Titelthema
Appetit auf Alternativen
Das Fleisch der Zukunft kommt aus Bioreaktoren, Gewächshäusern und von der Biowiese.
Über sechs Jahre ist es her, dass ich – weltweit über unzählige Fernsehstationen live übertragen – den ersten In-vitro-Burger verkosten durfte. Genau genommen war es keine Burger-Verkostung, sondern nur ein Bissen von dem Patty, das traditionell aus Rinderhackfleisch besteht und Herzstück eines klassischen Hamburgers ist. Nur dass dieses Patty aus im Labor gezüchteten Muskelzellen zusammengesetzt war. Und ich erinnere mich noch, dass wir damals in Anlehnung an den berühmten Ausspruch von Neil Armstrong bei der ersten Mondlandung scherzhaft gesagt haben: „That‘s one small bite for a woman, one giant leap for mankind.“
Die Verkostung der von Mark Post und seinem Team an der Universität von Maastricht im Labor kultivierten und ganz konventionell in der Pfanne angebratenen Rindfleisch-Scheibe fand nicht zufällig in London statt. Hier hatte Winston Churchill 1931 in seinem Essay „Fifty Years Hence“ prophezeit, dass wir in Zukunft „von dem Unsinn abkommen (werden), ein ganzes Huhn zu züchten, um die Brust oder den Flügel zu essen, und diese stattdessen in einem geeigneten Medium züchten.“
Es hat zwar etwas länger als 50 Jahre gedauert, um genießbare Fleischzellen von Rindern, Schweinen, Hühnern oder Fischen in der Petrischale heranwachsen zu lassen, nun aber reifen weltweit die ersten „Früchte“ des giant leap in der Biotechnologie in diversen Testreaktoren. Nicht nur in den Niederlanden – wo Mark Post in der Folge die Firma Mosa Meat gegründet hat, um kultiviertes Fleisch zur Marktreife zu bringen –, auch in den USA (unter anderen Memphis Meats, Just, New Age Meats und Finless Foods), in Israel (zum Beispiel Aleph Farms und Super Meat), in Japan, Singapur, Kanada und China. Mittlerweile hat die Forschung weitere große, auch prozesstechnische, Fortschritte gemacht. Die Herstellungskosten für die Ende 2018 vorgestellte In-vitro-Wurst von New Age Meats belaufen sich nach Angaben des Produzenten nur mehr auf circa 200 Dollar. Das ist zwar verglichen mit den 250.000 Dollar, die das 2013 von mir verkostetete Patty wert war, ausgesprochen günstig, aber immer noch zu teuer, um schon jetzt zum Verkaufsschlager zu werden. Aber es zeigt die Richtung an, in die sich die Preise mittelfristig bewegen könnten. Auch dank der mehrstelligen Millionenbeträge an (vor allem privatem) Beteiligungskapital, die es den jungen Unternehmen ermöglichen sollen, die nach wie vor bestehenden (bio-)technologischen Hürden, die einer Massenproduktion und Marktreife von kultiviertem Fleisch noch entgegenstehen, schneller zu überwinden.
Parallel dazu werden auch die Informations- und Marketinganstrengungen forciert, um die lebensmittelrechtlichen Rahmenbedingungen zu schaffen und die Vorbehalte vieler Konsumenten gegenüber „Laborfleisch“ abzubauen. Vorbehalte, die sich insbesondere im deutschsprachigen Raum hartnäckig halten. Die Rede vom „Frankenburger“ war schon nach der Verkostung in London das mediale Echo, das fast nur in deutschen und österreichischen Medien deutlich vernehmbar war und die tief liegende Skepsis gegenüber dem Einsatz neuer Technologien bei der Nahrungsmittelproduktion widerspiegelt. Dies liegt zu einem guten Teil am mangelnden Verständnis der bei In-vitro-Fleisch zur Anwendung kommenden Prozesse, die fälschlicherweise immer wieder mit Gentechnik in Verbindung gebracht werden. Im deutschsprachigen Raum, wo dafür auch deutlich weniger Forschungsgelder zur Verfügung gestellt werden, wird Laborfleisch daher noch länger auf auch kulturell bedingte Widerstände treffen.
