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Titelthema - Alle für einen
© Illustration: Klawe Rzeczy, Fotos: Nato (4), Adobe Stock

Was geschieht eigentlich, wenn Nato-Territorium angegriffen wird, aber die USA die Beistandsverpflichtung des Nato-Vertrags nicht erfüllen?

Torsten Stein01.04.2024

Letztlich ist es unerheblich, ob der amerikanische Ex-Präsident Donald Trump dasselbe schon einmal gegenüber einem anderen Staatsoberhaupt geäußert hatte, als er vor laufenden Kameras damit drohte, von der Bündnissolidarität gegenüber Nato-Mitgliedsstaaten abzurücken, die seiner Meinung nach zu wenig zu den Verteidigungslasten (zwei Prozent) beitrügen, und auch noch Putin nahelegte, mit diesen zu machen, was er wolle. Damit hat er nicht nur eine lebhafte Debatte ausgelöst, sondern das Vertrauen in die Beistandsklausel unnötig beschädigt.

Kann man sich auf diese Weise von Artikel 5 des Nato-Vertrags verabschieden? Weitere Voraussetzungen finden sich in Artikel 6 des Nato-Vertrags, der bestimmt, dass als bewaffneter Angriff im Sinne von Artikel 5 nur ein solcher in bestimmten geografischen Grenzen gilt. Das sind die Gebiete der Mitgliedsstaaten, das Mittelmeer sowie Angriffe auf, in oder Flugzeuge über nordatlantischem Gebiet nördlich des Wendekreises des Krebses.

EU formuliert schärfer

Ungeschrieben gilt, dass ein bewaffneter Angriff eine gewisse Intensität und Schwere aufweisen und erhebliche Schäden bei den Streitkräften oder an der Infrastruktur des Angegriffenen verursacht haben muss. Einzelne Schüsse über die Grenze und selbst längere Grenzscharmützel reichen dafür ebenso wenig aus wie einzelne Anschläge. So wäre etwa fraglich, ob die Anschläge auf die Nord-Stream-Pipelines in der Ostsee vom 22. Juni 2022 dafür ausreichen würden, wenn man denn mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit den Urheber ermitteln könnte.

Die Einschränkung in Artikel 5 des Nato-Vertrags („Maßnahmen, die sie für erforderlich halten“) ist Ausdruck der Tatsache, dass kein Staat – auch nicht im Geltungsbereich eines Bündnisses – bereit ist, sich bedingungslos zum Einsatz seiner Streitkräfte zu verpflichten. Der ehemalige Warschauer Pakt des Ostblocks vom 14. Mai 1955 enthielt in Artikel 4 eine mit Artikel 5 des Nato-Vertrags nahezu wortgleiche Bündnisklausel. In der Nato kursierte einmal der Satz: Im Falle von Artikel 5 kann man eine Panzerdivision schicken oder ein Telegramm mit dem Inhalt „Wir beten für Euch“. Die Beistandsklausel in Artikel 47 Absatz 7 des Vertrags über die Europäische Union ist etwas schärfer gefasst („Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaates schulden die anderen Mitgliedsstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung“), was den Einsatz der Streitkräfte einschließt, aber der folgende Hinweis auf die NatoVerpflichtungen mancher Mitgliedsstaaten schließt auch hier jeden Automatismus aus.

Ohne dass dies ausdrücklich im Vertrag steht, galt von Beginn an, dass der Bündnisfall gemäß Artikel 5 – das Vorliegen eines bewaffneten Angriffs – einstimmig festgestellt werden muss. Das ist zum ersten und bislang einzigen Mal nach den Anschlägen vom 11. September 2001 auf die Twin Towers in New York und das Pentagon in Washington erfolgt. Neu war dabei, dass der bewaffnete Angriff von einer Terrororganisation begangen wurde und nicht von einem Staat, wovon man bis dahin ausging.

Halten wir fest: Wenn unstreitig, nach betroffenem Gebiet und Intensität, ein bewaffneter Angriff gegen einen Nato-Mitgliedsstaat vorliegt, ist die Grundannahme des Nato-Vertrags, dass diese Tatsache von allen Mitgliedsstaaten festgestellt wird und sie gemäß ihrer militärischen Fähigkeiten dem Angegriffenen unbeschadet des in Artikel 5 eingeräumten Ermessens militärischen Beistand leisten. Für diesen Zweck erarbeitet der Militärausschuss der Nato, der nicht über eigene Streitkräfte verfügt, mit den und für die Streitkräfte der Mitgliedsstaaten Operationspläne, die für die gemeinsame Verteidigung notwendig sind.

Wann wird die Nato tätig, wann nicht?

