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Debatte

Das allgemeine Recht aufs Atmen

Debatte - Das allgemeine Recht aufs Atmen
Achille Mbembe © David Harrison

Die Welt ist vom Erstickungstod bedroht. Will die Menschheit nach Covid-19 weiterleben, muss sie sich um eine Neugestaltung der bewohnbaren Erde bemühen.

01.06.2020

Manche sprechen heute schon von der Zeit nach Covid-19. Dagegen ist nichts einzuwenden. Doch vor allem in den Weltregionen, in denen die Gesundheitssysteme jahrelang gezielt vernachlässigt wurden, steht für die meisten von uns das Schlimmste noch bevor. Da Krankenhausbetten, Beatmungsgeräte, Massentests, Masken und Desinfektionsmittel auf Alkoholbasis fehlen und außer den bereits bestehenden noch keine weitergehenden Quarantänevorkehrungen ergriffen worden sind, werden unglücklicherweise viele Menschen auf der Strecke bleiben.

Wenn jemand vor einigen Wochen versucht hat, angesichts der sich abzeichnenden Aufregung und Ratlosigkeit die heutige Zeit zu beschreiben, war von einer Zeit ohne Garantien und Verheißungen in einer mehr und mehr von ihrem eigenen Untergang besessenen Welt die Rede – aber auch von einer Zeit, in der „Verletzbarkeit ungleich verteilt ist“ und „neue, verheerende Kompromisse mit ebenso futuristischen wie archaischen Gewaltformen eingegangen wurden“ (Achille Mbembe /Felwine Sarr - Hg., Politique des Temps, Paris: Philippe Rey, 2019, S. 8 f.), ja mehr noch: von einer Zeit des Brutalismus (Achille Mbembe, Brutalisme, Paris: La Découverte, 2020).

Über seinen Ursprung in der gleichnamigen Architekturbewegung Mitte des 20. Jahrhunderts hinaus würde ich den Brutalismus der Gegenwart als einen Vorgang definieren, „durch den Macht als geomorphe Kraft sich heute bildet, äußert, rekonfiguriert, auswirkt und reproduziert“ – durch etwas, das ich, wenn nicht als „Aufbrechen und Aufreißen“, als „Entleerung der Gefäße“, „Tiefenbohrung“ oder „Ausschlachtung von organischen Substanzen“ (S. 11), schlagwortartig als „Depletion“ im Sinne von Auszehrung bezeichnen würde (S. 9 ff.).

Zu Recht lag dabei die Aufmerksamkeit auf der molekularen, chemischen, ja sogar radioaktiven Dimension dieses Vorgangs: „Ist Giftigkeit, das heißt die starke Zunahme von chemischen Substanzen und gefährlichen Abfällen, nicht eine Strukturdimension der Gegenwart? Diese Substanzen und Abfälle greifen nicht nur Natur und Umwelt an (Luft, Böden, Gewässer, Nahrungsketten), sondern auch die Körper, die Blei, Phosphor, Quecksilber, Beryllium und Kühlmitteln ausgesetzt werden“ (S. 10). Natürlich wurde in diesem Rahmen auch auf die „lebendigen, physischer Erschöpfung und einer ganzen Reihe von in manchen Fällen unsichtbaren biologischen Gefahren ausgesetzten Körper“ verwiesen. Namentlich nicht erwähnt habe ich dagegen die (fast 600.000 bei allen Säugetierarten auftretenden) Viren – außer auf metaphorische Weise in dem Kapitel, das den „Grenzkörpern“ gewidmet ist. Doch davon abgesehen, ging es hier durchaus ein weiteres Mal um eine Politik des Lebendigen als Ganzem (Achille Mbembe, Necropolitics, Duke University Press 2019). Und diese nennt das Coronavirus ganz sicherlich beim Namen.

 

Die Farbe unserer Zeit ist Purpurrot

Gesetzt den Fall, dass eine Farbe das Erkennungsmerkmal ihrer Zeit ist, sollte man deshalb in diesen purpurroten Zeiten womöglich anfangen, sich vor all denen zu verneigen, die bereits von uns gegangen sind. Nach Überwindung der schützenden Lungenbläschen ist das Virus in ihren Blutkreislauf eingedrungen und hat danach je nach deren Exponiertheit ihre Organe und weiteres Gewebe angegriffen.

