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Gastbeitrag von Nadine Godehardt

Andocken – Diskursmacht – Versicherheitlichung

Gastbeitrag von Nadine Godehardt - Andocken – Diskursmacht – Versicherheitlichung
Den Warenverkehr von Asien nach Europa will China maßgeblich steuern und so seinen Einfluss in der Welt weiter ausbauen. © pixabay

Die „neuen Seidenstraßen“ stehen im Zentrum einer globalen Konnektivitätspolitik. So will China seine Sichtweisen in der internationalen Politik etablieren.

Nadine Godehardt01.12.2022

Vor knapp zehn Jahren kündigte der chinesische Staatspräsident Xi Jinping zwei „neue Seidenstraßen“ an. Nach seinen Reden in Kasachstan und in Indonesien im September und Oktober 2013 war nicht vorherzusehen, welch große Wirkung diese Initiativen sowohl auf die chinesische als auch auf die internationale Politik haben sollten. Die seit 2016 offiziell als „Belt and Road Initiative“ (BRI) bekannte Politik hat weltweit nicht nur für Aufsehen gesorgt, weil China in Staaten und Regionen investiert hat, die aufgrund hoher Risiken von westlichen Demokratien eher gemieden werden. Vielmehr hat die chinesische BRI auch ein Umdenken in der internationalen Politik befördert. Konnektivität wird hiernach nicht mehr als Selbstverständlichkeit verstanden, sondern Konnektivitätspolitik sowie der Wettbewerb um globale Konnektivität als ein zentraler Bestandteil eines neuen Typus von Geopolitik begriffen. Nach der Euphorie der ersten Jahre stellt sich gegenwärtig die Frage, welche Rolle die BRI in der chinesischen Außenpolitik zukünftig einnehmen wird, insbesondere vor dem Hintergrund der sich dramatisch gewandelten weltpolitischen wie innenpolitischen Lage. Die folgende Analyse zeigt, dass die BRI weiterhin, allerdings immer mehr in Ergänzung mit anderen Initiativen wie beispielsweise der Global Development Initiative (GDI) oder der Global Security Initiative (GSI), die Ausrichtung chinesischer Außenpolitik bestimmen wird. Entscheidend ist, dass China mithilfe seines geopolitischen Codes danach strebt, Weltpolitik im eigenen Sinne zu formen.

Von der Ankündigung zur globalen Vision: drei Phasen der BRI

Die Motivation für die BRI basiert auf einer Reihe von innen- und außenpolitischen Gründen. So greift die Idee der BRI auf die sozioökonomischen Erfahrungen und Erfolge des chinesischen Entwicklungsmodells zurück. Sie forciert beispielsweise die wirtschaftliche Entwicklung und den Infrastrukturausbau in den Ländern, die mit China ein Kooperationsabkommen oder eine Absichtserklärung im Rahmen der BRI unterzeichnet haben. Einige Experten argumentieren auch, dass die BRI eine Lösung für die industrielle Überkapazität der chinesischen Wirtschaft darstellt. Bis heute ist der Gedanke, chinesische Lösungen anzubieten, ein zentraler Bestandteil der BRI, auch wenn sich mittlerweile die Priorisierung von Entwicklung, Stabilisierung und Sicherheit im chinesischen Diskurs deutlich gewandelt hat. Gleichzeitig ist Chinas Infrastrukturaußenpolitik weiterhin eng mit der BRI verbunden, wobei chinesische Investitionen in Infrastrukturgroßprojekte seit 2019 deutlich zurückgegangen sind.

Außenpolitisch steht die BRI zunächst im Einklang mit der Vorstellung des damals „neuen Sicherheitskonzeptes“ von 1996, das darauf angelegt war, Stabilität durch den forcierten Aufbau wirtschaftlicher Kooperation zu garantieren. Es geht um den Ausbau der „freundlichen Nachbarschaftsbeziehungen“, auch wenn der geografische Raum der Initiativen nicht mehr nur auf die direkten Nachbarstaaten begrenzt war. Im Falle der Landweg-Initiative wird zum Beispiel rasch deutlich, dass die chinesische Führung ihre Politiken gegenüber Zentralasien, Westasien, dem Kaukasus oder der Schwarzmeerregion nicht mehr voneinander trennt, sondern den Eurasischen Raum mithilfe der BRI als Ganzes betrachtet. Die globale Ausdehnung sowie Geopolitisierung neuer Politikräume machten die BRI bald zu einem zentralen Instrument der Außenpolitik unter Xi Jinping.

