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Über das zunehmende Interesse angelsächsischer Historiker an der deutschen Geschichte

Ermunterung von außen

Während sich die großen Arbeiten deutscher Historiker in jüngster Zeit der allgemeinen Weltgeschichte widmeten, legten ihre britischen und amerikanischen Kollegen immer wieder neue impulsgebende Werke zur deutschen Geschichte vor. Anmerkungen zu einer nachdenklich stimmenden Entwicklung

31.10.2015

„Willkommen auf meiner Reise durch Ihr Land und seine Geschichte.“ Mit diesen Worten begrüßte der Historiker Christopher Clark im März 2014 erstmals die Zuschauer zum Auftakt seiner sechsteiligen „Deutschland-Saga“ im ZDF. In einem roten Käfer-Cabriolet fuhr er zu wichtigen Orten der Geschichte, um – wie er in tadellosem Deutsch mit einem nur ganz kleinen Akzent erzählte – die Deutschen und ihr Land zu erforschen und ihnen „ihre Saga durch die Jahrtausende zu erzählen“. Millionen Zuschauer sahen ihm dabei zu. Fortsetzungen folgten, zuletzt im Oktober 2015 zum 25. Jahrestag der Deutschen Einheit.

Wie kommt es, dass ein in Cambridge lehrender Australier den Deutschen ihre Geschichte erklärt? Ein Gag? Vielleicht. Schließlich zeigt das ZDF auch sonst in seiner Sendereihe „Terra X“ allerlei Wissenswertes über unsere Geschichte und Kultur. Warum nicht also ein Angelsachse, der mit dem Blick von außen der Frage nachgeht, warum dieses Land so reich an Dichtern, Denkern und Komponisten ist?

Zuspruch von unerwarteter Seite

Doch Clark ist nicht irgendwer. Schon zweimal war es ihm gelungen, mit großen Arbeiten die Gewissheiten (wenn nicht gar Dogmen) vor allem deutscher Historiker zu erschüttern. Im Jahre 2007 räumte er in „Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600–1947“ mit den Klischees auf, dass der Hohenzollernstaat die Ursache für das deutsche Verderben in zwei Weltkriegen gewesen sei. Und 2013/2014 stieß Clark dann mit seinem Buch „Die Schlafwandler. Wie Europa in den Ersten Weltkrieg zog“ eine europaweite Debatte über den Ausbruch des „Großen Krieges“ an und verneinte dabei die deutsche Alleinverantwortung.

Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von Arbeiten, in denen angelsächsische Autoren den Deutschen ihre Geschichte erzählen. Das prominenteste Beispiel dafür ist der Schotte Neil MacGregor, der in seinem Begleitband zur Londoner Ausstellung „Deutschland. Erinnerungen einer Nation“ mit großem Interesse und faszinierter Anteilnahme das Schicksal unseres Landes und seiner Bewohner darstellt (eine ausführlichere Rezension erschien in der letzten Ausgabe des Rotary Magazins).

Der Kulturhistoriker Peter Watson wiederum legte im Jahre 2010 mit dem Band „Der deutsche Genius“ in beeindruckender Fülle eine fast schon liebevolle „Geistes- und Kulturgeschichte von Bach bis Benedikt XVI.“ vor, in der er vom Aufstieg und Niedergang des deutschen Bildungs­bürgertums ebenso erzählte wie von den Leistungen der „Herren des Metalls“ Krupp, Benz, Daimler, Diesel, Rathenau oder vom „Goldenen Zeitalter“ des Denkens in der Weimarer Republik. Nicht zu vergessen an dieser Stelle ist Joachim Whaley, dessen Monographie „Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation“ eine breit angelegte Darstellung der politischen, kulturellen und administrativen Entwicklung des Alten Reiches vom Ausgang des Mittelalters bis Napoleon ist. Ein Werk, das derzeit in Deutschland seinesgleichen sucht.

Neben den Gesamtdarstellungen bieten auch Studien zu einzelnen Teilaspekten interessante Perspektiven, etwa Keith Lowe, der in seinem Buch „Der wilde Kontinent“ gezeigt hat, dass auf das Ende des Zweiten Weltkriegs in Europa zunächst kein hoffnungsvoller Neuanfang folgte, sondern eine Zeit des Chaos. Oder Margaret L. Anderson, die in ihrer 2009 auf Deutsch erschienenen Studie „Lehrjahre der Demokratie. Wahlen und politische Kultur im Deutschen Kaiserreich“ darlegte, dass auch der Bismarck-Staat trotz mancher Mängel eine lebendige politische Kultur etabliert hatte.

Sicher: Diese Arbeiten sind allesamt nicht entstanden, um den Deutschen eine Freude zu bereiten. Insbesondere für Watson, aber auch für Whaley oder MacGregor, stand vielmehr das Erschrecken über die britische Ahnungslosigkeit in Sachen deutscher Geschichte am Beginn ihrer Recherchen. Und doch können die genannten Werke durchaus als ein Geschenk von unerwarteter Seite betrachtet werden.

