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Besuch bei Arafat

Titelthema - Besuch bei Arafat
Mit Jassir Arafat in Tripoli/Libanon während der Belagerung durch die Syrer im Dezember 1983 © Hans-Peter Kruse (zwei Fotos)

40 Jahre berichtete er aus dem Epizentrum des Nahen Ostens, traf politische Führer auf der einen und der anderen Seite. Erinnerungen von Wilhelm Dietl

01.12.2023

Ein schwül-heißer Sommertag vor 30 Jahren. Gaza-City, damals schon eine brodelnde arabische Großstadt mit einer halben Million Menschen, aber noch ohne Skyline mit Hochhäusern. Seit 1967 hatten hier die Israelis das Sagen. 2500 Siedler lebten in abgeriegelten Enklaven und betrieben erfolgreich Landwirtschaft. Um sie herum herrschte bittere Armut und wachsender Zorn. Es war die Wut der Dritten Welt gegen die Erste Welt im nur 60 Kilometer entfernten wohlhabenden Tel Aviv.

1987 darf als Wendejahr gelten. Aus einem Verkehrsunfall am 9. Dezember entstand die erste Intifada, der Aufstand der Palästinenser gegen die verhasste jüdische Besatzungsmacht. Duplizität der Ereignisse: Am selben Tag wurde Hamas geboren, übersetzt "Bewegung des islamischen Widerstands" oder auch simpel "Eifer". Hamas war ein legitimes Kind der ägyptischen Moslembruderschaft, der mächtigsten religiösen Geheimorganisation der arabischen Welt.

Mein Grenzübertritt lief problemlos, da überall das israelische Militär patrouillierte, und die explosive Lage ohnehin unterschätzt wurde. Wir trafen uns bei der Seven-Up-Fabrik, kurz hinter Erez. Der israelische Leihwagen blieb in einer der Abfüllhallen. Palästinenser chauffierten uns quer durch die Staus der Stadt zu einem unscheinbaren, schmalen Wohnhaus im Häusergewirr.

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Hamas-Gründer Scheich Ahmed Jassin in seinem Haus in Gaza City Ende der 1980er: Er sprach leise, betonte seine Sätze © Archiv Dietl

Schwer bewaffnete Leibwächter waren nicht zu sehen, eher freundliche Helfer. Der Gastgeber saß in einem kahlen Zimmer allein auf dem Fußboden. Eine zusammengelegte Decke im Rücken stützte den schmalen Körper. Nur ein bärtiger Kopf, von einer weißen Gebetsmütze bedeckt, ragte unter der karierten Decke hervor. Er sprach mit leiser Stimme, betonte seine Sätze. Meine Übersetzerin musste näher rücken, um ihn zu verstehen.

Gespräch mit Hamas-Gründer Ahmed Jassin

Es war Sheikh Ahmed Yassin, der bei der Gründung des Staates Israel zehnjährig mit seiner Familie nach Gaza geflüchtet war. 1952 erlitt er einen Badeunfall, war seither gelähmt und beinahe blind. Mit ungeheurer Energie studierte er in Kairo Theologie, gründete im Gaza-Streifen soziale Netzwerke – und etablierte den Zweig der Moslembrüder. Ich hatte Jahre vorher das erste deutschsprachige Buch über den Geheimbund verfasst. Deshalb war Yassin bereit, mich zu treffen.

In der Aufbauphase beteiligte sich Hamas nicht am Kampf gegen die Israelis, sondern attackierte die PLO, und vor allem Jassir Arafats "Fatah". Yassin lächelte über das Gerücht, er sei ein verlängerter Arm der israelischen Geheimdienste. Es hielt sich hartnäckig, denn Arafat, sein lebenslanger Feind, warf dem Rivalen offen "Kooperation mit den Zionisten" vor. Die israelischen Sicherheitschefs dementierten es nicht.