Daran hat sich eine systemische Entzündung angeschlossen. Diejenigen von uns, die schon vor dem Angriff des Virus Herz-Kreislauf-, Nerven- oder Stoffwechselprobleme hatten oder an Krankheiten im Zusammenhang mit der Umweltverschmutzung litten, waren besonders stark betroffen. Als ihr Atem stockte und keine Beatmungsgeräte zur Verfügung standen, haben manche uns sozusagen Hals über Kopf verlassen, ganz plötzlich, sodass es unmöglich war, sich zu verabschieden. Ihre sterblichen Überreste wurden umgehend eingeäschert oder begraben. Einsam und allein. Man müsse sich so schnell wie möglich davon trennen, heißt es. Unter diesen Umständen ist es eine Sache, sich über den Tod von weit entfernten anderen Gedanken zu machen. Etwas anderes ist es, wenn einem plötzlich die eigene Vergänglichkeit bewusst wird, wenn man auf einmal dem eigenen Tod ins Auge sehen und ihn als reale Möglichkeit betrachten muss. Unter anderem darin besteht für viele der Schrecken der Quarantäne. Sie müssen nun tatsächlich für ihr Leben und für ihren Namen einstehen.

Im Grunde genommen fordern diese pathogenen Zeiten die menschliche Spezies auf, hier und jetzt für unser Leben mit anderen (einschließlich der Viren) auf dieser Erde und gemeinsam für unseren Namen einzustehen. Doch diese pathogenen Zeiten sind auch katabole Zeiten par excellence, in denen Körper zerfallen, Spreu vom Weizen getrennt und Menschenabfall aller Arten beseitigt wird – „großer Abstand“ und „Groß-Quarantäne“ sind Reaktionen auf die erschreckend schnelle Verbreitung des Virus und folglich die flächendeckende Erfassung der Welt. So sehr man auch versucht, sich von ihm zu befreien: Letzten Endes führen alle Wege zum Körper zurück. Wir mögen probiert haben, ihm andere Trägersubstanzen zu verschaffen, aus ihm ein Körper-Objekt zu machen, einen Maschinen-Körper, einen digitalen oder ontophanischen Körper: In der atemberaubenden Gestalt eines gewaltigen Alleszermalmers, Ansteckungsträgers, einer Pollen-, Sporen- und Schimmelschleuder kehrt er immer wieder.

Dass man diese Prüfung nicht allein durchstehen muss beziehungsweise zu den vielen gehören könnte, die sich davonmachen, ist nur ein schwacher Trost. Warum auch, wo wir nie mit dem Lebendigen zu leben gelernt und uns nie wirklich um die von Menschen verursachten Schäden an den Lungen der Erde und ihrem Organismus gekümmert haben? Auf einmal haben wir auch nie sterben gelernt. Seit der Entdeckung der Neuen Welt und der Entstehung der „Industrievölker“ einige Jahrhunderte später haben wir uns größtenteils in einer Art von ontologischem Vikariat dazu entschieden, unseren Tod an andere zu delegieren und aus unserer Existenz ein großes Opfermahl zu machen.

Bald wird es nun aber nicht mehr möglich sein, seinen Tod an andere zu delegieren. Niemand wird mehr an unserer Stelle sterben. Wir sind nicht nur dazu verurteilt, unser eigenes, unvermitteltes Dahinscheiden zu akzeptieren, es wird auch immer weniger Verabschiedungsmöglichkeiten geben. Jetzt naht die Stunde der Autophagie und mit ihr das Ende der Gemeinschaft, denn es handelt sich nicht um eine sich ihres Namens würdig erweisende Gemeinschaft, wenn keine Verabschiedung, das heißt kein Gedenken an das Lebendige, mehr möglich ist.

Denn die Gemeinschaft, oder besser: Gemeinsamkeit, beruht nicht bloß auf der Möglichkeit, auf Wiedersehen zu sagen, das heißt, jedes Mal mit anderen Einzelverabredungen zu treffen und diese Verabredungen jedes Mal einzuhalten. Gemeinsamkeit beruht auch auf der Möglichkeit, bedingungslos zu teilen und immer wieder neu bei etwas absolut Intrinsischem, das heißt Unberechenbarem, Unkalkulierbarem und deshalb Unbezahlbarem zu beginnen.

Der Himmel verdunkelt sich also unaufhörlich weiter. Im Klammergriff von Ungerechtigkeit und Ungleichheit ist ein großer Teil der Menschheit vom Erstickungstod bedroht, und das Gefühl, dass unserer Welt bloß eine Gnadenfrist bleibt, greift immer weiter um sich. Wenn es unter diesen Umständen überhaupt ein Nachher geben soll, darf es nicht auf Kosten von immer denselben Lebewesen gehen wie in der Alten Ökonomie. Es muss allen Erdbewohnern zur Verfügung stehen, ungeachtet ihrer Spezies, Ethnie, ihres Geschlechts, ihrer Staatsbürgerschaft, Religion oder eines anderen Unterscheidungsmerkmals. Mit anderen Worten müsste dafür ein gigantischer, sich einer radikalen Vorstellungskraft verdankender Bruch erfolgen.

