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„America is back“ – really?

Titelthema - „America is back“ – really?
© Illustration: Brian Stauffer

Der Klimawandel, die transatlantischen Beziehungen und die Bedrohungen durch China – damit wird sich US-Präsident Joe Biden außenpolitisch beschäftigen. Doch sein Fokus liegt auf der Innenpolitik

Joshua D. Kertzer01.10.2021

Die amerikanische Außenpolitik hat ein hartes Jahrzehnt hinter sich: von wachsenden Spannungen mit Russland über einen gescheiterten Handelskrieg mit China bis hin zu wiederkehrenden Spannungen im transatlantischen Bündnis. Die jüngste Niederlage in Afghanistan, bei der die USA eine Billion Dollar und Deutschland fast 20 Milliarden Dollar ausgaben, nur damit die afghanische Regierung innerhalb von zehn Tagen gestürzt werden konnte, ist nur das jüngste Beispiel dafür, dass die globale Supermacht nicht bekommt, was sie will. Während Afghanistan eine Reihe von Lektionen über die Herausforderungen der Aufstandsbekämpfung vermittelt, ist eine der wichtigsten Lehren vielleicht die, was es über die Vereinigten Staaten selbst aussagt. In der amerikanischen Außenpolitik des 21. Jahrhunderts hat die Innenpolitik die Oberhand.

Lehren aus der Vergangenheit

Wenn Präsidenten Außenpolitik betreiben, spielen sie effektiv das, was der Harvard-Politologe Robert Putnam ein „zweistufiges Spiel“ nannte, das man sich wie eine Führungsperson vorstellen kann, die zwei Schachpartien gleichzeitig spielt. In der einen Partie verhandelt die Führungskraft mit Akteuren im Ausland, in der anderen tritt sie gegen Akteure im Inland an. Manchmal sind die Anreize der Führungspersönlichkeiten in beiden Spielen gleich: Im amerikanischen Kontext mussten beispielsweise Präsidenten wie Lyndon B. Johnson feststellen, dass ihre innenpolitische Agenda durch die wachsende Unpopularität des Vietnamkriegs zum Kentern gebracht wurde; Jimmy Carter musste aufgrund der verpfuschten Rettungsaktion in der iranischen Geiselkrise erhebliche Wahlkampfkosten zahlen. Was die Außenpolitik jedoch so herausfordernd macht, ist die Tatsache, dass die beiden Spiele den Führern manchmal entgegengesetzte Anreize bieten: Die Maßnahmen, die zu Gewinnen im Ausland führen, können zu Verlusten im Inland führen und umgekehrt.

Beim Rückzug der USA aus Afghanistan im August 2021 zeigt sich, dass die Regierung Biden dem innenpolitischen Spiel Vorrang vor dem außenpolitischen Spiel einräumt. Joe Biden, wie auch Donald Trump vor ihm, kandidierte mit dem Versprechen, die amerikanischen Truppen aus Afghanistan abzuziehen, und erkannte richtig, dass die Öffentlichkeit einem Konflikt, der die Steuerzahler in den letzten zwei Jahrzehnten mehr als zwei Billionen Dollar gekostet hat, verfallen war. Jüngste Meinungsumfragen des Pew Research Center deuten darauf hin, dass die amerikanische Öffentlichkeit die Entscheidung der USA, die Truppen aus Afghanistan abzuziehen, nach wie vor für richtig hält, auch wenn sie die Handhabung des Abzugs durch die Regierung Biden kritisiert. Außenpolitik aus innenpolitischem Kalkül

Bemerkenswerterweise entschied sich die Regierung Biden dafür, den Abzug aus Afghanistan voranzutreiben, obwohl die Taliban ihre Verpflichtungen aus der Doha-Vereinbarung nicht einhielten – auch weil dies den Vereinigten Staaten ermöglichte, Afghanistan rechtzeitig zum 20. Jahrestag der Terroranschläge vom 11. September zu verlassen. Die Abstimmung wichtiger außenpolitischer Maßnahmen auf den innenpolitischen Zeitplan ist keineswegs ein rein amerikanisches Muster. Die Politikwissenschaftler Nikolay Marinov von der Universität Mannheim und William Nomikos von der Washington University in St. Louis haben herausgefunden, dass Nato-Mitglieder ihre Truppenbeiträge für Afghanistan im Vorfeld von Wahlen im eigenen Land um durchschnittlich zehn Prozent gekürzt haben, um politische Kosten zu vermeiden, bevor  ihre Wähler zur Wahlurne gehen. Angesichts der überragenden Rolle, die die Vereinigten Staaten in den letzten 75 Jahren auf der Weltbühne gespielt haben, haben die Kosten, die entstehen, wenn amerikanische Regierungen sich der Innenpolitik beugen, jedoch weitreichendere Auswirkungen.