Plötzlich brannten in Gaza-City keine Büchereien und Kinos mehr. Hamas veröffentlichte 1988 eine Charta, forderte die Eroberung Israels und einen islamischen Staat Palästina. Es war die Sprache des Chefideologen Ahmed Yassin. Als er die Kassam-Kampf-Brigaden gründete, wurde Hamas von den Israelis 1989 verboten. Zu spät. Yassin kam ins Gefängnis. Die Selbstmordanschläge häuften sich.

„Israel ist illegal. Es muss weg“

1995 traf ich den Chef des politischen Flügels der Hamas, Mahmoud Al-Zahar, in seiner Wohnung in Gaza. Es waren zwischenzeitlich 1500 Hamas-Aktivisten festgenommen worden. "Das", sprach der Arzt Al-Zahar, "ist ein sehr geringer Preis für Menschen, die nach der wirklichen Unabhängigkeit streben."

"Israel", sagte er in ruhigem Ton, "ist illegal. Es muss weg!"

2003 überstand Ahmed Yassin einen Luftangriff, der ihm galt. Ein Jahr später feuerte ein israelischer Hubschrauber drei Hellfire-Raketen auf den gelähmten Hamas-Führer. Er starb mit neun Begleitern, unter ihnen zwei seiner Söhne. Sein Nachfolger wurde 26 Tage später getötet. Al-Zahar soll als Nächster den Vorsitz übernommen haben.

2005 evakuierte Israel den Gaza-Streifen. 2006 gab es Wahlen, die Hamas gewann. Ein blutiger Bruderkrieg folgte. Die Islamisten besiegten Arafats Fatah 2007 militärisch und übernahmen die Macht im Gaza-Streifen. Israel isolierte und riegelte das Armenhaus ab.

In den vergangenen 40 Jahren habe ich an den Frontlinien des israelisch-palästinensischen Konflikts immer nur vorübergehende Lösungen erlebt. Nie waren sie wirklich politisch, immer nur militärisch. Zahlreiche Treffen mit Jassir Arafat fanden meistens in Krisensituationen statt. Im Keller seines libanesischen Hauptquartiers, während die Einschläge der näherkommenden Artillerie das Haus immer stärker erschütterten. Dann ein historischer Moment: 9. November 1989 im Büro des 60-jährigen Palästinenser-Chefs in Tunis. Es war ein Abend, der eigentlich ruhig und unauffällig begann.

Während wir im Hotel Meridien auf den Fahrer der PLO warteten, liefen im italienischen Fernsehen erste Nachrichtenbilder aus Berlin. Plötzlich bewegte sich eine Kolonne an Trabis durch die Mauer. Die rasche Rückfrage in München ergab Sensationelles. Das Gespräch mit einem leutseligen Arafat begann kurz nach Mitternacht. Gelegentlich mischte sich sein Berater Bassam Abu Sharif mit kleinen Anmerkungen ein. Es ging um Krieg und Frieden, um die diplomatische Anerkennung eines künftigen Staates Palästina, erste Gespräche mit den USA, den hohen Blutzoll durch die Intifada und Arafats Wunsch, West-Deutschland offiziell zu besuchen.

Am Ende das Thema Ost-Deutschland, die befreundete DDR. Unser Gastgeber hatte die aktuelle Entwicklung noch nicht erfahren, ließ sich einige Infos ins Ohr flüstern. Dann holte er aus: "Ich war erst während der Feierlichkeiten zum 40-jährigen Bestehen in der DDR. Selbstverständlich wünsche ich meinen dortigen Freunden Zufriedenheit und Stabilität." Bald wusste auch er, dass es anders kommen sollte. Wendezeit.

