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Debatte

Arbeit am Antisemitismusbegriff

Debatte - Arbeit am Antisemitismusbegriff
Aleida Assmann © Stefan Sahm/laif

Mit seiner afrikanischen Geschichte und ihren Traumata könnte Achille Mbembe uns dabei helfen, den Blick auf den Holocaust und die deutsche Identität zu erweitern.

01.06.2020

Deutschland hat nicht nur ein altes, sondern auch ein neues Antisemitismus-Problem. Die Identität der Deutschen ist vom Holocaust nicht abzulösen. Die Verantwortung für dieses Menschheitsverbrechen ist mit einer besonderen Verantwortung für den Staat Israel verbunden. Sie zeigt sich nicht nur als Teil der deutschen Staatsräson, sondern gerade auch in der engen Kooperation mit Menschen in diesem Staat und ihren Institutionen. Es grenzt an ein Wunder, dass Juden und Jüdinnen der dritten und vierten Generation nach dem Holocaust wieder in Deutschland leben und hier eine Grundlage für ihre Existenz gefunden haben. Umso erschütternder ist es, dass dieses jüdische Leben in Deutschland inzwischen in einer dramatischen Weise gefährdet ist. Das Tragen von Kippas macht Menschen zur Zielscheibe von verbalen und tätlichen Angriffen, jüdische Gemeindeeinrichtungen sind nicht mehr sicher, und schließlich der Anschlag in Halle stellt mit einem Schlag alles infrage, was in diesem Land gewachsen und erreicht worden ist. Wir können uns nicht ausruhen, die Verbreitung des Giftes des Antisemitismus in rechten Gruppierungen und im Internet erfordert mit neuer Dringlichkeit ein entschlossenes Handeln der Ordnungskräfte, klare Positionen der Politiker und die Wachsamkeit aller Bürger. Dieser Kampf gegen Antisemitismus fordert alle Kräfte, deshalb sollte er unbedingt einmütig sein. Leider wird diese Einmütigkeit gerade durch eine Debatte gestört, die von dieser wichtigen Aufgabe ablenkt, die Gemüter verwirrt und die falschen Gegner ins Visier nimmt.

Ins Visier geraten sind die Intendantin der Ruhr-Triennale Stefanie Carp und der Philosoph Achille Mbembe, dessen Texte ins Rampenlicht der Öffentlichkeit geraten sind und nun viele Leser gefunden haben, die sie mit nur einem Interesse lesen: um in ihnen verdächtige Aussagen zu entdecken. Jürgen Kaube ist sofort fündig geworden und bestätigte aufgrund seiner Lesefrüchte prompt den Antisemitismusvorwurf. Die Folgen dieser Hermeneutik des Verdachts sind für Menschen in leitenden Stellungen happig, sie müssen mit Entlassung und bleibender Stigmatisierung rechnen, weil der kulturpolitische Sprecher der FDP Lorenz Deutsch, der Antisemitismusbeauftragte Felix Klein und der Zentralrat der Juden dies zu einem Fall gemacht haben.

Zur Rolle des BDS im Fall Mbembe

Zur Skandalisierung des Falls haben vor allem drei Buchstaben beigetragen: „BDS“. Sie stehen für ein 2005 gegründetes Bündnis für Boykott, Investitionsentzug und Sanktionen. Dabei handelt es sich um eine Bewegung des gewaltlosen politischen Widerstandes gegen die fortschreitende Besetzung der palästinensischen Gebiete durch den israelischen Staat. Im Internet habe ich zwei Stellungnahmen von mir bekannten und sehr respektierten Wissenschaftlern zum BDS gefunden. Wolfgang Benz, ehemaliger Leiter des Zentrums für Antisemitismus-Forschung in Berlin, hält den BDS für „sehr unübersichtlich“ und nicht für antisemitisch, sondern für eine „politische, israelkritische Bewegung“, was „Antisemiten aber nicht an der Teilnahme hindere“. Wer BDS dagegen pauschal „als antisemitisch abstempelt“, habe „primär ein politisches Interesse – und kein Interesse an Aufklärung und Frieden“. Mein anderer Gewährsmann ist Moshe Zimmermann, Historiker an der Hebräischen Universität in Jerusalem. Seiner Meinung nach ist nicht jeder BDS-Unterstützer automatisch Antisemit und nicht jeder Boykotteur ein BDS-Anhänger. Er sieht in diesen Zuordnungen eine „Technik des Mundtotmachens“ im Interesse der israelischen Regierung.