Phase I: 2013–2015

Da sich der weltpolitische Kontext und folglich auch die Beziehungen zwischen den USA und China im vergangenen Jahrzehnt so drastisch verändert haben, ist es wichtig, auf die politische Situation zu Beginn der BRI zu blicken. Xi Jinping hatte mit den zwei Ankündigungsreden zur BRI 2013 seine Vorstellungen darüber geäußert, welche Inhalte chinesische Außenpolitik zukünftig prägen sollten. Gerade in den frühen Jahren seiner Amtszeit stand – ganz in der Tradition vorheriger Führungen – die Intensivierung der Beziehungen zur regionalen Nachbarschaft im Zentrum, etwa durch Auf- und Ausbau von Infrastruktur im Transport-, im Energie- und, zeitlich nachgelagert, im Kommunikationssektor. Von Anfang an schien die BRI auch geografisch deutlich mehr einzubeziehen als nur die direkten Nachbarstaaten. Der Rekurs auf den Seidenstraßen-Begriff war ein klares Anzeichen dafür. Für Peking ging es auch darum, neue Partner für die chinesische Politik im Rahmen der BRI zu gewinnen. Geopolitisch diente die BRI wohl zunächst auch dazu, sich aktiver gegenüber der Außenpolitik anderer Großmächte, vor allem der USA und Russlands, zu positionieren und eine alternative Politik anzubieten. So können die Seidenstraßeninitiativen gerade zu Beginn auch als Reaktion auf die damalige Politik der US-Regierung verstanden werden, die ein strategisches „Rebalancing to Asia“ forcierte und damit Verhandlungen über eine transpazifische Handelspartnerschaft vorantrieb (TPP), an denen China nicht teilnahm. Zu dieser Zeit war die Tragweite der BRI letztlich auch in China noch umstritten, wie sich an Diskursen zwischen Experten für Internationale Beziehungen und Außenpolitik oder Regionalexperten zeigte. Ersteren ging es darum, für Chinas Außenpolitik eine ausdifferenzierte Strategie zu entwickeln. Insbesondere die Ausdehnung der Beziehungen nach Eurasien wurde zu diesem Zeitpunkt als ein wichtiger Baustein für eine Globalstrategie verstanden. Insgesamt waren in diesen Debatten die USA als Referenzpunkt chinesischen Handelns meist gesetzt. Für die Regionalexperten war die BRI dagegen vor allem eine Initiative mit regionaler Reichweite. Im Vordergrund stand die wirtschaftliche und infrastrukturelle Verknüpfung der chinesischen Grenzprovinzen mit den Nachbarregionen. Die Hoffnung spielte mit, Chinas Rolle, beispielweise in Zentralasien, nachhaltig zu festigen und die sinophobischen Tendenzen zu reduzieren. Zentral war hierfür ihrer Ansicht nach, dass alle beteiligten Gesellschaften einen tatsächlichen Nutzen von der BRI haben sollten.

In Deutschland und Europa ist die politische Tragweite der Seidenstraßeninitiativen zu diesem Zeitpunkt nicht erkannt worden. Die ersten Auseinandersetzungen mit Chinas Megaprojekt fanden vor allem auf technischer Ebene statt. Im Fokus stand dabei die Landwegroute vom Westen Chinas über Zentralasien bis hin nach Europa, die insbesondere in der Logistikbranche auf Interesse stieß. Es ist daher wenig überraschend, dass 2015 die sogenannte EU-China-Konnektivitätsplattform auf den Weg gebracht wurde, über die gemeinsame Kooperationsprojekte im Bereich der Transportinfrastruktur zwischen China und Europa (Eurasien) identifiziert werden sollten. Zu diesem Zeitpunkt symbolisierte die Konnektivitätsplattform die vorherrschende Sichtweise auf Chinas Seidenstraßeninitiativen. Sie galten weniger als eine politische Vision, sondern vielmehr als ein technisches Mittel, um Chinas physische Konnektivität in der erweiterten Nachbarschaft zu verbessern.

