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Das allgemeine Recht aufs Atmen

 - Das allgemeine Recht aufs Atmen
Achille Mbembe © Édition La Découverte

Die Welt ist vom Erstickungstod bedroht. Will die Menschheit nach Covid-19 weiterleben, muss sie sich um eine Neugestaltung der bewohnbaren Erde bemühen, sagt der Autor Achille Mbembe.

01.06.2020

Manche sprechen heute schon von der Zeit „nach Covid-19“. Dagegen ist nichts einzuwenden. Doch vor allem in den Weltregionen, in denen die Gesundheitssysteme jahrelang gezielt vernachlässigt wurden, steht für die meisten von uns das Schlimmste noch bevor. Da Krankenhausbetten, Beatmungsgeräte, Massentests, Masken und Desinfektionsmittel auf Alkoholbasis fehlen und außer den bereits bestehenden noch keine weitergehenden Quarantänevorkehrungen ergriffen worden sind, werden unglücklicherweise viele Menschen auf der Strecke bleiben.

1.
Wenn jemand vor einigen Wochen versucht hat, angesichts der sich abzeichnenden Aufregung und Ratlosigkeit die heutige Zeit zu beschreiben, war von einer Zeit ohne Garantien und Verheißungen in einer mehr und mehr von ihrem eigenen Untergang besessenen Welt die Rede  – aber auch von einer Zeit, in der „Verletzbarkeit ungleich verteilt ist“ und „neue, verheerende Kompromisse mit ebenso futuristischen wie archaischen Gewaltformen eingegangen wurden“ (Achille Mbembe/Felwine Sarr -Hrsg., Politique des temps, Paris: Philippe Rey, 2019, S. 8 f.), ja mehr noch: von einer Zeit des Brutalismus (Achille Mbembe, Brutalisme, Paris: La Découverte, 2020).

Über seinen Ursprung in der gleichnamigen Architekturbewegung Mitte des 20. Jahrhundert hinaus würde ich den Brutalismus der Gegenwart als einen Vorgang definieren, „durch den Macht als geomorphe Kraft sich heute bildet, äußert, rekonfiguriert, auswirkt und reproduziert“ – durch etwas, das ich, wenn nicht als „Aufbrechen und Aufreißen“, als „Entleerung der Gefäße“, „Tiefenbohrung“ oder „Ausschlachtung  von organischen Substanzen“ (S. 11), schlagwortartig als „Depletion“  im Sinne von Auszehrung bezeichnen würde (S. 9 ff.).

Zu Recht lag dabei die Aufmerksamkeit auf der molekularen, chemischen, ja sogar radioaktiven Dimension dieses Vorgangs: „Ist Giftigkeit, das heißt die starke Zunahme von chemischen Substanzen und gefährlichen Abfällen, nicht eine Strukturdimension der Gegenwart? Diese Substanzen und Abfälle greifen nicht nur Natur und Umwelt an (Luft, Böden, Gewässer, Nahrungsketten), sondern auch die Körper, die Blei, Phosphor, Quecksilber, Beryllium und Kühlmitteln ausgesetzt werden“ (S. 10).

Natürlich wurde in diesem Rahmen auch auf die „lebendigen, physischer Erschöpfung und einer ganzen Reihe von in manchen Fällen unsichtbaren biologischen Gefahren ausgesetzten Körper“ verwiesen. Namentlich nicht erwähnt habe ich dagegen die (fast 600000 bei allen Säugetierarten auftretenden) Viren – außer auf metaphorische Weise in dem Kapitel, das den „Grenzkörpern“ gewidmet ist. Doch davon abgesehen,  ging es hier durchaus ein weiteres Mal um eine Politik des Lebendigen als Ganzem (Achille Mbembe, Necropolitics, Duke University Press 2019). Und diese nennt das Coronavirus ganz sicherlich beim Namen.

