Standpunkt
Anstand – Plädoyer für einen unzeitgemäßen Wert
Rotarier dürfen die Verrohung unserer Gesellschaft nicht tatenlos hinnehmen.
Was geht in unserer Gesellschaft aktuell vor? Uns jedenfalls beschleicht ein beklemmendes Gefühl, wenn wir morgens die Zeitung aufschlagen, die Nachrichten verfolgen oder uns in sozialen Netzwerken bewegen. Mit großer Sorge nehmen wir wahr, dass sich soziale Konflikte zuspitzen und das gemeinsame Wertefundament unserer Demokratie zu bröckeln beginnt. Die Schärfe der Auseinandersetzungen, die Massivität von Schuldzuweisungen, der Ruf nach einfachen Lösungen, die grassierende Wut und der bis zum Mord gesteigerte Hass in den sozialen Netzwerken – all das deutet auf eine einschneidende Erosion unserer Gesellschaft hin. Die Liste ist noch länger: Lüge, Fake News, Verschwörungstheorien, Täuschung, Betrug, Beleidigung, Beschimpfungen, Pöbeleien, Fremdenfeindschaft, Gewalt, Glaubwürdigkeitskrise wirtschaftlicher und politischer Eliten: Symptome, dass sich unsere Gesellschaft auf einem Weg der Verrohung befindet. Sie entfernt sich zunehmend von den Grundprinzipien unserer Verfassung, der Unantastbarkeit menschlicher Würde und der Geltung des Rechts. Die Gründe dafür sind vielfältig. Sie müssen in einem sorgfältigen Diskurs erhoben und bedacht werden.
Wenn wir im Sinne unseres Selbstverständnisses wahrhaftig bleiben wollen, können wir nicht schweigend hinnehmen, dass sich unsere Gesellschaft auf einer schiefen Ebene befindet.
Es ist an der Zeit, dass sich Rotary in der gegenwärtigen kritischen Situation positioniert
Nein – wir meinen nicht politische Interventionen. Das ist nicht Aufgabe der rotarischen Gemeinschaft. Es geht uns um die Wiederentdeckung eines individuellen Verhaltens, das sich mit dem Begriff „Anstand“ benennen lässt.
- Wir meinen, dass „Anstand“ ein probates „Gegengift“ gegen die Verrohung der sozialen Beziehungen sein kann.
- Wir sehen in dem Begriff „Anstand“ eine aktualisierte Form des rotarischen Ziels „Dienstbereitschaft im täglichen Leben“, das mit den vier Fragen zur Selbstprüfung anleitet.
- Wir treten dafür ein, „Anstand“ als zentrale Kategorie verantwortlichen Handelns in der Zivilgesellschaft wiederzugewinnen.
Uns ist bewusst, dass dieser Begriff eine durchaus wechselvolle und ambivalente Geschichte hat und von den Nationalsozialisten zur Verharmlosung des Holocausts auf das Schändlichste missbraucht wurde. Dennoch sollte „Anstand“ als Leitwert zivilen Verhaltens nicht preisgegeben werden.
Wer von Anstand spricht, muss sagen, was er damit meint
Anstand umfasst für uns ein Verhalten, das von Achtung vor der Würde des jeweils anderen geprägt ist. Dazu gehört negativ, alles zu vermeiden, was Menschen erniedrigt, täuscht, belügt, beschämt, übervorteilt, ausgrenzt, mobbt, angreift, verletzt, tyrannisiert, schikaniert und einschüchtert. Positiv zeichnet sich Anstand dadurch aus, dass Menschen fair, wahrhaftig, gleichwertig, respektvoll und empathisch behandelt werden – genau so, wie man es für sich selbst auch wünscht. Wer Anstand hat, beschränkt sein Handeln nicht auf das Legale, sondern greift darüber hinaus, weil er überzeugt ist, dass eine menschenwürdige Gesellschaft auf die Achtung aller vor allen angewiesen ist. Anstand ist das, was unsere Gesellschaft lebenswert macht und was sie davor bewahrt, in die Barbarei zu versinken.
Jenseits aller politischen Positionen, Kontroversen und Optionen setzen wir darauf, dass die glaubwürdige und aufrechte Haltung vieler Einzelner den skizzierten Entwicklungen Einhalt gebieten kann. Dazu kann Rotary einen starken Beitrag leisten. Eine Vielzahl unserer Mitglieder ist in Führungspositionen tätig und hat auf unterschiedlichen Ebenen meinungsbildenden Einfluss in Wort und Tat. Nutzen wir dieses Potenzial!
Deshalb haben wir unser Plädoyer in die Form eines Aufrufs unter dem Titel: „Wider die Verrohung unserer Gesellschaft – für die Wiederentdeckung von Anstand in Gesellschaft, Wirtschaft und Politik“ gefasst. Der Aufruf mündet in einer persönlichen Erklärung, mit der Rotarierinnen und Rotarier ihre Bereitschaft dokumentieren können, „Anstand“ in ihren konkreten Lebensbereichen zu praktizieren.
Wir überlegen, unser Manifest als zivilgesellschaftliche Initiative in den Clubs vorzustellen und in der Öffentlichkeit bekannter zu machen, und würden uns über Ihre Meinungen dazu freuen. Mehr dazu unter rotary.de/a15118.
Zur Person
Dr. Otto Foit, RC Detmold-Blomberg, ist Geschäftsführer i.R. des Herz- und Diabeteszentrum NRW und Mitglied in Aufsichtsgremien gemeinnütziger Einrichtungen.
Dr. Gabriele Obst, Rotaract Bad Bentheim, ist Leiterin des Evangelischen Gymnasiums Nordhorn und engagiert sich im jüdisch- christlichen Dialog gegen Antisemitismus.
Diskutieren Sie mit und beteiligen Sie sich an unserer Meinungsumfrage zu diesem Standpunkt: www.rotary.de/#umfrage