Bloße Flickschusterei reicht jedenfalls nicht aus. Im Inneren des Kraters müsste buchstäblich alles neu erfunden werden, angefangen mit dem Sozialen. Wenn arbeiten, sich versorgen, sich informieren, Kontakt halten, Bindungen pflegen und aufrechterhalten, miteinander sprechen und sich austauschen, zusammen trinken, Gottesdienste abhalten oder Begräbnisse organisieren nur noch durch die Zwischenschaltung von Bildschirmen stattfinden kann, ist es nämlich Zeit, sich klarzumachen, dass um uns herum die ganze Welt in Flammen steht. Zu weiten Teilen ist das Digitale das neue Loch, das die Explosion in die Erde gerissen hat. Als Schützengraben, Gedärm und Mondlandschaft zugleich, lädt es einsame Männer und Frauen ein, sich in seinem Bunker zu verkriechen. Durch Vermittlung des Digitalen, glaubt man, werde der Körper aus Fleisch und Blut, der physische und sterbliche Körper, sein Gewicht und seine Trägheit abwerfen. Am Ende dieser Verwandlung könne er endlich die andere Seite des Spiegels erreichen, ohne biologisch zu verfallen, und hätte die synthetische Welt der Ströme ihn wieder. Das ist eine Illusion, denn genauso wie es keine Menschheit ohne Körper geben kann, wird die Menschheit außergesellschaftlich oder auf Kosten der Biosphäre keine Freiheit erleben.

Die Logik von Gewalt und Stärke

Man muss also woanders anfangen, wenn es für unser eigenes Überleben unerlässlich ist, allem, was lebt (einschließlich der Biosphäre), wieder den Raum und die Energie zu gewähren, den beziehungsweise die es benötigt. Auf ihrer dunklen Seite hat die Moderne von vorne bis hinten unablässig Krieg gegen das Lebendige geführt. Dieser Krieg ist keinesfalls zu Ende. Die Unterwerfung unters Digitale stellt eine seiner Modalitäten dar. Sie führt direkt zur Verarmung der Welt und zur Austrocknung ganzer Teile des Planeten. 

Es ist zu befürchten, dass die Welt nach der Katastrophe in eine neue spannungsgeladene und brutale Zeit eintritt und keineswegs alle Lebewesen für unantastbar erklärt. Auf der geopolitischen Ebene wird die Logik von Gewalt und Stärke weiterhin vorherrschen. Da eine gemeinsame Infrastruktur fehlt, wird die blindwütige Aufteilung des Globus sich verschärfen und die Trennlinie sich vertiefen. In der Hoffnung, sich vor der Außenwelt zu schützen, werden viele Staaten versuchen, ihre Grenzen zu befestigen. Zudem werden sie sich kaum um eine Zügelung ihrer konstitutiven Gewaltsamkeit bemühen, die sie wie gewöhnlich an denjenigen in ihrer Mitte auslassen werden, die am verletzlichsten sind. Das Leben hinter Bildschirmen und in von privaten Sicherheitsfirmen abgeschirmten Enklaven wird zur Norm werden.

Besonders in Afrika und einer ganzen Reihe von südlichen Weltregionen werden das energieaufwendige Gewinnen von Rohstoffen, landwirtschaftliche Überdüngung und der Raubbau auf Basis des Ausverkaufs der Böden und der Zerstörung der Wälder unvermindert weitergehen. Die Beschaffung und Kühlung der Chips und Superrechner hängt davon ab. Die Versorgung mit und die Beförderung der für die Infrastruktur weltumspannender Computertechnologie erforderlichen Ressourcen und Energie werden auf Kosten einer größeren Bewegungseinschränkung der Menschen erfolgen. Die Welt auf Abstand zu halten wird zur Norm werden, Gefahren aller Art verbannt man nach außen. Doch weil sie unsere ökologische Prekarität nicht in Angriff nimmt, wird diese, sich aus Theorien der Immunisierung und Ansteckung speisende katabole Weltsicht uns keinen Ausweg aus der planetaren Sackgasse erlauben, in der wir uns befinden.