2.
Gesetzt den Fall, dass eine Farbe das Erkennungsmerkmal ihrer Zeit ist, sollte man deshalb in diesen purpurroten Zeiten womöglich anfangen, sich vor all denen zu verneigen, die bereits von uns gegangen sind. Nach Überwindung der schützenden Lungenbläschen ist das Virus in ihren Blutkreislauf eingedrungen und hat danach je nach deren Exponiertheit ihre Organe und weiteres Gewebe angegriffen.

Daran hat sich eine systemische Entzündung angeschlossen. Diejenigen von uns, die schon vor dem Angriff des Virus Herz-Kreislauf-, Nerven- oder Stoffwechselprobleme hatten oder an Krankheiten im Zusammenhang mit der Umweltverschmutzung litten, waren besonders stark betroffen. Als ihr Atem stockte und keine Beatmungsgeräte zur Verfügung standen, haben manche uns sozusagen Hals über Kopf verlassen, ganz plötzlich, sodass es unmöglich war, sich zu verabschieden. Ihre sterblichen Überreste wurden umgehend eingeäschert oder begraben. Einsam und allein. Man müsse sich so schnell wie möglich davon trennen, heißt es.

Doch wenn wir schon einmal dabei sind, sollten wir noch all jene anderen hinzufügen, die zu den in die Millionen gehenden Opfern von AIDS, Cholera, Malaria, Ebola, NIPV, Lassa-Fieber, Gelbfieber, Zika, Chikungunyafieber zählen, von ganz verschiedenen Krebsarten, Epizootien und anderen Tierseuchen, wie Schweinepest oder Blauzungenkrankheit, und allen möglichen vorstellbaren und unvorstellbaren Epidemien, die seit Jahrhunderten unter namenlosen Völkern in abgelegenen Gegenden wüten, ganz zu schweigen von den Landminen, Raubfeldzügen und Eroberungskriegen, bei denen Zehntausende verstümmelt, Bevölkerungen dezimiert und weitere Hundertausende in die Flucht getrieben und zur Auswanderung gezwungen wurden, die umherirrende Menschheit.

Nicht zu vergessen auch die intensive Waldrodung, Großbrände und die Zerstörung der Ökosysteme, das umweltschädigende und -verschmutzende und die Biodiversität zerstörende Vorgehen der Unternehmen und im Moment, wo Hausarrest zu einem Teil unseres Lebens geworden ist, die unzähligen Gefängnisinsassen auf der ganzen Welt sowie jene, deren Träume an Mauern und anderen Grenzbefestigungsanlagen zerbrachen, ob es sich dabei nun um die zahllosen check points handelt, mit denen manche Gebiete übersät sind, oder um Meere, Ozeane, Wüsten und so weiter und so fort.

Gestern und vorgestern ging es lediglich um Beschleunigung, um weit verzweigte, krakenhafte Verbindungsnetzwerke rund um den Globus, um den unaufhaltsamen Automatismus von Geschwindigkeit und Entmaterialisierung. Die Zukunft sowohl des menschlichen Zusammenlebens als auch der materiellen Produktion und des Lebendigen schien in der Computertechnologie zu liegen. Mit Hilfe von ubiquitärer Logik, Hochgeschwindigkeitsverbreitung und Massenspeichern müsse man bloß noch „den gesamten Sachverstand des Lebendigen in binäre Codes übertragen“ und fertig sei der Lack (vgl. Alexandre Friederich, H+. Vers une civilisation 0.0, Paris: Éditions Allia, 2020, S. 50). Als Höhepunkt unseres kurzen Erdendaseins könne der Mensch endlich in ein Kunststoffdispositiv verwandelt werden. Der Weg war gebahnt für die Verwirklichung des alten Projekts einer unendlichen Ausweitung des Marktes.

