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Titelthema

Bieder und begnadet

Titelthema - Bieder und begnadet
Stadtteil Killesberg, Halbhöhenlage: Was Besen und Kehrblech nicht packen, schafft vielleicht der Staubsauger. © Dennis Orel und Benjamin Tafel

Wir Stuttgarter sind kulturell gebildet, weltoffen und international ausgerichtet. Warum gelten wir anderswo als schrullig?

Elisabeth Kabatek01.11.2021

Hans Christian Andersen erzählt in seinem Märchen Des Kaisers neue Kleider von einem Herrscher, der sich in einem angeblichen Prachtgewand seinem Volk präsentiert, weil er Betrügern aufgesessen ist. Hätte sich diese Geschichte in Stuttgart zugetragen, dann hätte das Volk schon nach drei Sekunden empört ausgerufen: „Aber der Kaiser ist ja nackt!“

Der jahrelange, massive Protest gegen das Bahnhofsprojekt Stuttgart 21 ließ ganz Deutschland darüber staunen, dass die Stuttgarter zu Tausenden auf die Straße gingen. Da wurde nach komplizierten soziologischen Erklärungen gesucht, warum die gut situierten, nicht mehr ganz jungen Bewohner der legendären „Halbhöhenlagen“ aus ihren Villen am oberen Kesselrand hinabstiegen zum gemeinen Volk, um sich gemeinsam an Bäume zu ketten oder „Oben bleiben!“ zu skandieren. Dabei ist es im Grunde ganz einfach: Wir Stuttgarter lassen uns nicht vom schönen Schein blenden. Es ist nicht mehr ganz so extrem wie früher, als die Leute den Porsche hinterm Haus parkten und den Pelzmantel mit dem Futter nach außen trugen, um nur ja keinen Reichtum zur Schau zu stellen. Aber bis heute gilt, dass wir Sparsamkeit und zurückhaltendes Auftreten für eine Tugend halten. Selbst wenn wir genug davon haben, werfen wir unser Geld nicht für Tiefbahnhöfe hinaus, die unserer Meinung nach „so onedich send wie a Kropf“, übersetzt: so unnötig sind wie ein Kropf.

Vor allem aber lassen wir uns weder von der Deutschen Bahn noch von einem Architekten aus Düsseldorf oder gar der Berliner Politik sagen, wie unsere Stadt auszusehen hat!

Im Grunde trägt der Stuttgarter die Seele eines Revoluzzers in sich. Er mag keine Obrigkeit, lässt sich nichts gefallen und urteilt gerne und vernichtend über andere, was sich in kräftigen schwäbischen Schimpfwörtern wie „Halbdackel“ oder „Lombaseckl“ (Lumpensack) manifestiert. Subtililät, Eleganz und Fingerspitzengefühl sind seine Sache nicht. Leider ist diese Seele gleichzeitig auch ein wenig bieder. Wir haben es gerne sauber in unserer Stadt, weil man uns schon vor Jahrhunderten die Kehrwoche beigebracht hat. Während Kolumbus 1492 die Weltmeere eroberte, verfügte in Stuttgart Graf Eberhard im Barte, dass ein jeder einmal die Woche seinen Mist hinausführen solle. Dass Oberbürgermeister Manfred Rommel die Verordnung 1988 abschwächte, um nicht zu sagen: verwässerte, indem er erklärte, die Kehrwoche sei nur „bei Bedarf“ durchzuführen, gefiel nicht jedem. Bis heute herrscht in manch traditionellem Stuttgarter Mietshaus ein strenges Kehrwochenregiment, das über die Rommelschen Regeln weit hinausgeht. Dazu passt, dass man uns 250 Jahre lang dazu angehalten hat, unseren Nachbarn zu überwachen und sogar anzuschwärzen.

Zwei Seelen in unserer Brust

Schon 1534 wurde in der Stuttgarter Stiftskirche der erste evangelische Gottesdienst gehalten, und das Lutherische fand seine besondere Ausprägung im strenggläubigen Pietismus. Die Kirchenkonvente des Herzogtums Württemberg ahndeten von 1642 bis 1891 Verstöße gegen die Sitten. Dazu gehörte Trinken, Tanzen, Kartenspielen oder vorehelicher Geschlechtsverkehr. Denunzieren war explizit erwünscht, und im Falle einer Geldstrafe erhielt der Denunziant einen Anteil davon als Belohnung, das sogenannte Anbringdrittel. Bis heute kursiert der bitterböse Witz, im Pietismus ist alles erlaubt, Hauptsache, es macht keinen Spaß, und bis heute ist die Stiftskirchengemeinde im Herzen der Stadt pietistisch geprägt. Doch wer genau beobachtet, was der andere so tut, der schaut auch genau hin: Diakonie, Ehrenamt und Hilfe für arme und geflüchtete Menschen sind in der Stadtgesellschaft fest verwurzelt.