Covid-19 als spektakulärer Ausdruck der Sackgasse

Man kann sagen, Kriege gegen das Lebendige zeichnen sich in allererster Linie dadurch aus, dass sie uns den Atem rauben. Weil es vor allem am Atmen und an der Wiederbelebung der menschlichen Körper und Gewebe hindert, gehört Covid-19 in dieselbe Kategorie. Denn worauf beruht die Atmung, wenn nicht auf dem Aufnehmen von Sauerstoff und dem Ausstoßen von Kohlendioxid beziehungsweise dem dynamischen Austausch zwischen Blut und Gewebe? Doch so wie das Leben auf der Erde momentan abläuft und in Anbetracht dessen, was vom Reichtum des Planeten übrig ist: Sind wir tatsächlich noch weit von dem Zeitpunkt entfernt, wo mehr Kohlenmonoxid als Sauerstoff zum Atmen zur Verfügung stehen wird?

Die Menschheit war schon vor diesem Virus vom Ersticken bedroht. Wenn wir also einen Krieg führen, muss er sich nicht unbedingt gegen ein einzelnes Virus richten, sondern gegen all das, was den größten Teil der Menschheit zu einem vorzeitigen  Atemstillstand verdammt, gegen all das, was die Atemwege von Grund auf angreift und gegen all das, was auf lange Sicht im Kapitalismus ganzen Bevölkerungsgruppen und Ethnien das Atmen und das Leben schwer gemacht und sie zum Keuchen gebracht hat. Um dem zu entgehen, muss man zudem unter Atmung mehr als ihre rein biologischen Aspekte verstehen, nämlich etwas, das uns gemeinsam ist und sich qua definitionem jeder Berechnung entzieht. Wer dies tut, spricht von einem allgemeinen Recht aufs Atmen.

Als etwas, das nicht an den Boden gebunden und gleichzeitig unser gemeinsamer Boden ist, lässt das allgemeine Recht aufs Atmen sich nicht quantifizieren. Man kann es sich auch nicht erschleichen. Es handelt sich um ein universelles Recht nicht bloß jedes Mitglieds der menschlichen Spezies, sondern des Lebendigen als Ganzem. Man muss es also als Grundrecht auf Existenz verstehen. Als solches kann niemand es mit Beschlag belegen, es entzieht sich jeglicher Souveränität, weil es das Souveränitätsprinzip in sich lebendig hält. Zudem ist es ein ursprüngliches Wohnrecht auf der Erde, ein der Universalgemeinschaft menschlicher und anderer Erdbewohner zukommendes Recht (Sarah Vanuxem, La propriété de la Terre, Paris: Wildproject, 2018; und Marin Schaffner, Un sol commun. Lutter, habiter, penser, Paris: Wildproject, 2019).

Die größte all dieser Gefahren besteht darin, dass jede Form von Leben unmöglich gemacht wird. Zwischen denjenigen, die davon träumen, unser Bewusstsein auf Maschinen hochzuladen, und denjenigen, die der Überzeugung sind, dass die nächste Mutation der Spezies im Abstreifen unserer biologischen Hülle bestehen wird, fällt der Unterschied kaum ins Gewicht. Die eugenetische Versuchung ist nicht vorüber, im Gegenteil: Sie liegt den jüngsten Fortschritten in Wissenschaft und Technik zugrunde.

In dieser Situation erfolgt jener plötzliche Stillstand nicht der Geschichte, sondern von etwas, das noch schwer zu fassen ist. Weil sie uns aufgenötigt wurde, ist diese Unterbrechung kein Akt unseres Willens. Sie war in mehreren Hinsichten sowohl unvorhergesehen als auch unvorhersehbar. Wir benötigen aber eine von allen gebilligte, bewusste und willentliche Unterbrechung, sonst wird es kein Nachher geben, sondern nur eine ununterbrochene Folge von unvorhergesehenen Ereignissen.

Wenn Covid-19 tatsächlich der spektakuläre Ausdruck der planetarischen Sackgasse ist, in der die Menschheit sich befindet, dann geht es um nicht mehr und nicht weniger als um eine Neugestaltung der bewohnbaren Erde, die allen die Möglichkeit zu einem erträglichen Leben mit genügend Luft zum Atmen bietet. Es geht also darum, alle Kräfte unserer Welt zu bündeln, um neue Böden zu schaffen. Menschheit und Biosphäre sind eng miteinander verknüpft. Die eine hat keine Zukunft ohne die andere. Werden wir in der Lage sein, unsere Zugehörigkeit zur selben Spezies und unser unverbrüchliches Band mit allem, was lebt, neu zu entdecken? So lautet womöglich die Frage, die allerletzte Frage, bevor die Tür sich ein für alle Male schließt.

(Aus dem Französischen von Christine Pries)

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Zur Person

Achille Mbembe ist der Autor von Brutalisme (Paris: La Découverte, 2020) und neben Felwine Sarr Mitbegründer der Denkwerkstätten von Dakar.