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Debatte

Déja vu, déja lu, wilde Vergleiche

Debatte - Déja vu, déja lu, wilde Vergleiche
Prof. Dr. Michael Wolffsohn © KNA-Bild

Der rechte Antisemitismus ist offen und direkt. Doch auch ein bestimmtes linkes Milieu pflegt eine offene Judenfeindschaft, dem Achille Mbembe zuzurechnen ist.

01.06.2020

Über Juden und Israel reden oder schreiben fast alle mehr, als sie wissen. Besonders Antisemiten und Antizionisten. Rechtsextreme und Muslime ebenso wie Linke und Linksliberale (Li-Libs). Letztere benutzen gerne, wie jüngst der deutsche Feuilletonist Patrick Bahners, jüdische oder israelische Außenseiter als Schutzwall gegen den Antisemitismus-Vorwurf. Zum Beispiel Judith Butler und Noam Chomsky.

Fairerweise muss einschränkend erwähnt werden, dass viele Li-Libs sich subjektiv wirklich nicht als Antisemiten oder Antizionisten wahrnehmen. De facto sind sie es, weil sie in der internationalen Politik- und Kulturarena den Seinsgrund der jüdischen und israelischen Mehrheit unterminieren.

Näher erklärt sei, weshalb manche Li-Libs (sowie über diese hinaus weite Teile der pazifistisch und bis zur Corona-Epidemie universalistisch programmierten westlichen Nachkriegsgesellschaften) sich selbst subjektiv durchaus nicht als Antisemiten/Antizionisten wahrnehmen, es jedoch objektiv, genauer: de facto sind.

Solche und solche Lehren aus der Geschichte

Bezogen auf die Lehren aus derselben Geschichte trennen Li-Libs und andere Mainstream-Westler von der überwältigenden jüdisch-israelischen Mehrheit Welten. Li-Libs haben gelernt: 1) Gewalt als Mittel der Politik ist inakzeptabel, weil mörderisch. Die jüdisch-israelische Mehrheit hat aus derselben Geschichte gelernt: Gewaltverzicht kann selbstmörderisch sein. 2) Li-Libs haben gelernt: Partikularismus beziehungsweise Nationalismus ist mörderisch, Universalismus beziehungsweise „Kosmopolitismus“ – einst von den Nazis als „typisch jüdisch“ verunglimpft – die einzig ethische Alternative. Die jüdisch-israelische Mehrheit hat aus derselben Geschichte gelernt: Kosmopolitismus war selbstmörderisch. Als sechs Millionen Juden vernichtet wurden, weinte die „Internationale Gemeinschaft“ Krokodilstränen und schaute tatenlos zu. 3) Li-Libs haben aus der Geschichte gelernt: Land beziehungsweise Territorium als politischer Faktor bedeutet, „wie bei den Nazis“, Blut und Boden („Blubo“). Die jüdisch-israelische Mehrheit hat aus derselben Geschichte gelernt: Land, nur das eigene Land (das man notfalls mit Gewalt verteidigt), garantiert Sicherheit. 4) Li-Libs haben aus der Geschichte gelernt: Religion ist „Opium fürs Volk“. Die jüdisch-israelische Mehrheit hat aus derselben Geschichte gelernt: Ihre Religion hat das Überleben der Juden ermöglicht sowie zur Gründung des Jüdischen Staates beigetragen.

Daraus folgt: Jenseits des spezifisch jüdisch-israelischen Themas sind die fundamentalen, allgemeinen Wertvorstellungen der Li-Libs einerseits und der Juden(mehrheit) andererseits diametral entgegengesetzt. Den Li-Libs und ähnlich programmierten Westlern ist nicht nur die jüdische und erst recht israelische Politik – besonders unter Netanjahu –, sondern deren Weltsicht im Grunde ihres Seins zuwider. Ohne zwangsläufig Antisemiten oder Antizionisten zu sein – eigentlich haben sie „wirklich nichts gegen Juden oder Israel“ –, sind sie dem Welt- und Menschenbild der Mehrheitsjuden und -Israelis abhold bis feindlich. Ihr Realbild vom heutige Mehrheitsjuden und -Israeli entspricht nicht ihrem Wunsch- beziehungsweise Idealbild. Allein ihr Weltbild gilt. „Schuld“ tragen die Juden, versteht sich. Wohlgemerkt, nicht vom rechtsextremistischen oder islamisch-islamistischen Antisemitismus und Antizionismus ist die Rede, sondern vom sozusagen kernwestlichen. Wenigstens das muss man den rechtsextremen und islamischen Judenfeinden zugestehen: Ihre Feindschaft ist offen und direkt.

Ganz anders das antisemitisch-antizionistische Li-Lib-Muster. Dessen jüngst am meisten beachtete Personifizierung bietet der Historiker und Politikwissenschaftler Achille Mbembe. Viele seiner zahlreichen Jünger rühmen ihn als „Philosophen“.