Wie es zu handhaben wäre, wenn trotz vorhandener Kapazitäten ein Mitgliedsstaat einen militärischen Beistand ablehnt, und ob etwa eine Begründung erforderlich ist, lässt sich mangels Bestimmungen im Nato-Vertrag und bisheriger Praxis nicht sagen. Falls ein Mitgliedsstaat trotz klarer Fakten die Zustimmung zur Feststellung des Bündnisfalles verweigert, möglicherweise sogar mit den Gründen, die Ex-Präsident Trump genannt hat, wäre das ein Verstoß gegen die Grundpflichten aus dem Nato-Vertrag, nach dem Vertrag aber nicht sanktionierbar und hätte zur Folge, dass die Nato nicht tätig werden könnte.

Eine bisher geltende Regel, wie hier die Einstimmigkeit, selbst wenn sie Teil eines Vertrags wäre, kann zwar völkerrechtlich durch nachfolgende abweichende Praxis geändert werden, dafür bedarf es aber wiederholter Anwendung dieser Praxis, bevor die Änderung rechtsgültig wird. Auf der anderen Seite beginnt jede nachfolgende Praxis mit der ersten Anwendung, die dann als Regelverstoß gilt, aber wiederum nicht sanktionierbar wäre. Eine wesentliche Mehrheit der Nato-Mitgliedsstaaten könnte den widersprechenden Mitgliedsstaat übergehen.

Letztlich bedürfte es dessen aber gar nicht, denn die Grundnorm in Artikel 51 der UN-Charta spricht vom „naturgegebenen Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung“. Es bedarf also keines Bündnisses oder Vertrags, damit ein darum ersuchter Staat einem angegriffenen Staat auf dessen Bitte hin Beistand leistet, auch wenn letzterer kein NatoMitglied ist. Nato-Staaten könnten also einem angegriffenen Staat Beistand leisten und dabei auf die ihnen bekannten und eingeübten Nato-Operationspläne zurückgreifen, auch wenn die Nato selbst nicht involviert wäre.

Und die USA sollten selbst bei einer erneuten Präsidentschaft Trumps wissen, dass es ein gravierender strategischer Fehler wäre, die Nato und damit ihre strategische Gegenküste Europa zu schwächen oder aufzugeben, denn sie sichert ihnen auch den Zugang zu Nordafrika und dem Nahen Osten.


Artikel 5 des Nato-Vertrags 

Die Parteien vereinbaren, dass ein bewaffneter Angriff gegen eine oder mehrere von ihnen in Europa oder Nordamerika als ein Angriff gegen sie alle angesehen werden wird; sie vereinbaren daher, dass im Falle eines solchen bewaffneten Angriffs jede von ihnen in Ausübung des in Artikel 51 der Satzung der Vereinten Nationen anerkannten Rechts der individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung der Partei oder den Parteien, die angegriffen werden, Beistand leistet, indem jede von ihnen unverzüglich für sich und im Zusammenwirken mit den anderen Parteien die Maßnahmen, einschließlich der Anwendung von Waffengewalt, trifft, die sie für erforderlich erachtet, um die Sicherheit des nordatlantischen Gebiets wiederherzustellen und zu erhalten. Vor jedem bewaffneten Angriff und allen daraufhin getroffenen Gegenmaßnahmen ist unverzüglich dem Sicherheitsrat Mitteilung zu machen. Die Maßnahmen sind einzustellen, sobald der Sicherheitsrat diejenigen Schritte unternommen hat, die notwendig sind, um den internationalen Frieden und die internationale Sicherheit wiederherzustellen und zu erhalten.


Nato-Mitglieder im Jahr 2024

Vereinigtes Königreich (1949)
USA (1949)
Belgien (1949)
Kanada (1949)
Dänemark (1949)
Frankreich (1949)
Island (1949)
Luxemburg (1949)
Niederlande (1949)
Italien (1949)
Norwegen (1949)
Portugal (1949)
Griechenland (1952)
Türkei (1952)
Deutschland (1955)
Spanien (1982)
Ungarn (1999)
Polen (1999)
Tschechien (1999)
Rumänien (2004)
Slowakei (2004)
Slowenien (2004)
Bulgarien (2004)
Estland (2004)
Lettland (2004)
Litauen (2004)
Albanien (2009)
Kroatien (2009)
Montenegro (2017)
Nordmazedonien (2020)
Finnland (2023)
Schweden (2024)

Torsten Stein

Dr. iur. Torsten Stein ist o. Universitätsprofessor für Staatsrecht, Völkerrecht und Europarecht und Oberst der Reserve (Luftwaffe). Zuletzt war er Direktor am Europa-Institut, Sektion Rechtswissenschaft der Universität des Saarlandes, von 1991 bis 2012.