Deutsche Weltflucht

Letzteres vor allem, weil parallel zum Interesse angelsächsischer Historiker an dem Land in der Mitte Europas sich ihre deutschen Kollegen eher der allgemeinen Weltgeschichte gewidmet haben. Beispiele dafür sind u.a. Heinrich August Winkler, der zuletzt eine opulente „Geschichte des Westens“ verfasste, oder Jürgen Osterhammel, von dem 2011 mit „Die Verwandlung der Welt“ eine ebenso opulente Geschichte des 19. Jahrhunderts erschien, oder die bei C.H. Beck verlegte zehnbändige „Geschichte Europas“, deren Beschreibung der wichtigsten Entwicklungen der letzten Jahrhunderte ausdrücklich nicht aus nationalstaatlicher Sicht erfolgen soll.

Sicher: Das Hinterfragen von Blickwinkeln auf die Vergangenheit gehört zu den Grundlagen eines jeden Historikers. Doch steckt hinter diesen Arbeiten nicht einfach nur der Wunsch, einmal eine andere Position einzunehmen, sondern eine bewusste Abkehr von dem nationalen Paradigma in der Erzählung der Geschichte des eigenen Landes. Dass diese Umorientierung nicht nur einzelne Autoren betrifft, zeigt zum Beispiel die Humboldt-Universität zu Berlin. Dort, wo man vollständig von deutscher Geschichte umgeben ist, tragen die Lehrstühle mittlerweile Namen wie „Europäische Geschichte der Frühen Neuzeit“, „Europäische Geschichte des 19. Jahrhunderts“, „Europäische Geschichte des 20. Jahrhunderts“, „Geschichte Osteuropas“ sowie „Geschichte Westeuropas und der transatlantischen Beziehungen“. Der einzige Lehrstuhl, der explizit der Historie des eigenen Landes gewidmet ist, heißt „Deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert mit Schwerpunkt im Nationalsozialismus“. Dass es daneben auch noch einen Lehrstuhl für Preußische Geschichte gibt, ist lediglich der Alfred Freiherr von Oppenheim Stiftung zu danken, die dafür die Professur gestiftet hat.  

Angst vor bösen alten Geistern

Um die Dimension dieser Entwicklung verstehen zu können, muss man wissen, dass die Humboldt-Universität für Historiker nicht irgendeine beliebige Hochschule ist. In diesem Hause begründete Wilhelm v. Humboldt das moderne universitäre Bildungsideal; hier war die akademische Heimat von Philosophen wie Johann Gottlieb Fichte, Georg Friedrich Wilhelm Hegel, Friedrich Schleiermacher oder auch Karl Marx. Und es war die Wirkungsstätte von Historikern wie Leopold von Ranke, Heinrich von Sybel oder Johann Gustav Droysen, die im 19. Jahrhundert auf verschiedene Weise die Grundlagen der Geschichtswissenschaft geschaffen haben. Und in einem solchen Hause soll die deutsche Geschichte nur noch eine Nebenrolle spielen? Darauf muss man erst einmal kommen.

Über die Ursachen dieser Flucht aus der eigenen Vergangenheit – anders kann man es kaum nennen – lässt sich nur spekulieren. Hängt sie mit der Unsicherheit zusammen, in die unser Land seit dem Ende der Ost-West-Konfrontation geraten ist? Die jahrzehntelange Teilung des Vaterlandes war ja von vielen nicht nur als gerechte Strafe für die Verbrechen der NS-Diktatur empfunden worden; sie bot den beiden Teilstaaten auch die Gelegenheit, sich im Schatten der Supermächte UdSSR und USA aus der Weltpolitik herauszuhalten. Tatsächlich warnten 1990 Historiker – u.a. Hagen Schulze in seinem Essay „Die Wiederkehr Europas“ – vor dem Wiedererwachen der selbstzerstörerischen Kräfte des Nationalismus.

Die letzten 25 Jahre haben jedoch gezeigt, dass die Sorgen vor einem vereinigten Deutschland nicht nur unberechtigt waren; ganz im Gegenteil wurde angesichts der europäischen Krisen immer wieder der Ruf nach deutscher Führung laut. Es sind also keinesfalls nur angelsächsische Historiker, die uns nicht aus unserer eigenen Geschichte entlassen wollen, sondern vor allem die Wirklichkeit. Insofern lassen sich die oben genannten Arbeiten auch als Ermutigung an die deutschen Historiker interpretieren, sich wieder stärker der eigenen Geschichte zuzuwenden – als Grundlage für das Selbstverständnis unseres Landes in der Gegenwart.

Hoffnungsvoll kann stimmen, dass sich jüngere Historiker wie Wolfram Pyta, Sönke Neitzel oder Christoph Nonn wieder stärker dem eigenen Land und seinen Themen zuwenden. Zu hoffen bleibt freilich, dass sie sich gegen die oben beschriebenen Entwicklungen behaupten können. Ansonsten werden die Deutschen eines Tages ganz darauf angewiesen sein, dass sie hin und wieder im Fernsehen von einem freundlichen Herrn mit angelsächsischem Akzent dazu eingeladen werden, ihr eigenes Land zu entdecken.