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Berufliche Bildung

Auf brüchigem Fundament

15.05.2015

Die Welt entdeckt das deutsche System der beruflichen Bildung – und Deutschland wrackt es ab? Jahrzehntelang wurde Deutschland von Seiten der OECD und anderer wirtschaftsnaher Institutionen, aber auch von Bildungstheoretikern seine niedrige Akademikerquote vorgehalten. Dies blieb lange ohne Wirkung. In Deutschland hatte in den späten 60er und frühen 70er Jahren eine starke Bildungsexpansion stattgefunden, aber seitdem stagnierten die Zahlen. Erst jetzt, seit etwas mehr als einer Dekade, zeitigt die Propaganda Wirkung: Das Abitur als Regelabschluss, das Studium als Normalfall. Unverdrossen gibt es immer noch Stimmen, die beklagen, dass Deutschland trotz der Verdoppelung des Anteils von Schulabgängern mit Hochschulzugangsberechtigung immer noch nicht auf Länder wie Großbritannien oder Korea aufgeschlossen habe. Zugleich aber wird den Menschen, auch den bildungspolitisch Verantwortlichen, erst jetzt klar, welche Folgen diese Entwicklung hat, nämlich den absehbaren Ruin der stärksten Seite des deutschen Bildungssystems, nämlich der beruflichen Bildung, zumal im dualen System.

Das Bundesinstitut für berufliche Bildung prognostiziert für die nächsten Jahre bis 2030 einen wachsenden Mangel an Lehrlingen und zugleich einen wachsenden Überhang an Akademikern. Die Zahlen sind durchaus dramatisch: In einem Zeitraum von zwanzig Jahren (2010–2030) werden insgesamt über vier Millionen Arbeitsplätze im Bereich nicht-akademischer Fachkräfte nicht wieder besetzt werden können, während der Bedarf nach Akademikern trotz der demographischen Schrumpfung vom Angebot weit (um mehr als eine Million) übertroffen wird. Andere Schätzungen kommen zu ähnlichen Ergebnissen und die Entwicklung in jüngster Zeit ist besorgniserregend: Überall wird nach nicht-akademischen Fachkräften und zunehmend auch nach Lehrlingen gesucht, immer mehr Stellen bleiben unbesetzt. Allen Verantwortlichen muss klar sein: Wenn diese Entwicklung so weitergeht, ist das duale System, das im Ausland so viel gelobte Modell der beruflichen Bildung, in Deutschland nicht zu retten.

Ein deutsches Erfolgsmodell

Der Grund für die neue internationale Aufmerksamkeit auf die Besonderheit des deutschen Bildungssystems, das es so nur noch in Österreich, der Schweiz und Dänemark gibt, hat einen einfachen Grund: Es ist die auffällig niedrige Jugendarbeitslosigkeit in diesen drei Ländern. Was ich der OECD, dem CHE (Centrum für Hochschulentwicklung), McKinsey und den begleitenden Stimmen aus der Bildungstheorie vorwerfe, ist, dass sie trotz aller fleißiger Sammlung von Daten und der regelmäßigen Präsentation interessanter Statistiken ihre Bewertungsgrundlagen nie geklärt haben. Nach welchen Maßstäben bewerten wir den Erfolg oder den Misserfolg eines Bildungssystems? Ich denke, es sind im Wesentlichen drei Wertmaßstäbe: Erstens: Trägt das Bildungssystem dazu bei, dass junge Menschen gut in einen Beruf finden? Zweitens: Ermöglicht es eine inklusive Gesellschaft, eine Gesellschaft, die nicht ausgrenzt, sondern einbezieht, die sozial mobil und demokratieverträglich ist? Und drittens: Wird zu Persönlichkeiten gebildet, die in der Lage sind, auch in schwierigen Situationen ihr Leben zu meistern, Autorin oder Autor ihres Lebens zu sein?

Nach dem ersten Kriterium haben die drei genannten Länder mit niedriger Akademikerquote (Deutschland hat über alle beruflich aktiven Jahrgänge hinweg eine durchschnittliche Akademikerquote von gegenwärtig 17 Prozent, Österreich liegt noch darunter) eine ungewöhnlich niedrige Jugendarbeitslosigkeit. Das viel gelobte Bildungsland Großbritannien mit zwei in der Tat bewundernswerten Spitzenuniversitäten, einer doppelt so hohen Akademikerquote wie Deutschland, einer Studienanfängerquote von gegenwärtig 64 Prozent hat bei vergleichbaren ökonomischen Bedingungen eine mehr als doppelt so hohe Jugendarbeitslosigkeit wie Deutschland. Der OECD-Durchschnitt liegt bei 20 Prozent, in Deutschland, Österreich und der Schweiz bei weniger als der Hälfte. Dies ist der Grund für die neue Aufmerksamkeit auf das deutsche System der beruflichen Bildung in anderen Ländern der Welt. Obama hat ein Berufsbildungszentrum in den USA eingeweiht, in Spanien wird versucht, das deutsche System zu kopieren, andere Länder werden nachfolgen. Und wir wracken es ab?

