Tichys Denkanstoss
Brexit gegen Brüssel
Über die Aufgaben der EU für ein vereintes Europa
"Small is beautiful.“ Erinnern Sie sich noch an den Schlachtruf der späten 70er? – Gerichtet gegen Konzerne, Großtechnik, Kernenergie, Gesamtlösungen. Der Wissenschaftsphilosoph Ernst Friedrich Schumacher forderte 1973 die Rückkehr zum menschlichen Maß und war damit Teil einer globalen Graswurzelbewegung.
Wann „Groß“ richtig und „Klein“ falsch ist und wann sich das verkehrt – wir wissen es noch immer nicht. Flache Hierarchien liegen im Dauerkrieg mit zentralen Bürokratien – in Unternehmen wie in Staaten und Staatenverbünden. Nach dem „Brexit“ hören wir immer wieder, dass nur Groß-Europa gute Lösungen anbieten könne. Gerade in Deutschland gehört die Forderung nach einer „Vertiefung“ der Europäischen Union zum Ritual politischer Fensterreden. Es gibt auch Gegenstimmen – Großbritannien wird nicht untergehen ohne die EU, der Kanaltunnel wird nicht geflutet. Die Rückgewinnung der Kontrolle, eines der Brexit-Versprechen, gewinnt umso mehr Anhänger, je weiter weg die Entscheidungen getroffen werden in den verwinkelten Gängen, Kanälen und Kavernen einer entfernten Politbürokratie.
Zentralismus contra Föderalismus
Dabei steht aber gerade Europa für beides: für Kleinräumigkeit, Dezentralität, Vielfalt unterschiedlichster Kulturen, Herangehensweisen. London, Paris oder Berlin, Amsterdam, Warschau oder Barcelona, Porto oder Palermo: Jede Städtereise ist der Beweis – ja wofür? Für die segensreiche Wirkung zentraler Lösungen der EU oder für Kleinteiligkeit? Und sind die Massengräber im Osten, die „Killing Fields“ der Ukraine sowie entlang der europäischen Wasserwege wie Maas und Marne nicht der Gegenbeweis - dass nur Größe Frieden sichert?
Andererseits: Das Riesenreich der Sowjetunion zerschellte in zwei Dutzend Staaten, in denen sich in den allermeisten Fällen das Leben heute besser entwickelt als vorher. Die Tschechoslowakei zerlegte sich selbst und friedlich in zwei prosperierende Länder unter dem Dach der EU. Jugoslawien zersplitterte in moderne Kleinstaaten und nicht lebensfähige Kantone. Noch nie zählte die UNO so viele Staaten wie heute (194; plus 13 umstrittene Fälle); noch immer halten Territorialkonflikte und ethnische Kriege den Nahen Osten und Afrika im Bann und lösen in Afrika brutalstmögliche Bürgerkriege die Befreiungskriege ab. Das menschliche Maß scheint unbestimmbar.
Für die EU ergibt sich daraus eine schwierige, aber nicht unlösbare Aufgabe: Auseinanderzudividieren, was tatsächlich gemeinsam besser bewältigt werden kann – und umgekehrt zu bestimmen, was besser vor Ort bleibt. In den an sich maßgeblichen Verträgen von Lissabon wurde das Subsidiaritätsprinzip festgeschrieben – aber wie das so ist im vereinten Europa, das tägliche Rechthaben folgt immer seltener dem geschriebenen Recht. Jetzt muss dieses Prinzip zum Leben gebracht werden – oder es wachsen die kleinen Kräfte des „Small is beauful“ gegen Brüssel.