Warum ist diese Initiative plötzlich in die deutschen Schlagzeilen geraten? Um das zu verstehen, möchte ich den Horizont etwas erweitern und von den drei Buchstaben BDS zu den vier Buchstaben IHRA übergehen. Sie stehen für „International Holocaust Remembrance Alliance“, ein Bündnis von Staaten, das auf eine Initiative des schwedischen Präsidenten Göran Persson am 27. Januar 2000 in Stockholm zu einem Internationalen Forum zusammenkam. Die Gründungsurkunde dieses Bündnisses ist die „Stockholm Declaration“. Ihr Ziel war die Einführung des 27. Januar als verpflichtender Gedenktag und die Bekämpfung von Antisemitismus, um „die Saat einer besseren Zukunft in den Boden einer bitteren Vergangenheit (zu) streuen“. Im Jahr 2016, unter dem Eindruck der wachsenden Aktualität einer neuen Antisemitismusgefahr, haben die Mitgliedsstaaten der IHRA ihre Antisemitismus-Definition um den folgenden Passus erweitert: „Darüber hinaus kann auch der Staat Israel, der dabei als jüdisches Kollektiv verstanden wird, Ziel solcher Angriffe sein.“ 2017 wurde diese erweiterte Arbeitsdefinition von Antisemitismus von der Bundesregierung übernommen, 2019 folgte die Übernahme dieser Definition durch die Hochschulrektorenkonferenz.

Mit dieser Erweiterung der Antisemitismusdefinition ist das gegenwärtige Klima des Verdachts, der Verunsicherung und Denunziation entstanden. Denn inzwischen ist immer unklarer geworden, wer alles ins Fadenkreuz der Antisemitismusbekämpfung geraten kann. Nicht nur der BDS, sondern auch Philosophen wie Achille Mbembe. „Alles in einem Topf“ – unter dieser Überschrift warf Jürgen Kaube dem afrikanischen Philosophen die Vermengung historischer Ereignisse wie Holocaust, Apartheid und Kolonialismus vor. Sie gilt aber auch für den Antisemitismusbegriff selbst. Ich schlage deshalb
eine Unterscheidung von drei Antisemitismusbegriffen vor:

1. der alte neue Antisemitismus als Hass und Gewalt gegen Juden, der eine 2500-jährige Geschichte hinter sich hat und sich mit seinen Bildern und Stereotypen immer wieder erneuert;

2. der Antisemitismus als Kampf und Krieg gegen den Staat Israel, der heute vor allem in islamischen Staaten verbreitet ist, die das Existenzrecht Israels leugnen;

3. der neue Antisemitismus als Kritik an bestimmten Aspekten der Politik des Staates Israel, der auf die erweiterte Definition der IHRA zurückgeht. Beim 3. wird nicht unterschieden zwischen einer Leugnung des Existenzrechts des Staates (2) und einer Kritik an der Besetzungspolitik in diesem Staat. Diese Unklarheit ist dafür verantwortlich, dass die neue Antisemitismusdefinition (3) hierzulande explosive Reaktionen zeitigt und zu einem Klima der allgemeinen Verdächtigung geführt hat.

Im Artikel 3 der Stockholmer Erklärung von 2000 heißt es: „Da die Menschheit noch immer von Völkermord, ethnischer Säuberung, Rassismus, Antisemitismus und Ausländerfeindlichkeit gezeichnet ist, trägt die Völkergemeinschaft eine hehre Verantwortung für die Bekämpfung dieser Übel.“ Diese Aufgabe ist im Laufe der letzten 20 Jahre nicht leichter, sondern noch dringlicher geworden. Doch mit dem neuen Antisemitismusbegriff wird die globale Solidarität im Kampf gegen Judenhass nicht gestärkt, sondern behindert. Denn jetzt verläuft eine neue Trennungslinie zwischen denen, die bemüht sind, den Staat Israel mit ihrer Kritik zu unterstützen und zu verbessern, und denen, die entschlossen sind, ihn gegen jegliche Kritik zu immunisieren.

Was der neue Antisemitismusbegriff zum Beispiel unsichtbar macht, ist eine Botschaft, die Yair Netanyahu, der Sohn des israelischen Premierministers, gerade auf Twitter verbreitet hat. Sie lautet: „Schengen ist tot. Hoffentlich auch bald die globalistische EU. Dann wird Europa wieder frei, demokratisch und christlich sein!“ Ein Abgeordneter der AfD hat gleich weiter getwittert: „Christentum ist Heilmittel für die Übel der globalistischen EU!“ In den sozialen Medien, so könnte man sagen, sind wir abenteuerlichen Unsinn gewohnt. Damit macht man es sich aber zu einfach, denn dieser Unsinn hat Methode. Die AfD interessiert sich zwar nicht für den Holocaust und die letzten Zeugen, die soeben noch mal zu Wort kommen, aber umso mehr für den Staat Israel als Vorbild für den angestrebten Umbau Deutschlands in einen ethnischen Nationalstaat. Die Betonung des Christentums dient dabei einer anti-islamischen Allianz. Hier verbünden sich gerade Ethno-Nationalisten gegen die Grundwerte der EU.