Eine Frage der Kommunikation
Anders in den USA: Das amerikanische Landwirtschaftsministerium und die Lebensmittelbehörde FDA veröffentlichten Anfang dieses Jahres die Eckpunkte für künftige Regeln im Umgang mit durch Zellkulturen erzeugtem Fleisch. Schon länger hat sich im angloamerikanischen Raum auch eine neue Sprachregelung etabliert, die die Akzeptanz von In-vitro-Fleisch bei Konsumenten erleichtern soll: Laborfleisch wird zunehmend unter dem Begriff „Clean Meat“ vermarktet, also „sauberes“ Fleisch – in Abgrenzung von der zunehmend unter Kritik geratenen Praxis traditioneller, industrieller Produktion. Aber „sauber“ auch deshalb, weil im Idealfall, das heißt bei einer Verwendung von Nährmedien, die ohne fötales Kälberserum auskommen, ohne Tierleid produziertes, weniger Treibhausgase verursachendes und – Stichwort: Boden- und Wasserverbrauch – ressourcenschonenderes Fleisch.
Mal abgesehen von gesundheitlichen Aspekten, die stets mit dem Verzehr von (rotem) Fleisch thematisiert werden, zielt die neue Sprachregelung auf zentrale und zugleich emotionale Probleme, die im Diskurs um die Zukunft der Ernährung und den Wandel unserer Esskultur immer dringlicher werden. Schon heute beansprucht die Viehzucht direkt und indirekt (Futtermittelproduktion) weltweit 70 Prozent des gesamten landwirtschaftlich genutzten Landes und 30 Prozent der Landoberfläche dieses Planeten. Neun Prozent des vom Menschen verursachten Kohlendioxids werden durch die Fleischproduktion freigesetzt, außerdem 37 Prozent des anthropogenen Methans sowie 65 Prozent der Stickoxide, hauptsächlich durch die Verwendung von Dünger. Des Weiteren ist die Viehzucht verantwortlich für fast zwei Drittel der anthropogenen Ammoniakemissionen, die signifikant zur Versauerung des Regens und der Ökosysteme beitragen, benötigt acht Prozent des globalen Wasserverbrauchs, hauptsächlich für die Produktion der Futtermittel, und trägt zu einem Drittel zur Belastung des Frischwassers mit Stickstoff und Phosphat bei. Last but not least ist die Nutztierzucht einer der Hauptverursacher des Artensterbens.
Diese von der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Vereinten Nationen (FAO) schon 2006 für die „alternative Fleischproduktion“ ins Treffen geführten Argumente werden neben Tierschutz und der Verringerung der Seuchengefahr, die stets mit dem globalen Transport von Tierprodukten einhergeht, von praktisch allen „Clean Meat“-Unternehmen als zentrale Motivation genannt. Argumente, die freilich nicht nur für „alternatives Fleisch“, sondern auch für Alternativen zu Fleisch gelten: für vegetarische oder vegane Fleischimitate, die auf Basis pflanzlicher Ausgangsprodukte tierische Lebensmittel nachahmen: Shrimps und Geflügel, Rindfleisch und Thunfisch.
Um den von vielen Konsumenten als ideologischen Kampfbegriff inklusive Verzichtsgebot wahrgenommenen Terminus „vegan“ zu vermeiden und damit auch die wachsende Zahl von Menschen anzusprechen, die sich gesünder ernähren und den extensiven Fleischkonsum auch aus ökologischen und ethischen Motiven reduzieren wollen, aber rigiden Diätformen skeptisch gegenüberstehen, setzen auch viele Hersteller solcher Lebensmittel auf ein neues Wording: „Plant Based Food“. Das klingt gesund, ethisch und ökologisch korrekt und doch nicht nach Entsagung. Und auch nicht nur nach Lebensmitteltechnologie. Denn plant based sind auch traditionell zubereitete Speisen, bei denen Gemüse und Getreideprodukte die Hauptrolle spielen und die ganz allgemein von der kulinarischen Aufwertung pflanzlicher Nahrungsmittel künden. Die neuen Fleischimitate haben zumindest in den Premiumversionen optisch und geschmacklich kaum mehr etwas mit Gemüse-Bratlingen und Tofu-Scheiben der grün-alternativen Studentenküche der 1980er Jahre gemeinsam. Und sie sind, anders als „kultiviertes Fleisch“ (cultured meat), schon jetzt am Markt erhältlich. Aufgrund des aufwendigeren Herstellungsprozesses sind sie noch immer teurer als traditionelle Fleischwaren, aber höhere Produktionszahlen könnten die Preise in absehbarer Zeit senken.
