Debatte über die politische Mitte
Abschied von der Mitte, die wir kannten?
Die aktuellen politischen Debatten lassen erahnen, dass unsere Gesellschaft an einem Wendepunkt angekommen ist
Die Mitte der Gesellschaft ist wieder ins tagespolitische und soziologische Gespräch gekommen. Das war lange Zeit nicht so. Da drehten sich seit den 1990er Jahren die Debatten eher um Ausschluss und Ausgrenzung, Integration und Teilhabe oder Armut und Reichtum. Das waren klare begriffliche Orientierungspunkte. Die soziale Welt wird durch ihre Spaltungen unterscheidbar. Sie zerfällt in ein Oben und Unten, in ein Innen und Außen. Das verspricht Übersicht und klare Thesen. Wer über die Mitte redet, der handelt sich dagegen immer eine Reihe von Problemen ein. Denn die Mittelschicht präsentiert sich seit jeher als ein Ort der Unschärfen und Übergänge. Sie ist ein Ort sozialer Stabilität und Turbulenz. Das macht sie interessant, aber eben auch kompliziert und bisweilen unübersichtlich. Hier treffen Ingenieure auf kaufmännische Angestellte und Abteilungsleiter, hier sind Assistenzärzte und Lehrkräfte um Unterscheidungen bemüht, hier konkurrieren Berater, Projektentwickler und Therapeuten um Status und Position. Das soziologische Denken der Gesellschaft von ihrer Mitte her hat mit Prozessen und Übergängen zu tun, mit Ab- und Aufstiegen. Wer zur Mitte gehört, der steht stets dazwischen. Ambivalenz ist Programm und Habitus. Die Mittelschicht hat Sparrücklagen und ist verschuldungsbereit; sie ist konkurrenz-, aber auch solidaritätsorientiert; wer zur Mitte gehört bevorzugt Familienwerte, ohne selbst unbedingt Familie zu haben; die Mitte lebt von öffentlichen Ausgaben bzw. Investitionen und klagt über den Steuerstaat. Die Mitte, das sind nicht wenige. Rund zwei Drittel der Bevölkerung (65 Prozent) rechnen sich zur Mittelschicht. Selbst nach den strengen Kriterien der Statistik sind es 60 Prozent. Mit Ralf Dahrendorf könnten wir es auf die Formel bringen: Mitte ist dort, wo es „Optionen und Ligaturen“ gibt, wo Auswahlmöglichkeiten bestehen und verbindende soziale Beziehungen existieren. Wer in der Mitte steht, der verfügt über hinreichenden Wohlstand, der eine eigenständige, von Zufälligkeiten weitgehend befreite Lebensführung ermöglicht.
Feine Risse im Wohlstandsgefüge
Zugleich ist die Mittelschicht immer in Bewegung. Sie ist aufstiegsorientiert und abstiegsbesorgt. Ein Gutteil der heutigen Mitte sind Aufsteiger. Mittelschichtgesellschaften sind Aufsteigergesellschaften. Diese wiederum kennzeichnet ein besonderes soziales Klima. Aufsteiger sind ungleichheitssensibel, sie formulieren unermüdlich neue Sicherheitsbedürfnisse und machen sich ständig Statussorgen, gerade mit Blick auf den eigenen Nachwuchs. Aufstieg gehört zum Selbstverständnis. Und hier berühren wir einen ersten Kernpunkt aktueller Probleme: Der Abschied von der Mitte, die wir kannten, ist der Abschied von einer Gesellschaft, die sich wesentlich über den Traum vom immerwährend möglichen Aufstieg definierte. Wir alle teilen mehr die vage Ahnung als die klare Gewissheit, dass sich in der aktuellen Diskussion zum Zustand und zu den Befindlichkeiten der Mitte ein gesellschaftspolitischer Kipppunkt andeutet.
Jedenfalls zeigen sich in der Mitte der Gesellschaft feine Risse im Wohlstandsgefüge. Keine starken Brüche, kein Zerfall. Keine dramatischen Abstürze in Hartz IV oder ähnliches. Aber Deklassierungsgefühle und Abstiegssorgen erhalten Raum und Nahrung. Die Ursachen sind klar. Sie liegen einmal in der Formveränderung der Erwerbsarbeit: Die Kultur korporativer Arbeitswelten der „Normalbeschäftigung“ schwindet. Unsichere und unverbindliche Beschäftigungsformen boomen. Der Verleih von Arbeitskräften, der Bedeutungszuwachs der Minijobs, die gängige Praxis der Befristung – Verbindlichkeitsverweigerung ist das Gebot der Stunde auf den Arbeitsmärkten.
Wandel des Wohlfahrtsstaates
Das Potential an auskömmlicher, dauerhafter und karrieresicherer Arbeit schwindet. Und es schwindet keineswegs nur in den Randlagen der Arbeitswelt, sondern dort, wo es noch vor Jahren keiner vermutet hätte: in den Kernsektoren der industriellen Arbeit, zum Beispiel im Automobil- oder Maschinenbau, und in der vielgestaltigen Wirklichkeit der öffentlichen Dienste, kurz im Staatssektor. Also überall dort, wo gut qualifizierte, beruflich patente und vorwärtsstrebende Menschen arbeiten.