Diese Entwicklung verläuft unter dem Radar der Medien, weil diese gerade voll mit dem Fall Mbembe beschäftigt sind. Es ist ja ihre Aufgabe und Fähigkeit, Debatten anzustoßen und dabei durch klare Stellungnahmen zu polarisieren und zu skandalisieren. In dem Aufmerksamkeitsfenster, das sich einen Moment lang öffnet, reden alle gleichzeitig über dasselbe Thema. Das wirkt wie ein Durchlauferhitzer. Die Themen bekommen Relevanz, Gewicht und emotionale Brisanz. Die große Frage, die alle beschäftigt, lautet gerade: ist der afrikanische Philosoph Achille Mbembe ein Antisemit? Es gibt einige Stimmen, die das behaupten, einige, die das belegen, und einige, die das anders sehen.

Neues Denken ermöglicht es, neue Wege zu öffnen

Es sieht nicht so aus, als würde sich dieses mediale Aufmerksamkeitsfenster so schnell wieder schließen, denn es geht hier um nichts weniger als eine deutsche Identitätsdebatte. Der Holocaust ist und bleibt zentraler Bezugspunkt der deutschen Identität. Das kann aber nicht heißen, dass wir ihn uns in einer Weise aneignen, die Menschen aus anderen Weltgegenden das Recht auf eine bedeutungsvolle Beziehung zu diesem längst globalisierten Geschichtsereignis abspricht. In Deutschland als einem Einwanderungsland geht es ja eigentlich eher darum, für Menschen mit anderen Herkunftsgeschichten neue Zugänge zum Holocaust zu öffnen, anstatt sie zu schließen.

Achille Mbembe hat sich als Afrikaner mit der Geschichte des Holocaust und Israels auseinandergesetzt, indem er sie in seine eigene Erfahrungswelt eingeordnet hat. Sein Bezug ist dabei nicht eine Ideologie oder ein Narrativ, das historische Ereignisse erklärt, deutet und bewertet, sondern das Band einer langen historisch geprägten und gelebten Erfahrung. Deshalb geht es hier nicht um Fragen des Vergleichs, der Bewertung und andere Diskursregeln der Wissenschaft, gegen die er möglicherweise verstoßen hat oder auch nicht, sondern um das Band der Empathie und Einfühlung von einer Gewaltgeschichte in eine andere. Er stellt Kontakte her und schafft persönliche Verbindungen zwischen unterschiedlichen Ereignissen und Kontinenten. Michael Rothberg, Holocaust-Forscher an der Universität in Los Angeles, hat ein wichtiges Buch über die Erinnerung an den Holocaust und die Kolonialgeschichte geschrieben. Darin hat er den Begriff „multi-directional memory“ eingeführt. Das bedeutet: Die Erinnerung der Menschen bahnt sich unterschiedliche Wege, entdeckt Zusammenhänge und bildet unerwartete Allianzen, die sich von den Mustern der Ideologen und Vorgaben der Wissenschaft manchmal weit entfernen und auf diese Weise neue Wege und Zugänge öffnen.

So wie der neue Antisemitismus verurteilt und spaltet, baut das ‚Mehrwegsgedächtnis‘ Brücken und stellt Verbindungen her. Mit seiner afrikanischen Herkunftsgeschichte und ihren Traumata könnte Achille Mbembe uns dabei helfen, den Blick auf den Holocaust und die deutsche Identität zu erweitern. Dafür brauchen wir aber einen Antisemitismusbegriff, der uns nicht trennt, sondern zusammenführt und stärkt im entschlossenen Kampf gegen Judenhass, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Islamophobie.


 Zur Person

Prof. Dr. Aleida Assmann ist Professorin für Anglistik und Literaturwissenschaften in Konstanz. Zu ihren Werken gehört u. a. „Der lange Schatten der Vergangenheit. Erinnerungskultur und Geschichtspolitik“
(C. H.Beck 2014) und Reflexion zu Johann Sebastian Bach: Ein ungefärbt Gemüt", Gallus Media 2017.