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Alte Sünden

Titelthema - Alte Sünden
Mineralbad Berg: Die Sonnenliegen sind schon morgens belegt und Badekappen waren bis vor Kurzem Pflicht. © Dennis Orel und Benjamin Tafel

Von den Pastellfarben der Waldorfschule führt der Weg direkt zur finsteren Impfparanoia der Querdenken-Bewegung in Stuttgart.

Dietrich Krauss01.11.2021

Als im Frühjahr 2020 im Corona-Hotspot BadenWürttemberg der Pandemieprotest erblühte und sich in Stuttgart Tausende zu Demos gegen die Coronapolitik versammelten, war die Ratlosigkeit groß: Warum kulminierte ausgerechnet in der Heimat der Kehrwoche der Protest gegen die Hygienemaßnahmen? Warum hat Querdenken eine Stuttgarter Vorwahl? Bei näherer Betrachtung erscheint der schwäbische Zungenschlag des Coronaprotests dagegen weniger verwunderlich. Schließlich fällt die Impfskepsis im Südwesten auch deshalb auf so fruchtbaren Boden, weil sie hier seit Langem biologisch-dynamisch gedüngt wird – von einer überaus einflussreichen anthroposophischen Bewegung: Ihr Landbau, Marke Demeter, ihre Heilkunde samt Pillen und Pflegeprodukten von Wala und Weleda, vor allem aber die Waldorfpädagogik sind dort allgegenwärtig. Zurück gehen sie allesamt auf die Lehre des Okkultisten Rudolf Steiner.


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Seit vor 100 Jahren in Stuttgart die erste Waldorfschule gegründet wurde, gilt die Schwabenmetropole als die Hauptstadt der eurythmischen Bewegung. Die „Waldis“ sind hier in den akademischen und grünen Milieus bestens verankert und prägen ein spezifisches Stuttgarter Klima alternativer Spießbürgerlichkeit. Dieses harmlose Image verstellt allerdings den Blick auf die dunkle Seite des schwäbischen Steiner-Universums: Zuletzt waren 30 Prozent der Waldorfschüler im Südwesten beispielsweise nicht gegen Masern geimpft. Immer wieder grassiert an den Einrichtungen die hochinfektiöse Kinderkrankheit. Anthroposophie und ihre Medizin verursacht Masernausbrüche, konstatierte schon vor zehn Jahren Edzard Ernst, der erste Lehrstuhlinhaber für Alternativmedizin.

Seit Jahren treffen sich die wichtigsten Impfkritiker regelmäßig in Stuttgart zum Impfsymposium. Dabei legen die Anthroposophen großen Wert darauf, sich von ordinären Impfgegnern abzugrenzen. Es gehe ihnen einzig um die Freiheit zur individuellen Impfentscheidung. Der gesetzlichen Pflicht, Kita- und Schulkinder gegen Masern zu impfen, musste man sich zwar beugen, gleichzeitig strengten anthroposophische Ärzte aber eine Verfassungsklage gegen die Masernimpfpflicht an. Offiziell attestiert die anthroposophische Ärzteschaft der Covid-19-Impfung zwar eine hohe Wirksamkeit, empfiehlt aber lediglich die Impfung für Risikogruppen und rät bei Kindern und Jugendlichen explizit davon ab. Auch wegen noch offener Fragen zu Wirksamkeit und Sicherheit, wehrt man sich auch hier gegen jede Form des Impfzwangs.

„Wir sind freie Bürger, die frei entscheiden, ob sie sich impfen lassen oder nicht“, verkündete der anthroposophische Vordenker Christoph Hueck in seiner Rede auf der Stuttgarter Querdenken-Demo. Und weiter: „Wir haben die Gehirnwäsche und das diktatorische Regierungshandeln satt.“ Der Waldorflehrerausbilder hat, wie viele aus dem Milieu, keine Berührungsängste mit den Querdenkern. In über 30 Städten zeigten Menschen aus der anthroposophischen Szene Flagge bei den Coronaprotesten. Inzwischen ist Hueck wie viele andere in der stark von Steiner-Ideen geprägten Querdenker-Partei „Die Basis“ organisiert.