Mitten in der allgemeinen Trunkenheit wurde dieser unter anderem in Brutalisme beschriebene dionysische Lauf der Dinge vom Virus gebremst, allerdings nicht definitiv unterbrochen, weil alles an seinem Platz bleibt. Aber jetzt schlägt die Stunde der Atemnot und Verwesung, der Stapelung und Verbrennung der Leichen, mit einem Wort: der Wiederauferstehung der zu diesem Anlass durch besonders schöne Toten- und Gesichtsmasken geschützten Körper. Ist die Erde dabei, sich in eine schwirrende Geißel der Menschheit zu verwandeln, in eine allgemeine Nekropolis? Wie weit reicht die Übertragung der Bakterien von Wildtieren auf Menschen, wenn faktisch alle 20 Jahre fast 100 Millionen Hektar Regenwald (die Lungen der Erde) abgeholzt werden müssen?

Seit Beginn der industriellen Revolution im Westen sind beinahe 85 Prozent der Feuchtgebiete trockengelegt worden. Da die Zerstörung der Lebensräume unablässig weitergeht, sind die Bevölkerungsgruppen, deren Gesundheitszustand prekär ist, nahezu täglich neuen Krankheitserregern ausgesetzt. Vor der Kolonialisierung waren die Wildtiere, von denen die Krankheitserreger hauptsächlich stammen, auf Milieus beschränkt, in denen bloß abgeschiedene Völker lebten. Das war zum Beispiel in den letzten Waldländern der Welt im Kongobecken der Fall.

Mittlerweile sind die Gemeinschaften, die in diesen Gebieten in Abhängigkeit von natürlichen Ressourcen lebten, enteignet worden. Im Zuge des Ausverkaufs der Böden durch tyrannische und korrupte Regime und der Gewährung umfassender staatlicher Konzessionen an große Lebensmittelkonzerne wurden sie vor die Tür gesetzt, weshalb sie die autonomen Ernährungs- und Energieformen nicht länger aufrechterhalten können, die ihnen über Jahrhunderte ein Leben im Einklang mit dem Buschland erlaubt hatten.

3.
Unter diesen Umständen ist es eine Sache, sich über den Tod von weit entfernten anderen Gedanken zu machen. Etwas anderes ist es, wenn einem plötzlich die eigene Vergänglichkeit bewusst wird, wenn man auf einmal dem eigenen Tod ins Auge sehen und ihn als reale Möglichkeit betrachten muss. Unter anderem darin besteht für viele der Schrecken der Quarantäne. Sie müssen nun tatsächlich für ihr Leben und für ihren Namen einstehen.

Im Grunde genommen, fordern diese pathogenen Zeiten die menschliche Spezies auf, hier und jetzt für unser Leben mit anderen (einschließlich der Viren) auf dieser Erde und gemeinsam für unseren Namen einzustehen. Doch diese pathogenen Zeiten sind auch katabole Zeiten par excellence, in denen Körper zerfallen, Spreu vom Weizen getrennt und Menschenabfall aller Arten beseitigt wird – „großer Abstand“ und „Groß-Quarantäne“ sind Reaktionen auf die erschreckend schnelle Verbreitung des Virus und folglich die flächendeckende Erfassung der Welt.

So sehr man auch versucht, sich von ihm zu befreien: Letzten Endes führen alle Wege zum Körper zurück. Wir mögen probiert haben, ihm andere Trägersubstanzen zu verschaffen, aus ihm ein Körper-Objekt zu machen, einen Maschinen-Körper, einen digitalen oder ontophanischen Körper:  In der atemberaubenden Gestalt eines gewaltigen Alleszermalmers, Ansteckungsträgers, einer Pollen-, Sporen- und Schimmelschleuder kehrt er immer wieder.

Dass man diese Prüfung nicht allein durchstehen muss beziehungsweise zu den vielen gehören könnte, die sich davonmachen, ist nur ein schwacher Trost. Warum auch, wo wir nie mit dem Lebendigen zu leben gelernt und uns nie wirklich um die von Menschen verursachten Schäden an den Lungen der Erde und ihrem Organismus gekümmert haben? Auf einmal haben wir auch nie sterben gelernt. Seit der Entdeckung der Neuen Welt und der Entstehung der „Industrievölker“ einige Jahrhunderte später haben wir uns größtenteils in einer Art von ontologischem Vikariat dazu entschieden, unseren Tod an andere zu delegieren und aus unserer Existenz ein großes Opfermahl zu machen.

