema - Abenteurer, Hasardeur, Entdecker
Abenteurer im Namen der Wissenschaft: „Alexander von Humboldt und Aimé Bonpland am Orinoco“ (Gemälde von Eduard Ender, 1856) © akg-images

Alexander von Humboldt und seine Wissenschaft aus erster Hand

Rüdiger Schaper01.09.2019

Es dreht sich um ein äußerst seltenes Phänomen. Eine Persönlichkeit, die im 18. Jahrhundert geboren wurde, vor 250 Jahren, wird jetzt neu erkundet, wird gegenwärtig neu bewertet und dabei für viele Menschen überhaupt erst einmal angemessen dargestellt und gewürdigt. Alexander von Humboldt (1769–1859) läuft auf allen Kanälen. Es ist kaum zu glauben: Eine neue Ausgabe seiner kleineren Schriften ist gerade erschienen, 6000 Seiten, vieles davon bisher noch nie in dieser Form oder vergriffen, ein editorisches Meisterwerk bei dtv. Und vieles davon ist selbst für Humboldt-Kenner neu. Es gibt eine junge, hoch aktive Humboldt-Wissenschaft, weltweit vernetzt. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier war im Februar auf Humboldt-Tour in Kolumbien und Ecuador. Humboldt als Botschafter von Fortschritt und Frieden, Naturerhalt und kultureller Verständigung, so wird er von der Politik angenommen. Entdeckt wird eine Art Supermann, der mit höchstem persönlichen Einsatz eine, seine Weltmarke geschaffen hat. Der Preuße Alexander von Humboldt entspricht keinem Klischee, schon gar nicht dem militärisch-preußischen. Mit heutigen Begriffen würde man ihn als einen Extremsportler bezeichnen – ein Abenteurer der Wissenschaft, ein Hasardeur, dem die Gefahr wie eine Droge war. Humboldt konnte sich an sich selbst berauschen.

Fakten statt Weltbilder
Der Casiquiare im heutigen Venezuela ist ein natürlicher Kanal. Mit dieser Gabelung, der berühmten Bifurkation, bilden die beiden größten Flüsse Lateinamerikas ein gigantisches Wassersystem. Unter bestimmten Umständen gelangt Wasser aus dem Orinoco über den Casiquiare zum Amazonas. Auf kleineren Flüssen in diesem Bereich ist es sogar möglich, dass das Wasser in beide Richtungen fließt. Ein schönes Bild für Humboldts Hirnstrom, für sein Denken und seine Entdeckerfreude.
Während der Fahrt auf dem Orinoco schaute Humboldt in einem dreckigen Nest namens La Esmeralda zu, wie aus der Rinde von Schlingpflanzen das Pfeilgift Curare hergestellt wurde. Es tötet durch Muskellähmung. „Das Glück wollte, dass wir einen alten Indianer trafen, der eben damit beschäftigt war, das Curaregift zuzubereiten. Der Mann war der Chemiker des Ortes. Die größte Ordnung und Reinlichkeit herrschten in dieser als chemisches Laboratorium eingerichteten Hütte.“ Sogleich probierte Humboldt die zähe Flüssigkeit, die der alte Indianer in einem komplizierten Verfahren gewann. Dabei bestehe keine Gefahr, so Humboldt, „da das Curare nur dann tödlich wirkt, wenn es unmittelbar mit dem Blut in Berührung kommt.“ Die Curare-Verkostung steht in einer langen Reihe spektakulärer Humboldtscher Selbstversuche.
Die Experimente, die er als junger Mann an sich ausführte, wirken ebenso bedrohlich. Sie mündeten 1798 in der zweibändigen Publikation „Versuch über die gereizte Muskel- und Nervenfaser, nebst Vermutungen über den chemischen Prozess des Lebens in der Tier- und Pflanzenwelt“. Humboldt schnitt sich den Rücken auf und testete die Wirkung von Metallen auf der blutigen Haut. Zuvor hatte er Frösche, Mäuse und Eidechsen seziert, auf der Suche nach der animalischen Elektrizität, dem sogenannten Galvanismus. Den eigenen Leib traktierte er mit Chemikalien und Elektroden in den offenen Wunden, am Arm setzte er das Skalpell an, das Vorgehen hatte etwas Autorerotisches.
Es verweist auch schon auf das zu seiner Zeit so fortschrtittliche, ja unerhörte Humboldt-Prinzip: Viele Erkenntnisse gewann er aus eigener Anschauung, auf eigenen Beinen. Die Grundbesitzer in den spanischen Kolonien ließen sich von den Ureinwohnern tragen, Humboldt war empört darüber und ging zu Fuß. Landschaften und Menschen musste er unmittelbar physisch erfahren. Darin unterscheidet er sich maximal von den anderen großen Geistern seiner Zeit. Kant oder Goethe und später auch Karl Marx erkundeten die Welt vom Schreibtisch aus und riskierten dabei überhebliche Irrtümer. Alexander von Humboldt aber ging dahin, wo noch keiner war. Er warf sein Leben in die Waagschale, als hätte er sechs oder sieben davon. Der kolumbianische Philosoph und Priester Vicente Durán Casas wies kürzlich auf ein signifikantes Beispiel für den Mentalitätswechsel hin, den Humboldt eingeleitet hat: „Immanuel Kant erwähnt in seiner ,Physischen Geographie‘ den Wasserfall vom Rio Bogotá in Südamerika, der als Salto del Tequendama bekannt ist und in der Nähe der Hauptstadt Kolumbiens, bei Bogotá, liegt. Dabei behauptet Kant, das sei der höchste Wasserfall der Welt, was aber nicht stimmt.“ Alexander von Humboldt hingegen besuchte den Salto 1801, kurz bevor Kants „Physische Geographie“ veröffentlicht wurde, und hat dabei den Wasserfall relativ exakt vermessen. Das ist der entscheidende Unterschied. Eigenhändig erworbene Fakten statt ausgedachter Weltbilder. Noch mit über achtzig Jahren hat er den preußischen König auf Urlaubs- und Erholungsreisen begleitet.

