https://rotary.de/clubs/distriktberichte/die-erkenntnis-der-weisen-a-8443.html
Brief des Präsidenten

Die Erkenntnis der Weisen

29.12.2015

Es gibt in meiner Hindu-Tradition eine Geschichte über die zwei Weisen, Shaunaka und Abhipratari. Sie verehrten Prana, den Windgott. Eines Tages, als die beiden gerade beim Mittagessen saßen, klopfte ein armer Student an die Tür und bat um etwas zu essen. „Stör uns jetzt nicht zu dieser Stunde, Junge“, war die barsche Antwort. Der Student war überrascht, aber auch sehr hungrig. Daher blieb er beharrlich. „Sagen Sie mir, verehrte Herren, welche Gottheit Sie verehren?“ „Prana, den Windgott“, antworteten sie ungeduldig. „Wissen Sie, dass die Welt mit dem Wind beginnt und endet und dass der Wind das gesamte Universum durchdringt?“ „Natürlich wissen wir das“, erwiderten die beiden Weisen, nun schon sehr verärgert durch ihren aufdringlichen Besucher. „Nun, also“, fuhr der Student fort, „wenn Prana das Universum durchdringt, dann so auch mich, denn ich bin Teil des Universums. Er ist also auch in diesem hungrigen Körper, der vor Ihnen steht und um etwas zu essen bittet. Indem Sie also mir die Speise verweigern, verweigern Sie sie derselben Gottheit, die Sie zu verehren vorgeben.“

Die Weisen erkannten, dass der Student die Wahrheit sagte, und luden ihn ein, an ihrer Mahlzeit teilzuhaben. Denn in diesem Moment verstanden sie: Indem sie ihre Türe jemandem öffneten, der ihre Hilfe brauchte, halfen sie nicht nur dieser einzelnen Person – sie dienten einem viel größeren Ziel.    

Unsere Rotary-Erfahrung beschränkt sich in den meisten Fällen auf unsere eigenen Gemeinwesen. Wir treffen uns jede Woche im Club, am selben Ort, wir freuen uns über dieselben Gesichter. Und während die meisten von uns in irgendeiner Form auch im internationalen Dienst engagiert sind, so fühlt sich Rotary für uns doch als eine sehr lokale Angelegenheit an. Da mag es leicht sein, die Gesamtheit unserer Dienste aus den Augen zu verlieren – das, was unser Dienst wirklich bedeutet.

Jede noch so kleine Wirkung, die Sie als Rotarier/in erzielen, als Einzelperson oder im Clubverbund, multipliziert sich durch unsere Anzahl. Wenn Sie hungrigen Menschen zu essen geben, wenn Sie jemandem Lesen und Schreiben beibringen, wenn Sie ein Kind vor Krankheit bewahren, dann scheint die Wirkung nur gering zu sein. Das Gegenteil ist der Fall. Denn die kollektive Wirkung, die wir uns erwünschen, geschieht durch unsere Anzahl. Doch letztlich basiert unsere Wirkung nur auf der individuellen Aktion jedes Einzelnen, nur durch unsere ganz persönliche Gabe können wir der Welt ein Geschenk sein.