Bald wird es nun aber nicht mehr möglich sein, seinen Tod an andere zu delegieren. Niemand wird mehr an unserer Stelle sterben. Wir sind nicht nur dazu verurteilt, unser eigenes, unvermitteltes Dahinscheiden zu akzeptieren, es wird auch immer weniger Verabschiedungsmöglichkeiten geben. Jetzt naht die Stunde der Autophagie und mit ihr das Ende der Gemeinschaft, denn es handelt sich nicht um eine sich ihres Namens würdig erweisende Gemeinschaft, wenn keine Verabschiedung, das heißt kein Gedenken an das Lebendige, mehr möglich ist.

Denn die Gemeinschaft, oder besser: Gemeinsamkeit, beruht nicht bloß auf der Möglichkeit, auf Wiedersehen zu sagen, das heißt jedes Mal mit anderen Einzelverabredungen zu treffen und diese Verabredungen jedes Mal einzuhalten. Gemeinsamkeit beruht auch auf der Möglichkeit, bedingungslos zu teilen und immer wieder neu bei etwas absolut Intrinsischem, das heißt Unberechenbarem, Unkalkulierbarem und deshalb Unbezahlbarem zu beginnen.

4.
Der Himmel verdunkelt sich also unaufhörlich weiter. Im Klammergriff von Ungerechtigkeit und Ungleichheit ist ein großer Teil der Menschheit vom Erstickungstod bedroht, und das Gefühl, dass unserer Welt bloß eine Gnadenfrist bleibt, greift immer weiter um sich.

Wenn es unter diesen Umständen überhaupt ein Nachher geben soll, darf es nicht auf Kosten von immer derselben Lebewesen gehen wie in der Alten Ökonomie. Es muss allen Erdbewohnern zur Verfügung stehen, ungeachtet ihrer Spezies, Ethnie, ihres Geschlechts, ihrer Staatsbürgerschaft, Religion oder eines anderen Unterscheidungsmerkmals. Mit anderen Worten müsste dafür ein gigantischer, sich einer radikalen Vorstellungskraft verdankender Bruch erfolgen.

Bloße Flickschusterei reicht jedenfalls nicht aus. Im Inneren des Kraters müsste buchstäblich alles neu erfunden werden, angefangen mit dem Sozialen. Wenn arbeiten, sich versorgen, sich informieren, Kontakt halten, Bindungen pflegen und aufrechterhalten, miteinander sprechen und sich austauschen, zusammen trinken, Gottesdienste abhalten oder Begräbnisse organisieren nur noch durch die Zwischenschaltung von Bildschirmen stattfinden kann, ist es nämlich Zeit, sich klar zu machen, dass um uns herum die ganze Welt in Flammen steht. Zu weiten Teilen ist das Digitale das neue Loch, das die Explosion in die Erde gerissen hat. Als Schützengraben, Gedärm und Mondlandschaft zugleich, lädt es einsame Männer und Frauen ein, sich in seinem Bunker zu verkriechen.

Durch Vermittlung des Digitalen, glaubt man, werde der Körper aus Fleisch und Blut, der physische und sterbliche Körper,  sein Gewicht und seine Trägheit abwerfen. Am Ende dieser Verwandlung könne er endlich die andere Seite des Spiegels erreichen, ohne biologisch zu verfallen, und hätte die synthetische Welt der Ströme ihn wieder. Das ist eine Illusion, denn genauso wie es keine Menschheit ohne Körper geben kann, wird die Menschheit außergesellschaftlich oder auf Kosten der Biosphäre keine Freiheit erleben.