Merkwürdige Begabungstheorie

Weiter wird unverdrossen die Botschaft verbreitet, das Abitur sollte zur Regel werden und das Studium das von allen angestrebte Ziel sein. Dann blieben nur diejenigen für eine Ausbildung im dualen System, die auf diesem Wege irgendwo gescheitert sind. Welche merkwürdige Begabungstheorie liegt eigentlich der Annahme zugrunde, dass diejenigen, die im Gymnasium scheitern, die besten Handwerker, Kaufleute, Techniker, Erzieherinnen … werden? Wir brauchen in beiden Bereichen, dem der akademischen und dem der beruflichen Bildung, das gesamte Begabungsspektrum. Ein Bildungssystem, das allen den gleichen Weg in den Beruf, nämlich über Abitur und Studium, als Ziel vorgaukelt, das am Ende aber nur ein Teil erreichen kann, produziert zu viele Bildungsverlierer und Gescheiterte.

Aber wie steht es um das zweite von mir oben genannte Bewertungskriterium, das der Inklusion und der sozialen Mobilität? Ist nicht die in der Vergangenheit so starke Stellung der beruflichen, nicht-akademischen Bildung verantwortlich für ein hohes Maß an Bildungsselektivität? Müssen wir nicht schon deswegen den Akademikeranteil gegenüber dem heutigen Niveau (16 Prozent) verdreifachen, um soziale Mobilität zu sichern? Man könnte das glauben, aber es ist – empirisch belegbar – falsch. Deutschland gehört trotz der immer noch starken Stellung beruflicher, nicht-akademischer Bildung und der starken Stellung der Facharbeiterschaft zu den Ländern mit der am stärksten ausgeprägten sozialen Mobilität der Welt. Soziale Mobilität hängt ganz offenkundig von der Verteilung der Einkommen ab. Ist diese ungleich, ist die soziale Mobilität niedrig. Deutschland gehört zu den Ländern mit vergleichsweise geringen Einkommensungleichheiten nach staatlicher Umverteilung durch Steuern und Abgaben. Dies ist vermutlich eine der Ursachen dafür, dass die soziale Mobilität in Deutschland höher ist als in fast allen anderen westlichen Industrieländern, ausgenommen den skandinavischen. Und die zweite Ursache ist, dass die Mittelschicht in Deutschland sich nicht nur aus Akademikern zusammensetzt, wie etwa in den USA, sondern eben auch aus erfolgreichen nicht-akademischen Fachkräften. Die uferlose Ausweitung der Akademikerquote ist als Instrument sozialer Inklusion unter den heutigen Bedingungen ungeeignet. Die Länder, die diesen Weg gehen, bezahlen dies mit hoher Jugendarbeitslosigkeit, wachsender unterwertiger Beschäftigung, Verdrängung nicht-akademischer Fachkräfte aus ihren angestammten Berufen und mit dem Verlust praktischer Kompetenzen.

Stimmungsumschwung?

Wir sollten die Stärken des deutschen Bildungssystems nicht abwracken, sondern fortentwickeln. Die berufliche Bildung bedarf eines höheren Anteils an Allgemeinbildung und Wissenschaftsorientierung, sie bereitet auf anspruchsvolle Berufe vor, in denen Kreativität und Weltoffenheit unverzichtbar sind. Die Bundesregierung hat sich – zum ersten Mal in einem Koalitionsvertrag – die Förderung der beruflichen Bildung auf die Fahnen geschrieben. Es zeichnet sich ein Stimmungsumschwung ab. Es sind überwiegend die Theoretiker, die an den alten Parolen festhalten, die Praktiker spüren dagegen täglich die problematischen Auswirkungen des verbreiteten Akademisierungswahns. Beides wird beschädigt: Die berufliche, wie die akademische Bildung. Die Sozialistische Partei Frankreichs hat in den 1980er Jahren die OECD-Empfehlungen noch übertroffen und sich das Ziel gegeben, 80 Prozent zur Jahrtausendwende zum Studium zu führen. Heute, vierzehn Jahre später, haben in der Tat drei Viertel eines Jahrgangs die Hochschulzugangsberechtigung (das Baccalauréat) und die Hälfte von diesen scheitert im Studium. Korea hat eine Studierendenquote von 70 Prozent und 30 Prozent Jugendarbeitslosigkeit. Singapur (ein weiterer PISA-Champion) hat eine Studierendenquote von 30 Prozent und keine Jugendarbeitslosigkeit. Man kann nur hoffen, dass die Bildungspolitik und ihre Berater diese Realitäten zur Kenntnis nehmen und eine Trendumkehr einleiten, deren Motto sein sollte: Gleicher Respekt vor unterschiedlichen Begabungen und Interessen, kein Akademikerdünkel, Ende des Akademisierungswahns.