Mit verbundenen Augen durch Damaskus

40 Jahre in den Epizentren eines bislang unlösbaren Konflikts. Mehrfach traf ich den Marxisten und Führer der PFLP, den Kinderarzt Georges Habasch. Er sprach kompromisslos von der Vernichtung Israels. So war es auch bei den anderen historischen Führern des palästinensischen Widerstands. Drei Begegnungen mit der radikalsten Splittergruppe stehen in meinem Terminkalender – mit ANO. Möglicherweise saß auch das Phantom Abu Nidal alias Sabri al Banna mit am Tisch. Es gab damals nur Fake-Fotos. Keiner kannte ihn von Angesicht.

Auch den Weg zu seinem Sprecher Atef Abu Baker, in eine Villa am Stadtrand von Damaskus, musste ich mit verbundenen Augen zurücklegen. Fotografiert wurde mit Abu Bakers Polaroid-Kamera. Der hagere Intellektuelle kündigte Anschläge auf deutsche Einrichtungen im Nahen Osten an, zum Beispiel auf das Goethe-Institut. Nach meiner Rückkehr lud mich BND-Präsident Hans-Georg Wieck zu einem Gespräch unter vier Augen nach Pullach ein. Er wollte es aus erster Hand erfahren.

Gespräche mit den Oberen der Nachrichtendienste sind im Nahen Osten der absolute Ritterschlag. Wenn die Vertrauensbasis steht, und nicht nur Propaganda de Luxe verbreitet werden soll, dann öffnen sich alle Hintertüren. Zwei Beispiele: Der Mossad, Israels lange Zeit geheimnisvoller und erfolgreicher Auslandsdienst, hatte jahrelang eine Frau als Vize. Alisa Magen. Ihre Familie entkam 1935 den Nazis und wanderte von Frankfurt/Main nach Palästina aus. 1937 wurde sie in Rehavia geboren, einem Stadtteil von Jerusalem, wo die "Jecken" wohnten, die deutschen Juden. Ihre Karriere im Mossad war mehr als steil.

Als "Frau ohne Gesicht" trat sie selten in Erscheinung, lebte in einem anonymen Wohnblock. Durch ihr Outfit und die tiefe Stimme wurde sie zuerst als Mann wahrgenommen. Niemals traf sie Medien. Die absolute Ausnahme war ein Porträt für mein Buch über Frauen in Geheimdiensten. Dafür nahm sie sich dreimal einen halben Tag Zeit. Zum Schluss saßen wir im Schnellimbiss eines Einkaufszentrums. Pünktlich um 13 Uhr kam ihr Mann und holte sie ab – ein Tourguide.

Ganz das Gegenteil in Jerusalem: Melissa Boyle Mahle. Sie war weit und breit die Einzige, der man im Gewerbe das Prädikat Bond-Girl hätte verpassen können – die Residentin der CIA bei den palästinensischen Sicherheitsdiensten. Kalifornisch, hellblond und blauäugig hatte sie bereits eine Historie mit pakistanischen Atomtests, Bin Laden und Saddam Hussein hinter sich, um am Ende im israelisch-palästinensischen Minenfeld zu scheitern.

Wir trafen uns in Washington und sprachen über ihre Arbeit: "Diese Nachrichtendienste waren nach arabischer Tradition ausgerichtet. Wir gaben ihnen eine stärkere westliche Form. Dafür bauten wir ihnen Häuser, versorgten sie mit Computern, Funkgeräten und Autos. Wir wollten ihnen auch Waffen liefern, aber da schritten die Israelis ein. Unsere Ausbildung zur Entschärfung von Sprengkörpern war etwas kontrovers, weil man sie auch umgekehrt verwenden konnte."

Ihre CIA-Aufgabe, und sogar der Umgang mit Melissa Boyle Mahle, ist das, was sie eine "extreme Grenzerfahrung" nennt. Zitat: "Die Israelis kooperierten in vielen Fällen mit der Führungsebene der palästinensischen Sicherheit. Lieber hätten sie jedoch die Arbeitsebene gesteuert. Doch da saßen wir. Bald kannten sie mich alle und wussten, dass ich nicht so leicht aus der Spur zu bringen war. Es gab nicht so viele schwangere Blondinen, die in obskuren Hinterzimmern mit arabischen Geheimdienstlern tagten und heftig darüber argumentierten, warum ein bestimmter Mann nicht festgenommen worden war, und warum man die Konten einer speziellen Organisation nicht beschlagnahmt hatte."