5.
Man muss also woanders anfangen, wenn es für unser eigenes Überleben unerlässlich ist, allem, was lebt (einschließlich der Biosphäre), wieder den Raum und die Energie zu gewähren, den bzw. die es benötigt. Auf ihrer dunklen Seite hat die Moderne von vorne bis hinten unablässig Krieg gegen das Lebendige geführt. Dieser Krieg ist keinesfalls zu Ende. Die Unterwerfung unters Digitale stellt eine seiner Modalitäten dar. Sie führt direkt zur Verarmung der Welt und zur Austrocknung ganzer Teile des Planeten.

Es ist zu befürchten, dass die Welt nach der Katastrophe in eine neue spannungsgeladene und brutale Zeit eintritt und keineswegs alle Lebewesen für unantastbar erklärt. Auf der geopolitischen Ebene wird die Logik von Gewalt und Stärke weiterhin vorherrschen. Da eine gemeinsame Infrastruktur fehlt, wird die blindwütige Aufteilung des Globus sich verschärfen und die Trennlinie sich vertiefen. In der Hoffnung, sich vor der Außenwelt zu schützen, werden viele Staaten versuchen, ihre Grenzen zu befestigen. Zudem werden sie sich kaum um eine Zügelung ihrer konstitutiven Gewaltsamkeit bemühen, die sie wie gewöhnlich an denjenigen in ihrer Mitte auslassen werden, die am verletzlichsten sind. Das Leben hinter Bildschirmen und in von privaten Sicherheitsfirmen abgeschirmten Enklaven wird zur Norm werden.

Besonders in Afrika und einer ganzen Reihe von südlichen Weltregionen werden das energieaufwendige Gewinnen von Rohstoffen, landwirtschaftliche Überdüngung und der Raubbau auf der Basis des Ausverkaufs der Böden und der Zerstörung der Wälder unvermindert weitergehen. Die Beschaffung und Kühlung der Chips und Superrechner hängt davon ab. Die Versorgung mit und Beförderung der für die Infrastruktur der weltumspannenden Computertechnologie erforderlichen Ressourcen und Energie werden auf Kosten einer größeren Bewegungseinschränkung der Menschen erfolgen. Die Welt auf Abstand zu halten, wird zur Norm werden, Gefahren aller Art verbannt man nach außen. Doch weil sie unsere ökologische Prekarität nicht in Angriff nimmt, wird diese sich aus Theorien der Immunisierung und Ansteckung speisende katabole Weltsicht uns keinen Ausweg aus der planetaren Sackgasse erlauben, in der wir uns befinden.

Man kann sagen, Kriege gegen das Lebendige zeichnen sich in allererster Linie dadurch aus, dass sie uns den Atem rauben. Weil es vor allem am Atmen und an der Wiederbelebung der menschlichen Körper und Gewebe hindert, gehört Covid-19 in dieselbe Kategorie. Denn worauf beruht die Atmung, wenn nicht auf dem Aufnehmen von Sauerstoff und dem Ausstoßen von Kohlendioxid bzw. dem dynamischen Austausch zwischen Blut und Gewebe? Doch so wie das Leben auf der Erde momentan abläuft und in Anbetracht dessen, was vom Reichtum des Planeten übrig ist: Sind wir tatsächlich noch weit von dem Zeitpunkt entfernt, wo mehr Kohlenmonoxid als Sauerstoff zum Atmen zur Verfügung stehen wird?

Die Menschheit war schon vor diesem Virus vom Ersticken bedroht. Wenn wir also einen Krieg führen, muss er sich nicht unbedingt gegen ein einzelnes Virus richten, sondern gegen all das, was den größten Teil der Menschheit zu einem vorzeitigen Atemstillstand verdammt, gegen all das, was die Atemwege von Grund auf angreift und gegen all das, was auf lange Sicht im Kapitalismus ganzen Bevölkerungsgruppen und Ethnien das Atmen und das Leben schwer gemacht und sie zum Keuchen gebracht hat. Um dem zu entgehen, muss man zudem unter Atmung mehr als ihre rein biologischen Aspekte verstehen, nämlich etwas, das uns gemeinsam ist und sich qua definitionem jeder Berechnung entzieht. Wer dies tut, spricht von einem allgemeinen Recht auf Atemfreiheit .