Preußens Kolumbus
Dieser Drang zum unmittelbaren Erleben, die Notwendigkeit der eigenen Anschauung begann bei Humboldt früh. Offenbar liebte er den riskanten Einsatz. Anders konnte er seiner Profession nicht nachgehen. Als junger preußischer Oberbergmeister in Franken, mit 24 Jahren, wäre er um ein Haar in einem Stollen erstickt. Er delirierte schon, als er aufgefunden und nach oben gebracht wurde. Wenige Jahre später, bei einer Flussfahrt auf dem Orinoco, drohte das Boot des preußischen Kolumbus zu kentern. Humboldt konnte nicht schwimmen, und im Wasser waren Krokodile. Mit knapper Not kam er davon – nicht anders, als bei einer Vulkanbesteigung in den Anden eine Schneewand unmittelbar neben ihm abbrach und in die Tiefe stürzte. Ohne Ausrüstung kletterte er auf Fünf- und Sechstausender. Auf einer Überfahrt von Havanna nach Cartagena entging sein Schiff mit Glück einer Havarie. Im Dschungel hatte er eine Begegnung mit einem Jaguar, die glimpflich verlief. Humboldt wusste solche Episoden geschickt einzustreuen, im Gespräch und in seinen Texten.
Das lange, fast 90-jährige Leben des Forschers und Schriftstellers steckt voller Beinahe-Fatalitäten und Unternehmungen, die jeder Vernunft zuwiderlaufen. Ein letztes Beispiel: Mit 57 Jahren bestieg Alexander von Humboldt im Stil eines Ex- tremsportlers eine Taucherglocke und ließ sich auf den Grund der Themse herabsinken. Die Londoner bauten den ersten Tunnel unter dem Fluss. Es war stockfinster und eiskalt dort unten in der Kloake. Die Glocke erreichte eine Tiefe von elf Metern, über einen Lederschlauch wurden die Insassen mit Atemluft versorgt. Humboldt hatte Kopfschmerzen, er blutete wegen der Druckschwankungen aus der Nase – und erinnerte sich an seine irrsinnigen Touren in Lateinamerika und hatte gute Laune.
Humboldt hat Natur- und Geisteswissenschaften auf exemplarische Weise zusammengebracht. Das entwickelt heute wieder eine starke Anziehungskraft. Es inspiriert Künstler ebenso wie Wissenschaftler. Ihm ging es, wie er im ersten Band des „Kosmos“ schrieb, um die „tiefere Einsicht in das Wirken der physischen Kräfte“ und wie sie zusammenhängen, schließlich: „Alles ist Wechselwirkung“. So vieles in seinem scheinbar minutiös durchorganisierten Arbeitsleben war Zufall. Vor der Abreise nach Amerika verfolgte er auch ganz andere Pläne. Er wollte nach Ägypten, dann weiter nach Asien, aber das alles zerschlug sich.
Es fügte sich glücklich, als die spanische Krone ihm und seinem Kollegen Aimé Bonpland 1799 überraschend Pässe für die Neue Welt ausstellte. Die Spanier erhofften sich von dem äußert selbstbewusst und zugleich diplomatisch auftretenden Bergbauexperten eine neue Expertise für ihre schlecht organisierten Silberminen in den Kolonien. Humboldt hatte darauf spekuliert, aber nicht damit rechnen können. Dieses freie, radikale Element zeichnete Humboldts ganze Existenz aus. Er besaß ein unglaubliches Gespür für den Moment, wenn es ums Zupacken und Aufbrechen ging.
Humboldt kultivierte die berechnende Bewunderung und die bewundernde Berechnung. Es erstaunt immer wieder, wie klar und deutlich Humboldt seine Ziele formulierte. Ich reise, also bin ich. Auch wenn er dann später in Paris im Institut arbeitete oder in Berlin in seiner Wohnung, verharrte er in einem permanenten Reisemodus. „Er segelte mit der Zuversicht eines Mannes, der da weiß, dass er finden muss, was er sucht.“ So hat Alexander von Humboldt 1799 bei seiner Abfahrt aus Spanien nach Lateinamerika Christoph Kolumbus charakterisiert – und damit sich selbst. Er hat keine welterschütternde Theorie hinterlassen wie Charles Darwin, der ihn verehrte. Er offerierte vielmehr ein intellektuelles Werkzeug, offene Denkformen, die sich im Globalisierungsschub des frühen 21. Jahrhunderts als erstaunlich nützlich erweisen.