Phase II: 2015–2020

Dies hatte auch damit zu tun, dass gerade in den ersten Jahren der Machtübernahme durch Xi Jinping so viele neue Initiativen verkündet wurden, dass es von außen nicht so einfach ersichtlich war, welche am Ende seine Politik nachhaltig prägen würden. Recht schnell stellten die neuen Seidenstraßen dann alles in den Schatten, was bis dahin von einer chinesischen Regierung für die Politik gegenüber der Außenwelt vorgeschlagen wurde. Die BRI war der Beginn einer größeren „China-Erzählung“, aus der sich ablesen lässt, wie chinesische Eliten die gegenwärtige und zukünftige Rolle ihres Landes in der Welt verstehen. Entscheidend für diese Sichtweise ist, dass sich die geografische wie politische Reichweite der BRI ab 2014/15 deutlich vergrößert hat und der globale Anspruch Chinas damit sichtbarer geworden ist. Seither hat sich die chinesische Außenpolitik in eine „globale Konnektivitätspolitik“ transformiert.

„Konnektivität“ ist dabei kein politischer Begriff, der von Peking prominent eingeführt worden wäre, etwa im Sinne eines außenpolitischen Ziels oder einer neuerlichen Initiative. Die Entscheidung dafür, Chinas Außenpolitik wissenschaftlich unter diesem Terminus zu fassen, basiert vielmehr auf einer Analyse sprachlicher Formulierungen, die sich im außenpolitischen Diskurs des Landes über einen bestimmten Zeitraum hinweg entwickelt und manifestiert haben. Mittels diachronischer Textanalyse zeigt sich, dass Begriffe wie „Nachbarschaft“ an Bedeutung verlieren und dagegen andere geografische Kategorien wie „global“ oder eben „Konnektivität“ bedeutender werden. Deutlich wird dies auch im 2015 veröffentlichen Aktionsplan der BRI, in dem die geografische wie sektorübergreifende Reichweite der Initiative bereits stärker betont wird. Neben den BRI-Projekten steht die Diskussion über die BRI sinnbildlich für die veränderte Außenpolitik unter Xi Jinping, in der es immer mehr darum geht, die Welt an China – zu chinesischen Bedingungen – anzudocken, anstatt China weiter in die (noch) bestehende liberale internationale Ordnung zu integrieren. Chinas globale Konnektivitätspolitik ist ein Beispiel für den Versuch, ein neues hegemoniales Projekt sowie eine räumliche Neuordnung zu etablieren.

An zwei Elementen der chinesischen Konnektivitätspolitik wird besonders deutlich, wie sich Chinas Vorstellungen von der etablierten liberalen Sichtweise auf die internationale Ordnung, von ihren Normen, Standards sowie Entwicklungs- und Kooperationsmechanismen unterscheiden. Das erste Element ist die Ausrichtung der chinesischen Außenpolitik auf eine multidimensionale Räumlichkeit, die ihren Ausgangspunkt in der BRI hat. Dieses Projekt steht vor allem für eine Verknüpfung von räumlichen Strukturen wie etwa Wirtschaftskorridoren, physischen und digitalen Ökosystemen, Verkehrs- oder Infrastrukturknotenpunkten, Sonderwirtschaftszonen oder weiteren Verbindungen mit verschiedenen techn(olog)ischen Dimensionen, beispielsweise digitalen Bezahlsystemen, neuen Satellitennavigationssystemen, 5G-Mobilfunknetzwerken oder globalen Energieverbindungen. Eine solche Geopolitisierung räumlich-technischer Strukturen hat das Potenzial, die Geografie der internationalen Politik mittelfristig zu transformieren und teilweise in einem chinesischen Sinne zu prägen. Verstärkend wirkt dabei das zweite Element. Es besteht darin, dass eine Vielzahl chinesischer Akteure wie Regierungs- und Parteiorgane oder Unternehmen diese Knotenpunkte der Konnektivität zu einer strategischen Angelegenheit von Geopolitik machen. Dies unterstreicht, wie fragil die räumlichen Repräsentationen in der gegenwärtigen internationalen Ordnung sind. Sichtbar wird, dass chinesische Akteure neue politische Räume schaffen und Konnektivität als „Wert an sich“ etablieren, ohne dabei existierende liberale (Wert-)Vorstellungen zu integrieren.