Als etwas, das nicht an den Boden gebunden und gleichzeitig unser gemeinsamer Boden ist, lässt das allgemeine Recht auf Atemfreiheit sich nicht quantifizieren. Man kann es sich auch nicht erschleichen. Es handelt sich um ein universelles Recht nicht bloß jedes Mitglieds der menschlichen Spezies, sondern des Lebendigen als Ganzem. Man muss es also als Grundrecht auf Existenz verstehen. Als solches kann niemand es mit Beschlag belegen, es entzieht sich jeglicher Souveränität, weil es das Souveränitätsprinzip in sich lebendig hält. Zudem ist es ein ursprüngliches Wohnrecht auf der Erde, ein der Universalgemeinschaft menschlicher und anderer Erdbewohner zukommendes Recht (Sarah Vanuxem, La propriété de la Terre, Paris: Wildproject, 2018; und Marin Schaffner, Un sol commun. Lutter, habiter, penser, Paris: Wildproject, 2019).

Coda

Der Prozess ist schon etliche Male angestrengt worden. Man kann die Hauptanklagepunkte mit geschlossenen Augen aufzählen. Ob es sich nun um die Zerstörung der Biosphäre, das technowissenschaftliche Gestell für den Geist, den nachlassenden Widerstand, die wiederholten Angriffe auf die Vernunft, geistige Verdummung oder um den Aufstieg des (genetischen, neuronalen, biologischen, die Umwelt betreffenden) Determinismus handelt, werden die Gefahren für die Menschheit immer existenzieller.

Die größte all dieser Gefahren besteht darin, dass jede Form von Leben unmöglich gemacht wird. Zwischen denjenigen, die davon träumen, unser Bewusstsein auf Maschinen hochzuladen, und denjenigen, die der Überzeugung sind, dass die nächste Mutation der Spezies im Abstreifen unserer biologischen Hülle bestehen wird, fällt der Unterschied kaum ins Gewicht. Die eugenetische Versuchung ist nicht vorüber, im Gegenteil: Sie liegt den jüngsten Fortschritten in Wissenschaft und Technik zugrunde.

In dieser Situation erfolgt jener plötzliche Stillstand nicht der Geschichte, sondern von etwas, das noch schwer zu fassen ist.  Weil sie uns aufgenötigt wurde, ist diese Unterbrechung kein Akt unseres Willens. Sie war in mehreren Hinsichten sowohl unvorhergesehen als auch unvorhersehbar. Wir benötigen aber eine von allen gebilligte, bewusste und willentliche Unterbrechung, sonst wird es kein Nachher geben, sondern nur eine ununterbrochene Folge von unvorhergesehenen Ereignissen.

Wenn Covid-19 tatsächlich der spektakuläre Ausdruck der planetarischen Sackgasse ist, in der die Menschheit sich befindet, dann geht es um nicht mehr und nicht weniger als um eine Neugestaltung der bewohnbaren Erde, die allen die Möglichkeit zu einem erträglichen Leben mit genügend Luft zum Atmen bietet.  Es geht also darum, alle Kräfte unserer Welt zu bündeln, um neue Böden zu schaffen. Menschheit und Biosphäre sind eng miteinander verknüpft. Die eine hat keine Zukunft ohne die andere. Werden wir in der Lage sein, unsere Zugehörigkeit zur selben Spezies und unser unverbrüchliches Band mit allem, was lebt, neu zu entdecken? So lautet womöglich die Frage, die allerletzte Frage, bevor die Tür sich ein für alle Male schließt.

Aus dem Französischen von Christine Pries.


Achille Mbembe ist der Autor von Brutalisme (Paris: La Découverte, 2020) und neben Felwine Sarr Mitbegründer der Denkwerkstätten von Dakar.


Information: Eine verkürzte Version dieses Textes finden Sie im Rotary Magazin 6/2020 oder unter: www.rotary.de/a