Mbembe stammt aus Kamerun, wurde westlich-kosmopolitisch ausgebildet, lehrte und lehrt an einigen der weltweit namhaftesten Universitäten, heute im südafrikanischen Johannesburg. Ebenfalls klingende Namen und meistens auch Niveau bieten die meist Li-Liben Verlage, Zeitungen und Zeitschriften, in denen Mbembe veröffentlicht. Mbembe gilt daher im internationalen Li-Lib-Milieu als Ikone. Vor diesem Hintergrund lud die Ruhrtriennale-Intendantin Stefanie Carp, eine echte und gottlob farbenblinde Li-Lib, diesen Solitär ein, die diesjährige Eröffnungsrede zu halten, um das Festival mit seiner Weisheit zu bereichern. 2018 hatte Frau Carp die Hip-Hop-Pop-Band Young Fathers eingeladen. Wohlwissend, dass die schottisch-afrikanisch-amerikanischen Sänger bekennende Antizionisten sind. 2017 hatten sie eine Einladung zu einem Festival in Berlin abgelehnt, weil Israel israelischen Sängern einen Reisekostenzuschuss von 500 Euro bewilligt hatte. Für 2018 hatte Frau Carp Young Fathers eingeladen, dann aus- und schließlich wieder eingeladen. Die drei Männer handelten konsequenter als jene Dame und sagten von sich aus ab. Ihr brennendes Interesse an und ihre Offenheit für Jüdisch-Israelisches bewies Frau Carp auch 2019.

Sie lud die in Haifa und Berlin lebende israelische Regisseurin Ofira Henig ein. Deren Originalton: „Ich halte Israel für einen faschistischen Staat.“ Aus der Deckung des Anti-Antisemitismus-Schutzwalls bewies Frau Carp ihre makellos antifaschistische Gesinnung: Frau Henig, Jahrgang 1960, sei in einer Familie von Holocaustopfern aufgewachsen.

Mehr Ideologie als Philosophie

Kategorisch wie Mbembe bestreiten die Jungen Väter, Antisemiten zu sein. Für Frau Carp war jenes Hickhack „Hysterie“, das „natürlich mit unserer deutschen Schuld- und Schamgeschichte zu tun“ hat. Deutsche Schuld und Scham eine „Hysterie“. Das ist für Frau Carp, versteht sich, kein Antisemitismus, sondern die von ihr allgemein eingeforderte „Multiperspektivität“. Im Klartext: Perfektionierte Perfidie, Heuchelei.

Mbembes philosophische Kost ist ziemlich dünne Suppe. Im Kern ist sie ein postkolonialistischer Um- und Aufguss Frantz Fanons. Déja vu, déja lu, wilde Vergleiche von Israel und Nazis oder südafrikanischer Apartheid, wobei Israel, versteht sich, schlimmer wäre. Dazu die aggressive, nicht selten dem NS-Kronjuristen Carl Schmitt entlehnte Gedanken- und Sprachführung. Mehr Ideologie als Philosophie oder gar Empirie. Das alles, versteht sich ebenfalls, im Namen von und Einsatz für die Unterdrückten dieser Welt. Mbembes Begriff für diese von Rassisten (für ihn identisch mit Kapitalisten) Ausgebeuteten sind (wörtlich) die „Neger“ – unabhängig von der Hautfarbe. Abgesehen vom Kontrafaktischen dieses Begriffsbildes ist mir diese „Farbenblindheit“ ohne jede Ironie durchaus sympathisch.

Ebenfalls sympathisch, doch leider ebenso kontrafaktisch beschreibt der Philosoph Gegenwart und Zukunft der globalen Migrationsströme, die, so der Philosoph, „unvermeidlich zum Zusammenwachsen der Welt“ führen würden. Der Wunschtraum als wissenschaftliche Vorhersage. Eine Mogelpackung.

Israel als „Labor“ einer neuen Apartheid-Politik?

Als Personifizierung der Li-Lib-Methode ist Mbembe natürlich automatisch gegen Kolonialismus, Rassismus und Apartheid sowie gegen Nazismus und damit auch gegen Antisemitismus. Und wenn doch gegen Juden oder Israel, dann weil diese mindestens so schlimm oder schlimmer als die Nazis wären. Im Jahre 2010 gehörte Mbembe mit Friedensnobelpreisträger Desmond Tutu zu den Unterzeichnern einer Resolution, die den Abbruch der Beziehungen zur Ben-Gurion-Universität Beer Schewa forderten. Diese würde sich an den „Apartheid-Methoden Israels beteiligen“. In Kapitel zwei seines Buches „Politik der Feindschaft“ ist Israel „Labor“ einer bevorstehenden globalen Apartheid-Politik. Auch im Französischen verquast heißt es, das israelische „Projekt“ fuße auf einer „einzigartigen metaphysischen und existenziellen Basis“. Der Hinweis auf die (füge hinzu: Apartheid-orientierte) Hebräische Bibel ist trotz des scheinbar mehrdeutigen Sprachsalats eindeutig. Eindeutig antijüdisch im religiös-ethischen Sinn.

Israels „Apartheid“ kennen offenbar weder Tutu noch Mbembe & Co. Sie hätten dort nämlich festgestellt, dass und wie viele Araber an Israels Universitäten studieren oder zum Beispiel als Ärzte praktizieren, weil sich „die Juden“ von

„Negern“ im Sinne Mbembes behandeln lassen. So sieht Israels „Sehnsucht nach Apartheid und Auslöschung“ aus. Doch Mbembe „ist ein ehrenwerter Mann“, der Kollektivschuld und -strafe ebenso ablehnt wie willentliche Falschaussagen. Dieser Tage ließ uns Mbembe wissen: Er „halte nichts von einem allgemeinen Boykott israelischer Akademiker“. Ein Schelm, wer das eine Heuchelorgie nennt.

Zuerst erschienen in der Neuen Zürcher Zeitung (NZZ).


Zur Person

Prof. Dr. Michael Wolffsohn (RC München-Schwabing) ist Historiker und Publizist und Deutschlands „Hochschullehrer des Jahres“ 2017. Im März 2020 erschien sein Buch Tacheles. Im Kampf um die Fakten in Geschichte und Politik bei Herder.

wolffsohn.de