Im Zeitraum von 2015 bis 2020 haben sich die deutsche und europäische Politik gegenüber der BRI und China insgesamt stark verändert. Vor dem Hintergrund der weltpolitischen Veränderungen, Donald Trumps Amtszeit als 45. Präsident der USA, der globalen Zunahme von Tendenzen der Entdemokratisierung sowie den deutlichen Veränderungen der chinesischen (Außen-)Politik unter Xi Jinping sind zwei Entwicklungen hervorzuheben: zum einen der zunächst eher zaghafte Versuch der EU, mit der Verabschiedung der „EU-Asien-Konnektivitätsstrategie“ zusammen mit anderen asiatischen Partnern einen nachhaltigen, umfassenden und regelbasierten Ausbau von Konnektivität zu gewährleisten. Zum anderen hat die EU in einem Strategiepapier vom März 2019 ihre China-Politik neu ausgerichtet. Das Dokument beendet die Wahrnehmung Chinas als Entwicklungsland und betont Chinas Status als globaler Akteur und führende Technologiemacht. Ferner wird China nicht nur als „Partner“ und „Wettbewerber“, sondern das erste Mal in einem offiziellen EU-Dokument auch als „systemischer Rivale“ bezeichnet. Dieser Dreiklang ist bis heute allgegenwärtig und wird auch in der deutschen China-Strategie, die bis zum Sommer 2023 fertiggestellt werden soll, eine entscheidende Rolle spielen.

Phase III: 2020 fortlaufend

Die Entwicklungen der vergangenen Jahre, vor allem die Covid-19-Pandemie und ihre Auswirkungen, die Klimakrise sowie der russische Angriffskrieg auf die Ukraine, haben die weltpolitische Lage nochmals gravierend verändert. Auch die chinesische (Außen-)Politik kann nicht unabhängig von dieser Situation betrachtet werden. China ist Globalmacht, ein aktives Mitglied in internationalen Organisationen, und chinesische Akteure sind mittlerweile in jeder Weltregion vertreten. Darüber hinaus haben viele internationale Themen, Institutionen oder Akteure durch einen Bezug zu China eine stärkere globale Beachtung erfahren, etwa das Internationale Olympische Komitee, die Weltgesundheitsorganisation, das Weltwirtschaftsforum oder internationale Standards. Der entscheidende Punkt ist aber, dass China zunehmend eine eigene Vorstellung von „Globalität“ entwickelt, das heißt davon, wie die Welt räumlich und geografisch strukturiert sein sollte, um eine größere Kompatibilität mit den Zielen der Kommunistischen Partei Chinas (KPCh) herzustellen.

Dies ist in erster Linie möglich, weil wir uns inmitten einer Phase befinden, in dem die liberale internationale Ordnung ihren Kulminationspunkt endgültig überschritten hat. Begriffe wie „Zeitenwende“ drücken dies im Kern aus. Sie verdeutlichen: Was vormals galt, gilt nicht mehr. Mit Antonio Gramsci könnte man auch von einem „Interregnum der Weltordnung“ sprechen. Dabei beschreibt das Interregnum ein Zeitalter geprägt von Krisen, Durcheinander, Unsicherheiten und Verunsicherung, in dem Strukturen der liberalen internationalen Ordnung weiterhin existieren, auch teilweise noch funktionieren, aber gleichzeitig in vielen Momenten nicht mehr für ausreichend Stabilität und Sicherheit sorgen können. „Interregnum“ steht folglich für eine noch nicht komplett zerrissene Ordnung; eine Situation, in der noch nicht absehbar ist, wie neue Ordnungen der Zukunft aussehen werden.

All diese Unsicherheiten haben Nischen in der etablierten Ordnung entstehen lassen, in denen Institutionen und Mechanismen nicht mehr so funktionieren wie gewohnt. Diese legen bestimmte Bereiche offen, die weniger stark im liberalen Wertesystem verankert sind. Der chinesischen Regierung bietet sich so immer wieder die Möglichkeit, eigene Ideen und Vorschläge in einzelne Kontexte der internationalen Politik einzubringen und Bestandteile der bisherigen Ordnung umzuformen.