Nach dem Zweiten Weltkrieg arbeiteten die Vereinigten Staaten zusammen mit ihren Verbündeten am Aufbau dessen, was Experten häufig als „liberale internationale Ordnung“ bezeichnen: Sie errichteten das System der Vereinten Nationen mit seiner Betonung des Multilateralismus und der Rechtsstaatlichkeit, bauten die Nato mit ihrer Betonung der kollektiven Sicherheit auf und förderten die Liberalisierung des Handels und offene Märkte. Wie Skeptiker festgestellt haben, verfolgten die Vereinigten Staaten diese Grundsätze nicht immer konsequent, aber sie waren in der Lage, diese Führungsrolle zu übernehmen, weil ihre wirtschaftliche und militärische Macht sie dazu befähigte und weil in Washington ein parteiübergreifender Konsens darüber bestand, dass den amerikanischen Interessen am besten gedient war, wenn die USA eine aktive Rolle spielten. Diese parteiübergreifende Unterstützung machte amerikanische Zusagen glaubwürdiger, da ausländische Beobachter wussten, dass der Präsident beide Parteien hinter sich hatte – und daher darauf zählen konnten, dass sie ihre Öffentlichkeit mit ins Boot holen würden.

Und dann ist da noch die Pandemie

Zwar hat die politische Polarisierung in außenpolitischen Fragen in den Vereinigten Staaten noch nicht das Ausmaß der politischen Polarisierung in vielen innenpolitischen Fragen erreicht, doch der liberale internationale Konsens hat sich abgeschwächt. Der Aufstieg von Donald Trump mit seiner Vorliebe für Nativismus, Protektionismus und Unilateralismus hat zu diesem Rückgang beigetragen, war aber ebenso sehr ein Symptom wie eine Ursache für diesen Wandel.

Joe Biden mag verkünden, dass „Amerika zurück ist“ und sich wieder in der internationalen Gemeinschaft engagiert, aber das politische Kalkül des Afghanistan-Abzugs zeigt, wie empfindlich dieses Engagement auf innenpolitisches Kalkül reagiert. Wie Barack Obama, der nicht wollte, dass die Gesundheitsreform durch außenpolitische Missgeschicke in Geiselhaft genommen wird, hat auch Biden eine ehrgeizige innenpolitische Agenda und ein enges politisches Zeitfenster vor den Zwischenwahlen 2022, bei denen die Demokraten wahrscheinlich ihre Mehrheit im Kongress verlieren werden – und damit auch keine Chance mehr haben, ein wichtiges Gesetz zu verabschieden. Außerdem versucht Biden, sein Land durch eine globale Pandemie
zu führen. Mehr noch als Obama wird er sich seine Schlachten aussuchen und mit der internationalen Gemeinschaft zusammenarbeiten, wenn es den Wünschen seiner Basis entspricht, die es sich ersehnt, dass die USA in der Frage des Klimawandels an den Verhandlungstisch zurückkehren und die transatlantischen Beziehungen wiederherstellen – sowohl aus ideologischen Gründen als auch, weil dies bedeutet, das Erbe von Trump abzulehnen, der in der amerikanischen Politik nach wie vor eine zutiefst spaltende Figur ist. Auch stilistisch wird sich Bidens Außenpolitik stark von derjenigen Trumps unterscheiden, der die Außenpolitik durch eine transaktionale Brille betrachtete und oft seine eigenen Interessen mit denen des Landes verwechselte, das er führte.

Der Krieg geht weiter

Da er jedoch einer gespaltenen Nation vorsteht, wird Biden sich nur in begrenztem Maße aus dem Fenster lehnen können und darauf bedacht sein, die Kosten für die Vereinigten Staaten zu minimieren. So wird die unter Obama begonnene Umarmung des Drohnenkriegs und der kleinen Spezialeinheiten fortgesetzt, die zum Teil aus logistischen Erwägungen heraus erfolgte, aber auch das Risiko amerikanischer Opfer minimierte und dem Weißen Haus mehr Spielraum für Operationen gab, ohne die Aufmerksamkeit der amerikanischen Öffentlichkeit auf sich zu ziehen.

Auch wenn der Krieg in Afghanistan formell beendet ist, werden die dortigen Kämpfe gegen den „Islamischen Staat“ weitergehen – nur eben größtenteils unter dem Radar der Öffentlichkeit. Wie Obama, der seine außenpolitische Doktrin einst apokryph mit einem Satz beschrieb, den man als „Don’t do stupid stuff“ (Deutsch: kein dummes Zeug machen) entschärfen kann, wird Biden versuchen, sich selbst keine Wunden zuzufügen.

Bereit für China?

Biden hat versucht, den amerikanischen Rückzug aus Afghanistan mit dem Argument zu rechtfertigen, dass dadurch Ressourcen frei werden, die es den Vereinigten Staaten ermöglichen, China gegenüber härter aufzutreten. Dies ist zum Teil eine Funktion der Innenpolitik – so wie Obama 2007 seine Unterstützung für die Verlagerung von Ressourcen nach Afghanistan nutzte, um den Abzug aus dem Irak zu rechtfertigen –, spiegelt aber auch die wachsende Besorgnis in Washington über das wahrgenommene chinesische Durchsetzungsvermögen und das Gefühl wider, dass China die Verstrickung der USA in Afghanistan und im Irak ausgenutzt hat, um seine globale Reichweite zu vergrößern. Doch der Schatten der innenpolitischen Zwänge bleibt. Wenn die amerikanische Öffentlichkeit Afghanistan nicht ertragen konnte, ist ihre Bereitschaft, sich gegen China zu stellen – wo die potenziellen Kosten bei Weitem höher sind –, wahrscheinlich geringer, als Umfragen
vermuten lassen.

Joshua D. Kertzer
Joshua D. Kertzer ist Professor für Regierungslehre an der Harvard University, wo er amerikanische Außenpolitik, internationale Beziehungen und politische Psychologie lehrt.