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Titelthema

Ausblick auf ein Land der Opportunisten

Der neue Roman von Rafael Seligmann verstört, weil die zwischen Satire und Politkrimi einzuordnende Geschichte in Teilen absurd realistisch wirkt

Kajo Wasserhövel01.09.2017

Wenn der neue Roman von Rafael Seligmann vor zehn Jahren in meine Hände gekommen wäre, ich hätte ihn als Groteske beiseite gelegt. Heute tue ich dies nicht mehr. Das Lachen bleibt mir im Hals stecken. Der Roman verstört, weil er zugleich absurd und realistisch ist.
Rafael Seligmann beschreibt den abenteuerlichen Weg des hessischen Juden Paul Levite, im Beruf gescheitert, verzweifelnd eine Karriere suchend. Er findet sie und übernimmt nach einer vorgezogenen Bundestagswahl 2019 die Führung der rechtspopulistischen „Deutsch-Nationalen Mehrheitspartei“.
Der Kampf um die Macht, zuerst innerhalb der rechtspopulistischen Partei, dann um das Kanzleramt, wird spektakulär, dicht, spannend und unterhaltsam erzählt. Levite intrigiert, taktiert und bildet mit den linkspopulistischen „Deutschen Realsozialisten“ eine Regierung. Er wird Kanzler. Der Mensch Levite poltert, liebt, kämpft, verzweifelt, lügt, wirbt. Er ist vielschichtig. Er irritiert.
Die Namen sind verfremdet, doch man kann die Personen unschwer erkennen. Die konservative Kanzlerin muss nach langen Regierungsjahren weichen. Beim Lesen stellt man sich nicht neue Figuren vor; man sieht „die aktuelle Politik“ in der von Rafael Seligmann kunstvoll aufgebauten düsteren Kulisse.
Das Bühnenstück wird gespielt. Die Kanzlerin Hedwig Kleinert versucht noch mit schwindender Kraft, eine neue Regierung zu bilden, diese wird als „Schrumpfkoalition“ denunziert. Die Kanzlerin scheitert. Die „Bunten“ kommen grün daher und Levite verblüfft eine Abordnung der Öko-Partei mit der Aussage „Ich selbst bin als Jude das beste Beispiel für die Weltoffenheit meiner Partei. Deutschnational bedeutet in meinen Augen Weltoffenheit. Die Nation als Basis der Multikulturalität...“.
Es gibt viele absurde Wendungen, man beruhigt sich einen kurzen Moment: Es ist ein Roman. So kann es nicht kommen. Diese Beruhigung gelingt, solange man nicht mit aufmerksamem Blick eine gute Zeitung liest oder die Nachrichten schaut. Trump ist leider immer noch Präsident und mehr und mehr US-Medien geben den Versuch auf, mit seinen tagtäglichen Lügen und Ungeheuerlichkeiten Schritt zu halten. Le Pen hatte bei der Präsidentschaftswahl in Frankreich 37 Prozent (sic!) der Stimmen bekommen. In Österreich ist der FPÖ-Präsidentschaftskandidat im vergangenen Jahr nur knapp gescheitert. In Polen geht es um den Rechtsstaat.
Wir können sie international betrachten, die Zerstörung von Zivilität, von rationalen und ethischen Normen. Die Leugnung wissenschaftlicher Erkenntnisse führt in eine Zeit vor der Aufklärung; den religiösen Radikalismus gibt es komplementär dazu.
Die Denunziation demokratischer Institutionen – es ist kein Zufall, dass in Seligmanns Roman Worte wie „Systemparteien“ als Kampfbegriff auftauchen – und die Selbstentkernung in Medien und Politik können destruktiv zusammenwirken. Seligmann denkt es konsequent zu Ende.

Warnung vor dem Möglichen
Ist Politik so wie Seligmann sie schildert? Natürlich überzeichnet er. Er hat einen Roman geschrieben und keine politikwissenschaftliche Abhandlung verfasst. Rafael Seligmann zeichnet klar auf, wohin es führt, wenn nur noch nach Opportunitäten geschaut wird.

Mein langjähriger Chef Franz Müntefering sagte immer „Hinter dem Vorhang treffen sich die Verrückten der Extreme.“ Wenn wir nicht aufpassen, brauchen sie bald keinen Vorhang mehr.