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China hat in einem Jahr seine Exporte in den globalen Süden verdoppelt und damit seine Kasse gefüllt ©Pixabay

Geografisch spiegelt sich dies darin wider, dass für die chinesische Regierung der Austausch mit Ländern Afrikas, Lateinamerikas und Südostasiens weiterhin von hoher Bedeutung ist und nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine intensiviert wurde. So erhalten politische Gipfeltreffen im Rahmen der BRICS, dem China-Afrika-Forum FOCAC oder der Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SCO) größte Aufmerksamkeit in den chinesischen Medien. Diese Verbindungen unterstreichen, dass China global nicht allein dasteht. Außerdem haben sich Chinas Exporte in die größten Länder des Globalen Südens (unter anderem Indonesien, Indien, Vietnam) von Juni 2021 bis Juni 2022 verdoppelt. Beachtenswert in diesem Zusammenhang sind auch die chinesischen Investitionen im Digitalsektor in Afrika. Chinesische Unternehmen, allen voran Huawei, sind in vielen Bereichen der modernen Kommunikationsinfrastruktur bereits dominierend: Sie bauen Datencenter, E-Commerce-Center, 5G-Netze oder Unterwasser-Glasfaserkabel.

Global manifestiert sich der chinesische Anspruch in zwei weiteren zentralen Initiativen: der Global Development Initiative (GDI) und der Global Security Initiative (GSI). Die GDI verstetigt Aspekte, die bereits seit 2017/18 intensiv den akademischen Diskurs in China dominieren. Dies umfasst die Frage nach der Nachhaltigkeit von BRI-Projekten und wie diese besser mit den Sustainable Development Goals (SDG) der Vereinten Nationen verknüpft werden könnten. Allerdings werden mit der GDI auch chinesische Sichtweisen von „Entwicklung“ prominent im globalen Diskurs platziert. Damit einher geht beispielweise das Verständnis von wirtschaftlicher Entwicklung als Voraussetzung für Menschenrechte (im Kontrast zu den universellen Menschenrechten) und ein Plädoyer für „echten Multilateralismus“ und „Inklusivität“ in der Entwicklungskooperation. Die GDI wird die BRI nicht ablösen, sondern unterstreicht vielmehr ihren globalen Anspruch. Auf die GSI komme ich noch zu sprechen. Letztlich sind beide Initiativen Instrumente, um die zukünftige Weltordnung in einem chinesischen Sinne zu formen.

Aufgrund der weltpolitischen Entwicklungen und innenpolitischen Folgen haben sich die Inhalte der BRI ebenfalls verschoben. Es ist deutlich erkennbar, dass der Hype der ersten Jahre vorbei ist. Große Investitionen in alle nur vorstellbaren Infrastrukturprojekte, oftmals in risikobehafteten Kontexten, haben in den vergangenen Jahren deutlich abgenommen. Abgesehen davon müssen sich auch chinesische Akteure letztlich mit lokalen Herausforderungen, wie Schwierigkeiten beim Landerwerb für den Bau von Bahnstrecken oder Regierungswechsel in Empfängerländern, auseinandersetzen. Insgesamt stabilisiert sich das BRI-Engagement auf niedrigem Niveau.

Geopolitischer Code der chinesischen Außenpolitik

Vor dem Hintergrund der globalen Veränderungen ist es umso wichtiger, die Prinzipien zu analysieren, die die chinesische Außenpolitik unter Xi Jinping prägen. Zentral dabei sind die Fragen, wie die chinesische Führung ihre Rolle in der internationalen Politik versteht und wie sie sich zur Welt orientiert. Dieser geopolitischer Code Chinas ist die Statik der chinesischen Außenpolitik und illustriert die chinesische Denkweise in Zeiten der „Zeitenwende“. 