Hinzu kommt zweitens ein grundlegender Gestaltwandel des fiskalisch erschöpften Wohlfahrtsstaates, der sich in der Bearbeitung der Finanzkrise völlig verhoben hat. Es ist ein pikantes Stück. Der Staat hat sich ausgerechnet mit der Rettung seiner Verächter und Steuerverweigerer finanziell endgültig ruiniert. Das hat Folgen für die ganze Gesellschaft. Das Versprechen auf Statussicherheit ist vor diesem Hintergrund nicht mehr zu halten. Weder mit Blick auf das Alter, die Gesundheit noch die Berufswelt. Das trifft diejenigen hart, deren Wohlstand auf Bildungsabschluss und Berufsrolle beruht, eben die Mitte. Damit deutet sich zugleich an, dass Fragen des öffentlichen Wohls und der persönlichen Verantwortung im Zuge der wohlfahrtsstaatlichen Neuordnung neu gestellt werden müssen. Die Politik tut sich damit schwer. Das verwundert nicht, nachdem in den vergangenen Jahrzehnten jede Krise und jeder Konflikt mit dem Angebot von „Mehr“ beantwortet wurde. Doch wie löst man gesellschaftliche Konflikte, wenn die Antwort „Weniger“ heißen muss?
Das Vertrauen in staatliche Statuszusagen schwindet jedenfalls dramatisch. Sozialpolitik ist in weiten Teilen nur noch Auffangnetz, aber kein Stabilisator erworbener sozialer und beruflicher Positionen mehr. Der Mitte der Gesellschaft geht es an die Substanz. Sie finanziert weiterhin den Sozialstaat, aber sie hat immer weniger Ertrag aus diesen Investitionen. Soziale Sicherheit wird mehr und mehr zu einer Aufgabe privater Zahlungsbereitschaft. Insofern sagen auch die stabilen Einkommenslagen in der Mitte der Gesellschaft nur noch wenig aus. Was hilft ein stabiles Einkommen, wenn Altersvorsorge, Gesundheitsdienste und Bildungsleistungen immer mehr Mittel verzehren?
Es gibt ein soziologisches Grundgesetz, das die Gesellschaftsgeschichte moderner Demokratien in den vergangenen Jahrzehnten prägte: Der expansive, investitionsbereite und steuerkräftige Wohlfahrtsstaat ist die Grundlage einer breiten und wohlhabenden Mittelschicht. Das gilt in Europa, aber auch anderen Orts. Der Wohlfahrtsstaat ist ja nicht nur Sicherungsagentur, sondern immer auch Tätigkeitsfeld und Arbeitsort. Mit dem Ausbau sozialer, wirtschaftlicher und technischer Infrastrukturen entstehen neue Beschäftigungsfelder, Professionen und Karrieren. Wer über die Mitte spricht, der hat mithin immer deren Staatsbedürftigkeit im Blick.
Drängende Fragen
Müssen wir in Zeiten neuer Arbeitswelten und veränderter Staatlichkeit nun Abschied nehmen von der Mitte, die wir kannten? Wahrscheinlich ja. In dieser Formulierung kommt zum Ausdruck, dass wir heute und erst recht in Zukunft auf andere Weise über die Mitte der Gesellschaft sprechen müssen; in anderer Weise über die Strukturen der Arbeit, die Bedürfnisse der Erwerbstätigen, die wohlfahrtsstaatliche Gestaltung, die Herstellung öffentlicher Güter. Das können wir ohne jede Melancholie tun. Denn in ihrer Wachstumsfixierung und ihrer Orientierung auf das Mehr ist die Mitte, die wir kannten, ohnehin nicht mehr zukunftsfähig. Wir benötigen andere Maßstäbe für die „rechte Ordnung“, andere Mechanismen gesellschaftlicher Steuerung, andere Orientierungspunkte für wirtschaftliche Entwicklung. Die Antwort auf die Lösung sozialer Probleme war in der Vergangenheit stets „Mehr“. Heute muss die Antwort aber heißen: „Anders“.
Was sind die Konsequenzen? Worauf müssen wir uns einstellen? Dieser Abschied wird nicht ohne Konflikte verlaufen; Konflikte um die Verteilung des Wohlstands heute, aber auch Konflikte um den Wohlstand von morgen. Umso mehr bedürfen wir daher neuer Trägergruppen der gesellschaftlichen Mitte, die nach anderen Maßstäben des Wohlstands suchen; Trägergruppen, die auf Staatsfreundschaft bedacht sind, ohne staatsfixiert zu sein; die die Bedeutung des Kommunalen und Regionalen schätzen, ohne provinziell zu sein; die eigene Interessen formulieren können, ohne die Prinzipien von wechselseitiger Hilfsbereitschaft zu vernachlässigen.
Aus dieser Mitte der Gesellschaft heraus sind die Fragen zu beantworten, welcher Art der künftige Wohlstand sein soll und wie wir künftig zu welchem Preis Wohlstand organisieren und herstellen wollen. Welche Bedingungen sind erforderlich, um bestimmte Wohlstandsleistungen herzustellen? An welchen politischen, sozialen, ökonomischen Zielen bemessen wir Wohlstand? Was ist uns die Herstellung öffentlicher Güter wert? Wir bedürfen einer neuen – nennen wir es bürgerlichen – Wohlfahrtsverantwortung derer, die in der Vergangenheit vom Wohlfahrtsstaat stark gemacht wurden.
Prof. Dr. Berthold Vogel ist Soziologe und geschäftsführender Direktor des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen (SOFI). Er forscht seit Jahren zu Wohlstandskonflikten und öffentlichen Gütern.