Krankheiten als karmischer Ausgleich

Warum die Steiner-Gemeinde so verbissen um die Ansteckungsfreiheit und gegen jedweden Impfzwang kämpft, kann nur verstehen, wer in die Abgründe des Steinerschen Okkultismus hinabsteigt. Den hält man der Öffentlichkeit nicht allzu offensiv unter die Nase, schließlich hängen die Waldorfschulen und Kliniken am staatlichen Tropf. Allzu obskure Inhalte könnten die Steuerzahler verunsichern. In offiziellen Stellungnahmen wird deshalb die Steiner-Esoterik zu harmlosen Allerweltsweisheiten verwässert: Wer Kinderkrankheiten wie Masern durchstehe, statt sie zu unterdrücken, heißt es beispielsweise, stärke sein Immunsystem und fördere die kindliche Entwicklung. Dahinter verbirgt sich jedoch eine viel abgründigere These: Nach Steiner inkarniert sich das Ich des Menschen im Lauf der Zeit immer wieder in neue Leiber. Deshalb müsse man es dem Kind in den ersten Lebensjahren ermöglichen, sich durch fieberhafte Masernerkrankung quasi in seinem Leib einzurichten und diesen zu individualisieren.

Krankheiten haben im ewigen Kreislauf von Geburt und Wiedergeburt für die anthroposophische Medizin einen erzieherischen Sinn. Sie sind karmischer Ausgleich für Fehlverhalten im letzten Leben: Zu starkes Selbstgefühl könne nach der Wiedergeburt zu Cholera führen, sinnliche Ausschweifung zur Lungenentzündung. Wer im vorherigen Leben zu selten musiziert hat, leidet jetzt unter Asthma, wer zu wenig Interesse an den Sternen gezeigt hat, wird mit Bindegewebsschwäche gestraft. Keine Comedy, sondern Anthroposophie. Das Lachen vergeht einem allerdings endgültig, wenn man nachliest, mit welch okkultrassistischem Irrsinn der selbst ernannte Hellseher den Ursprung von Infektionskrankheiten „erklärt“: Bazillen und Viren sind für Steiner geistige Dämonen und Verwesungsprodukte untergegangener minderwertiger Völker wie der „Mongolenrasse“. Ihr verseuchter Astralleib infizierte bei den Völkerwanderungen die fortgeschrittene Rasse der Germanen.

Es helfen nur Globuli aus „Lichtsubstanzen“

Dieser Irrsinn wird von Anthroposophen anlässlich der Coronakrise neu aufgelegt, als Inspiration für den Umgang mit der Pandemie: Das Virus wird auch als spiritueller Angriff des Teufels auf die Menschheit gedeutet, der gerade seine Inkarnation vorbereite. Mit Geld und Macht, Lüge und Furcht mache er die Menschen erst empfänglich für das Virus. Gegen die teuflische Angst helfen Globuli aus „Lichtsubstanzen“ wie Meteor-Eisen. Sie werden zum Beispiel in anthroposophischen Kliniken verabreicht. Dem Meteoritenstaub wohnt laut Steiner eine Weltenkraft inne, mit der die Götter die teuflischen Kräfte im menschlichen Blut erfolgreich bekämpfen.

Zur Erinnerung: Diese anthroposophische „Medizin“ ist eine gesetzlich anerkannte Therapierichtung, zu der sich normale Mediziner weiterbilden lassen können, wenn sie ein von anthroposophischen Institutionen zertifiziertes Kursprogramm belegen. Aktuell kann man dort die „sieben Chakren und die Ätherprozesse“ studieren und Organeinreibe-Kurse auf Elba belegen. Einen wissenschaftlichen Nachweis ihrer Wirksamkeit wie herkömmliche Medikamente müssen die anthroposophischen Mittel nicht erbringen.

Überhaupt gehe es nicht darum, Krankheiten um jeden Preis zu besiegen, denn zu wertvoll seien die Erfahrungen des Leids. Wer alles Leiden aus der Welt schaffen wolle, der verhindere geistige Entwicklung im nächsten Leben, raunt es auf einer Coronatagung im Stuttgarter Rudolf-Steiner-Haus. Bislang verschließt man im Südwesten vor den esoterischen Abgründen der Steinerschen Lehre fest die Augen. Solange man offenen Antisemitismus und Rassismus vermeidet, sind die Anthroposophen wohlgelitten. Die grüne Landesspitze machte zum 100. Geburtstag der Waldorfschule brav ihre Aufwartung. Schließlich handelt es sich um einen schwäbischen Exportschlager. Dass ein ziemlich direkter Weg von den Pastellfarben der Waldorfschule zur finsteren Impfparanoia der Querdenken-Bewegung führt, wird in Stuttgart erst langsam Gegenstand einer kritischen Debatte.

Dietrich Krauss
Dr. Dietrich Krauss, geboren 1965 in Gerabronn, ist Redakteur und Autor der „Anstalt“ im ZDF. Dietrich Krauß wurde unter anderem mit dem Ernst-Schneider-Preis für Wirtschaftsfilm, dem Deutschen Comedypreis und dem Grimme-Preis ausgezeichnet.