Andocken

Das Prinzip „Andocken“ hat im innerchinesischen Diskurs seit etwa 2015/16 die politischen Begriffe von „Anpassung“ an und „Integration“ in das internationale System abgelöst. Gegenüber dem nationalen Publikum signalisiert die Verwendung von „Andocken“ folglich, dass die Tage einer passiven Integration Chinas vorüber sind. In diesem Sinne gibt Andocken die Wirkrichtung chinesischer Politik vor: weniger Anpassung an internationale Normen und Praktiken, dafür proaktives Werben für die Erfolge des eigenen Entwicklungsmodells. Es forciert daher eine deutlich progressive Politik unter Xi Jinping. Für das ausländische Publikum ist der Unterschied zwischen Kooperation und Andocken im ersten Moment nicht immer deutlich zu erkennen. Schließlich geht es beim Andocken ebenfalls um eine Form der Kooperation oder Verbindung zwischen China und den Akteuren des internationalen Systems. Allerdings stellt Andocken Konnektivität her, ohne eine vorherige Anpassung der chinesischen Seite an internationale Normen und Konventionen vorauszusetzen. Folglich verändert das Prinzip die chinesische Außenpolitik in zweierlei Hinsicht.

Erstens enden damit die Diskussionen über Chinas Integration in die internationale Ordnung, insbesondere sofern diese unter der Voraussetzung einer Transformation des politischen Systems erfolgen sollte. Zweitens wandelt sich mit Andocken die Wirkrichtung chinesischer Politik. Das Prinzip impliziert ein proaktiveres Vorgehen chinesischer Akteure mit dem Ziel, dominante (liberale) Normen, Standards und Werte beispielsweise durch die Etablierung von China+X-Mechanismen wie beispielsweise FOCAC, BRICS, China+Central Asia/C+C5 umzugestalten. Damit soll eine internationale Ordnung geschaffen werden, die besser mit den Zielen der KPCh vereinbar ist. Entscheidend ist also nicht mehr die Kompatibilität Chinas mit der Welt, sondern die Kompatibilität der Welt mit China.

Diskursmacht

Unter Xi Jinping hat der Begriff „Diskursmacht“ sowohl im politischen als auch im akademischen Diskurs deutlich an Bedeutung hinzugewonnen. Nutzung von Diskursmacht meint nicht nur, auf internationalem Parkett eine eigene Sprache und eigene Begrifflichkeiten einzuführen. Es geht auch darum, alle möglichen Kanäle und Orte der Politik zu rekonfigurieren, sowie die materielle Wirklichkeit der internationalen Kommunikation durch den Aufbau neuer oder die Erweiterung bestehender Infrastruktur zu verändern. Darüber hinaus wird in Peking oft sorgfältig überlegt, welche Konzepte der westlich-liberalen Weltordnung sich mit Chinas eigenem Diskurssystem in Beziehung setzen lassen. Eine weitere Rolle spielt dabei die Sichtweise, dass globales Wissen nicht mehr nur im Globalen Norden produziert wird. So sieht China bei bestimmten Begriffen wie „Gemeinschaft“, „Entwicklung“, „Inklusivität“, „Menschenrechte“, „Sicherheit“ oder dem „Kampf gegen die Deglobalisierung“ die Möglichkeit, deren Verwendung global zu prägen. Die Kunst besteht darin, vorhandene Formulierungen inhaltlich so zu verändern, dass sie von anderen Regierungen selbst in einem chinesischen Sinne genutzt werden, ohne dass es sofort offensichtlich wird. Ein solches Vorgehen lässt vermuten, dass chinesische Akteure, gerade unter Xi Jinping, die inhaltliche Ausrichtung von Dialogmechanismen mit externen Akteuren immer häufiger den Vorstellungen der Parteiführung anpassen.

Versicherheitlichung

Zentral für den geopolitischen Code Chinas ist ferner, dass unter Xi Jinping zunächst im nationalen, dann auch im außenpolitischen Kontext eine extreme Versicherheitlichung der Politik stattgefunden hat. Kurzum und stark vereinfacht: Alles ist ein Sicherheitsproblem. Das Prinzip der Versicherheitlichung charakterisiert die Politik unter Xi Jinping fortwährend. Innenpolitisch lässt sich dies daran ablesen, dass Xi Jinping bereits in einer seiner ersten Reden im April 2014 für ein „umfassendes Konzept von nationaler Sicherheit“ plädiert hat. Das Konzept bezieht sich sowohl auf interne wie externe Sicherheit, betont traditionelle Bereiche wie Militärsicherheit oder politische Sicherheit und nicht-traditionelle Bereiche wie kulturelle oder ökologische Sicherheit. Gleichzeitig deutet sich hier auch schon eine weitere Veränderung in der chinesischen Denkweise an, denn unter dem „umfassenden Konzept nationaler Sicherheit“ verstärken sich Entwicklung und Sicherheit gegenseitig. Dies ist eine Abkehr vom „Entwicklung zuerst“-Prinzip, dem Fokus auf die wirtschaftliche Entwicklung als Voraussetzung nationaler Sicherheit. Schon frühzeitig in seiner Amtszeit betonte Xi Jinping somit die zentrale Bedeutung von Sicherheit für die kontinuierliche wirtschaftliche Entwicklung Chinas. Seit 2020 ist die Gleichstellung von Sicherheit und Entwicklung auch im offiziellen Parteisprech integriert.