Kommen wir zurück auf die zwei Seelen in unserer Brust. Die eine kehrt und putzt, die andere hat Visionen, tüftelt Tag und Nacht und erfindet so das Auto, die Zündkerze, den Büstenhalter, die Waldorfschule oder den Fernsehturm. Bieder und begnadet, engstirnig und visionär – reinste Dialektik, und nicht umsonst wurde Hegel in Stuttgart geboren. Dialektik und Dialekt liegen hier nah beieinander und manifestieren sich beispielsweise in folgendem grandiosen Dialog, den ich einmal auf dem Markt aufgeschnappt habe:

„Ha, sen Sie no net drhoim?“
„Noi. Ond Sie?“
„Ha, I au no net.“
Noch ein Beispiel für die geradezu philosophischen Qualitäten des Schwäbischen? „Wenn mr bei soma Wetter net krank wird, isch mr net gsond!“

Wie aber definiert sich Stuttgart im Gesamtgefüge der Republik? Viele Firmen sind nach Berlin abgewandert, und als Deutschland 2006 bei der Fußball-Weltmeisterschaft in Stuttgart um den 3. Platz spielte, kam der Song „Stuttgart ist viel schöner als Berlin“ auf – eine überraschende Manifestation eines bis dahin unbekannten Selbstbewusstseins vor allem bei jungen Menschen. Am stärksten aber ist die Konkurrenz zu München. Anders als in der bayerischen Landeshauptstadt wird man sich in Stuttgart schwertun, Stars, Sternchen, Partys und den dazugehörigen Klatsch zu finden. Vom Boulevard gibt es nichts zu berichten, denn wir gehen in die Oper, vor allem aber ins Ballett. Dort zeigen wir ganz bestimmt keine gewagten Roben und tiefen Ausschnitte. Nein, wir zeigen Emotionen, denn wir klatschen uns die Finger wund und brüllen „Bravo“, bis wir heiser sind, was Auswärtige in größtes Erstaunen versetzt, weil sie uns für emotional unterentwickelt halten. Aber unser Ballett ist unser höchstes kulturelles Gut, auf das wir richtig, richtig stolz sind, schließlich ist es eines der besten der Welt. Daneben haben wir eine herausragende Oper, hochkarätige Museen und Theater, und mit der Bachakademie klassische Musik von internationalem Rang. Es ist für uns Stuttgarter deshalb äußerst seltsam, dass wir in anderen Teilen der Republik als schrullig gelten, weil wir uns selbst überhaupt nicht so wahrnehmen, sondern für kulturell gebildet, weltoffen und international halten. Wir reisen schließlich auch wie die Weltmeister! Egal ob Kap der Guten Hoffnung oder Wüste Namib, immer taucht irgendwo ein Schwabe auf, leicht am Idiom zu erkennen. Der schabt dann heimlich Spätzle auf dem Campingplatz, mit anderen Schwaben verbrüdert er sich dagegen nicht, weil er Wert legt auf Exklusivität.

Hauptstadt des Understatements

All das, was Sie bisher gelesen haben, ist wahr – und gleichzeitig ist es gelogen. Denn neben diesem urschwäbischen Milieu gibt es noch ein anderes, um nicht zu sagen: viele andere. Und diese voneinander abzugrenzen, ist unmöglich. „Der Stuttgarter“ stammt nämlich mittlerweile zu 45 Prozent aus Anatolien, Sizilien oder Indien. Wenige Großstädte in Deutschland haben einen so hohen Anteil an Menschen mit Migrationshintergrund. Diese Stuttgarter wundern sich über die Kehrwoche, hören Musik lauter als in Zimmerlautstärke, sprechen nicht unbedingt Schwäbisch und fordern damit die alteingesessenen Stuttgarter heraus. Unterm Strich funktioniert das erstaunlich gut, denn wegen der Stärke der Industrie gibt es seit Jahrzehnten Zuwanderung in Stuttgart. Das ist für uns normal. Auch der im Senegal geborene schwarze Bürgermeister von Stuttgart-Zuffenhausen ist Stuttgarter, und niemand macht darum viel Aufhebens in der Hauptstadt des Understatements.


Buchtipp

 

 

Elisabeth Kabatek

Gebrauchsanweisung für Stuttgart

Piper Verlag 2019,

224 Seiten, 15 Euro

Elisabeth Kabatek
Elisabeth Kabatek geboren 1966 in Stuttgart, ist genug in der Welt herumgekommen, um ihre Heimatstadt mit Distanz, Humor, aber auch Heimatliebe zu betrachten. Sie ist Autorin zahlreicher Stuttgart-Romane. e-kabatek.de