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Debatte

...in keinem Fall antisemitisch

Debatte - ...in keinem Fall antisemitisch
Micha Brumlik © Ullstein Bild - Boness/Ipon

Der Israelexperte Prof. Dr. Micha Brumlik hält die Vorwürfe gegen Achille Mbembe für haltlos. Für ihn sind dessen Aussagen ...

01.06.2020

Herr Brumlik, Sie haben als einer der Ersten den Aufruf für Achille Mbembe unterschrieben, der sich in Deutschland dem Vorwurf des Antisemitismus ausgesetzt sieht. Welches Signal wollen Sie damit setzen?

Dass es nicht angeht, den Vorwurf des Antisemitismus so weit zu inflationieren, dass er damit letztlich gehaltlos wird und dass damit und dahinter die tatsächlich weit verbreitete reale Judenfeindschaft verschwindet.
Die Positionen Mbembes zu Palästina sind gewiss diskussionswürdig und in manchem bestreitbar, aber in keinem Fall antisemitisch.

Worum geht es Ihrer Meinung nach in dieser Debatte? Um Mbembe selbst oder um eine politisch umstrittene Intendantin der Ruhrtriennale, die man auf diese Weise loswerden wollte?

Frau Carp hat sich schon früher dadurch unbeliebt gemacht, dass sie eine Musikgruppe eingeladen hat, die sich der BDS-Kampagne angeschlossen hat; in diesem Jahr nun hat die nordrhein-westfälische FDP erfolgreich versucht, sich über die Angriffe auf Carp und Mbembe zu profilieren.

Mbembe hat sich gegen die aktuellen Vorwürfe entschieden verwahrt. Sie kennen seine Bücher. Gibt es ‚bei ihm eine Nähe zu antisemitischem Gedankengut oder gar explizit antisemitische Tendenzen, wie seine Kritiker in Deutschland sagen?

Eine solche Nähe zu antisemitischem Gedankengut oder gar Tendenzen gibt es in seinen Publikationen definitiv nicht. Ich darf darauf hinweisen, dass in seinem viel erwähnten Vorwort zu einem 2018 in den USA erschienenen Band „Apartheid Israel – The politics of an Analogy“ aus seiner Feder zu lesen ist: „Israel is entitled to live in peace. But Israel will be safeguarded only by peace in a confederal arrangement that recognizes reciprocal residency, if not citizenship.“ (Deutsch: Israel hat das Recht, in Frieden zu leben. Aber Israel wird nur durch Frieden in einer konföderalen Vereinbarung geschützt werden, die den gegenseitigen Aufenthalt, wenn nicht gar die Staats- bürgerschaft anerkennt.)

Der postkoloniale Diskurs, zu dessen Vordenkern er zählt, ist ja nicht frei von stereotypen Anschuldigungen gegenüber der „weißen“ Welt. Gibt es da womöglich Berührungspunkte und Überschneidungen mit antisemitischen oder antiisraelischen Denkmustern?

Nein, solche Überschneidungen gibt es nicht. Gleichwohl ist nicht zu bestreiten, dass postkoloniale Theoretiker für den Fall der Eroberung des karibischen Raums historisch zu Recht auf nicht ganz wenige jüdische Sklavenhändler verweisen. Zu erwähnen wäre auch, dass die jüdischen Gemeinden im US-amerikanischen Süden mehrheitlich und förmlich – im Unterschied zu jenen des Nordens – während des Bürgerkrieges das System der Sklavenhalterei unterstützt haben.

Auch der Vorwurf der Opferkonkurrenz steht im Raum. Werden da nicht verschiedene Dinge wie Kolonialismus und Antisemitismus in einen Topf geworfen und damit die historische Singularität des Holocausts infrage gestellt?

Auch das vermag ich nicht zu erkennen: Die weltgeschichtliche Singularität der Shoah in allen ihren Zügen – von totaler Entwürdigung bis zu fabrikmäßiger Ermordung von Menschen als Selbstzweck – ist unbestreitbar. Unbestreitbar ist aber auch, dass der Kolonialismus brutalste Genozide zu verantworten hat: etwa der vom Deutschen Reich begangene Völkermord an den Herero und Nama zu Beginn des 20. Jahrhunderts wie auch der Völkermord im damals belgischen Kongo, der beinahe zehn Millionen schwarze Bewohner das Leben gekostet hat.

Das Gespräch führte Johann Michael Möller.


Zur Person

Micha Brumlik ist Erziehungswissenschaftler und Publizist. Seit Oktober 2013 ist er Senior Advisor am Zentrum Jüdische Studien Berlin-Brandenburg und seit 2017 Seniorprofessor an der Goethe-Universität Frankfurt am Main.

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