Als Basis dienen bei vielen neuen Fleisch ersatzkreationen nicht mehr Soja (dessen intensive Produktion in Monokulturen auch zunehmend ins Visier von Umweltschützern kommt), sondern andere Hülsenfrüchte wie Erbsen und Lupinen, aber auch Algen und Pilze. Letztere eignen sich geschmacklich noch besser als Soja oder Getreide für Fleischimitate und sind – wie etwa das Wiener Start-up Hut und Stiel erfolgreich zeigt – schnell und nachhaltig zu züchten. Die Austernpilze der Stadtbauern wachsen im nährstoffreichen Kaffeesatz, der täglich tonnenweise in der Wiener Gastronomie anfällt. Algen werden wegen ihres „maritimen“ Geschmacks gern bei der Herstellung von Nahrungsmitteln und Speisen verwendet, die Fisch und Meeresfrüchte imitieren sollen.
Proteinbedarf wird überschätzt
Nicht zuletzt werden Algen und Pilze aufgrund ihres Gehalts an wertvollen Proteinen geschätzt, die im Ernährungsdiskurs gerade die neuen „Superhelden“ unter den Makronährstoffen sind. Das Eiweiß-Argument ist auch das Atout der Verfechter der Entomophagie, also des Verzehrs von essbaren Insekten. Unter diesem Gesichtspunkt können Heuschrecken und Co, die seit kurzem auch in Deutschland, der Schweiz und in Österreich zu Burger-Patties, Pestos und Protein-Riegeln verarbeitet oder als geröstete Snacks – erhältlich sind, tatsächlich punkten. Als Proteinlieferanten sind Insekten pflanzlichen Fleischalternativen meist überlegen, da die Zusammensetzung tierischer Eiweiße der menschlichen besser entspricht. Freilich mangelt es europäischen Konsumenten auch bei einer drastischen Reduktion des Fleischkonsums nicht wirklich an Eiweißaufnahme, die heute durchschnittlich fast doppelt so hoch ist wie der physiologische Bedarf.
Steigende Umsätze
Dafür, dass „fleischloses Fleisch“ weiterhin Karriere machen wird, sorgen längst nicht mehr nur alternative Start-ups. Mehr und mehr fleisch- und wurstproduzierende Traditionsunternehmen wie Neuburger in Österreich oder die Rügenwalder Mühle in Deutschland setzen auf Produkte auf pflanzlicher Basis. Letztere konnte den anfänglichen Rückgang bei den Fleischund Wurstumsätzen mittlerweile durch steigende Umsätze mit fleischlosen Produkten kompensieren. Das Sortiment reicht von vegetarischen Frikadellen über veganes Hühnergeschnetzeltes bis hin zu Salami- und Schinkenimitaten. Hermann Fleischlos, die Premiummarke von Neuburger, offeriert derzeit neben Rostbratwürstchen und Gyros auch fleischlose Bratstreifen, die wie gebratene Putenstreifen aussehen.
In den USA fokussieren die PlantBased-Food-Hersteller primär auf Alternativen zu klassischen Hamburgern. Der amerikanische Veggie-Burger-Pionier Beyond Meat reüssierte nach dem Börsengang Anfang Mai 2019 mit extremen Kurssteigerungen an der Wall Street, das Konkurrenzunternehmen Impossible Foods, das zeitgleich 300 Millionen Dollar an Venture-Capital lukrieren konnte, hat kurz davor einen fleischlosen Burger vorgestellt, der durch den Zusatz des Hämoglobinbestandteils Häme „blutet“ und damit geschmacklich und optisch schon so nah am „Original“ ist, dass er Vegetariern mitunter fast zu „tierisch“ schmeckt.
Ein ganz anderes Problem haben dagegen die amerikanischen Rinderzüchter. Ihnen klingen die Ersatzprodukte schlicht zu „tierisch“. Deren Standesvertretung, die Cattlemen Association, lobbyiert in Washington daher massiv dafür, dass kultiviertes oder veganes Fleisch in Zukunft nicht mehr Fleisch genannt werden darf – ein Kampf gegen Windmühlen. Clean Meat und Plant Based Meat Substitutes werden früher oder später ein fixer Bestandteil unserer Ernährung sein. Ob die Produkte nun Fleisch heißen oder nicht, ihr Markterfolg, zu dem vor allem die heranwachsenden Konsumentengenerationen beitragen werden, wird die traditionelle Massentierzucht mehr und mehr auch ökonomisch unter Druck setzen und bei „richtigem Fleisch“ langfristig zurück – nach ökologischen und ethischen Gesichtspunkten eigentlich vorwärts – zum Ursprung führen: zu einer extensiven und biologischen Viehzucht und zu einer neuen Wertschätzung tierischer Lebensmittel, die nicht mehr als billiges Alltagsnahrungsmittel wahrgenommen werden.