Am Ende, genau gesagt 2002, scheiterte sie an ihren eigenen Erfolgen, an Missgunst in der CIA-Zentrale und an zu großer Nähe zum dienstlichen Subjekt. Da half auch ein Schreiben Bill Clintons nicht, der ihre Verdienste um den Friedensprozess im Nahen Osten rühmte.

Netanjahu geriet ins Stocken

Unsere letzte Etappe dieser kleinen Zeitreise führt zu Zvi Aharoni und – mit ihm ganz weit zurück zu Adolf Eichmann. Der Architekt der industriellen Judenvernichtung war am Ende des Zweiten Weltkriegs entkommen. Er tauchte in Argentinien auf und schuf sich dort als Ricardo Klement eine bürgerliche Existenz.

Als Aharoni noch Aronheim hieß und ein kleiner Junge war, flüchtete er mit seiner Familie wenige Wochen vor der Reichspogromnacht aus Frankfurt/Oder nach Palästina. Er sollte Geheimagent werden und später sogar "Kidon" befehligen, die Rachetruppe des Mossad gegen die PLO-Terroristen ("In meinem Schrank lag die Radiobombe für Arafat. Der Einsatzbefehl kam aber nicht.")

1960 flog Zvi Aharoni nach Argentinien, um Adolf Eichmanns Spuren zu folgen. Er entdeckte ihn am Stadtrand von Buenos Aires. 1961 schrieb ein Team des Mossad Weltgeschichte. Es entführte Klement/Eichmann. Am Steuer des Wagens saß Zvi Aharoni. Eichmann wurde in Israel als einziger berühmter Nazi-Verbrecher vor Gericht gestellt. Einer für alle. 1962 folgte das Todesurteil.

Aharoni und ich trafen uns in den 90er Jahren. Zwei Jahre arbeiteten wir an seinen Memoiren. Das Vorwort schrieb Meir Amit, Generalmajor und Direktor des Mossad von 1963 bis 1968. Das Buch erschien zuerst in Deutschland und dann in zahlreichen anderen Ländern, außer in Israel. Das störte ihn nicht, weil er längst mit seiner Heimat gebrochen hatte. Zvi Aharoni wollte nicht mehr ins Gelobte Land, obwohl seine Kernfamilie dort lebte. Der zunehmende Rechtsrutsch und die Siedlungspolitik bereiteten ihm Unbehagen. Arndt, wie er nun hieß, bevorzugte den Lebensabend im englischen Exeter.

Sein Feindbild, wie auch das der meisten liberalen Israelis, die ich in den letzten 40 Jahren kennengelernt habe, heißt Benjamin Netanjahu. Ja, auch ihn habe ich einmal zum Interview getroffen. Er repräsentierte damals Israel als Außenminister. Das Gespräch dehnte sich, drehte sich im Kreis, blieb an den Textbausteinen seiner Pressestelle hängen. Kritische Zusatzfragen beantwortete der Polit-Yuppie mit Schweigen und abwehrenden Blicken. Es konnte nicht veröffentlicht werden.

Der Nahe Osten – ein Puzzle, bei dem nicht einmal alle Teile passen.

"Macht keine Dummheiten, während ich tot bin!", schrieb Theodor Herzl, der geistige Vater des Konzepts Israel, 1904. Vermutlich in weiser Voraussicht.



Wilhelm Dietl
(RC Cham/Bayern) ist Journalist und Autor zahlreicher erfolgreicher Bücher zu den Themen Naher und Mittlerer Osten, Südasien, Geheimdienste und Terrorismus.