Die Akzentuierung der nationalen Sicherheit als eine entscheidende Grundlage für ein besser entwickeltes und sicheres China hört an den Grenzen des Landes nicht auf. So verkündete Xi Jinping erst kürzlich die bereits erwähnte GSI im Rahmen des virtuellen Boao-Forums, eine Art asiatischem Weltwirtschaftsforum. Hierbei übertrug Xi Jinping zentrale Aspekte des innerchinesischen Diskurses über Sicherheit auf die weltpolitische Lage und betonte, dass die Gewährleistung von Sicherheit eine zentrale Voraussetzung für Entwicklung sei. Die GSI ist Chinas Antwort auf die zunehmenden globalen und geopolitischen Sicherheitsherausforderungen. Dabei sind die Inhalte nicht unbedingt neu, aber in Kombination mit der 2021 verkündeten GDI wird deutlicher, dass sich innen- und außenpolitische Instrumente chinesischer Politik immer mehr angleichen. Neu ist aber, dass die innere wie äußere Versicherheitlichung ein Fundament dafür bietet, dass die chinesische Führung nicht nur dazu bereit ist, ein gewisses Risiko einzugehen, um ihre zentralen Sicherheitsinteressen im Ausland durchzusetzen – was sie beispielsweise im Falle Taiwans bereits macht. Die GSI bietet auch den Rahmen dafür, dass die chinesische Führung perspektivisch das Risiko eines wirtschaftlichen Rückschlags in Kauf nehmen könnte, um Stabilität in Regionen außerhalb der unmittelbaren Nachbarschaft Chinas durchzusetzen; Orte, in denen gerade im Rahmen der BRI viel investiert wurde, beispielsweise am Horn von Afrika.

Fazit und Ausblick

In den zehn Jahren unter der Führung Xi Jinpings hat sich die Ausrichtung der chinesischen Außenpolitik deutlich verändert. Die drei Phasen der BRI zeigen auf, wie sich Chinas Orientierung zur Welt immer weiter von „westlich“ geprägten Vorstellungen einer liberalen internationalen Ordnung entfernt hat. Dies ist auch ein Indikator der „Zeitenwende“ oder des „Interregnums der Weltordnung“. Chinas Neuorientierung unterstreicht ein wichtiges Element unserer Zeit, und zwar den Wettbewerb von konkurrierenden geopolitischen Vorstellungen darüber, wie die Welt in Zukunft politisch und räumlich geordnet sein könnte. Die BRI und daran anknüpfend die GDI und GSI repräsentieren strategische Instrumente, die es chinesischen Entscheidungsträgern ermöglichen, eine bestimmte Sichtweise von „Entwicklung“, „Konnektivität“ oder „Sicherheit“ in der Welt zu vermitteln. Chinas geopolitischer Code, der geprägt ist von den drei Prinzipien Andocken, Diskursmacht und Versicherheitlichung, schafft den Kontext dafür, dass strategische Instrumente wirken können. Ohne Verständnis dieser Prinzipien ist die Wirkung chinesischer Außenpolitik kaum nachvollziehbar und eine strategische Neuausrichtung deutscher Politik gegenüber China bleibt unzureichend.

Nadine Godehardt

Nadine Godehardt von der Stiftung Wissenschaft und Politik ist Asienexpertin mit dem Schwerpunkt China und seiner geostrategischen Politik. Die Politikwissenschaftlerin ist seit 2013 bei der Stiftung und seit 2015 Mitherausgeberin der Buchreihe "Routledge Studies on Challenges, Crises and Dissent in World Politics".

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