Projektionsflächen
Dabei gibt es nicht einen, sondern viele Humboldts, viele Projektionsflächen. Man sieht den deutschen Forscher und Denker, der im Dschungel spanischer Kolonien zu sich selbst findet, den in Berlin geborenen Autor, der viele seiner Bücher auf Französisch verfasst. Man verfolgt den Europäer, der ein Drittel seines Lebens in Paris verbrachte und sich bis ins hohe Alter – nach eigenen Worten – als halber US-Amerikaner fühlte. Er verband Orte mit Menschen und Menschen mit Reisen, die Erledigung einer Sache ging einher mit zehn neuen Geschäften und Ideen; eine Entdeckung führte zur nächsten Serie von Experimenten. Vieles ist ihm jedoch auch missglückt, so viele Reisepläne in Richtung Asien hat er nicht realisiert. Nach Indien kam er nie, weil die Engländer ihm den Pass verweigerten. Die Kolonialmacht betrachtete ihn als Störenfried, fürchtete seine scharfe Beobachtungsgabe und sein soziales Gewissen, die Sklavenwirtschaft war ihm ein Gräuel. Seine Schriften fanden im 19. Jahrhundert weltweite Verbreitung.
Bald machten sich jüngere Reisende auf den Weg, mit Humboldt im Gepäck die Welt zu erkunden. Wenn er konnte, hat er sie auch materiell unterstützt. Mit seiner unstillbaren Neugier und Generosität ruinierte er seine privaten Finanzen. Seine Gesundheit, wenn man ihm glauben darf, denn da war er doch preußisch-diszipliniert, blieb dennoch bis ins hohe Alter eisern gut.

Rüdiger Schaper
Rüdiger Schaper ist Ressortleiter Kultur des Tagesspiegel. Im August 2019 erschien bei Pantheon „Alexander von Humboldt. Der Preuße und die neuen Welten“.
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