Titelthema
Büdchenzauber
Der Kiosk ist weit mehr als ein abendlicher Nahversorger. Er ist Treffpunkt, Durchgangsort und Ratgeber in vielen Lebenslagen.
Kioske gibt es in verschiedenen Stilen, Farben und Formen. Sie tauchen in unterschiedlichen Kontexten auf: Mal freistehend als Pavillon, mal angeschmiegt an ein bestehendes Gebäude, als Ladenlokal oder auch nur als Fenster in einer Hauswand im städtischen Straßenzug. Häufig ergänzt mit allerlei provisorischen Anbauten, Schildern, Markisen und Leuchtreklamen und der Einnahme des Stadtraumes vor dem eigentlichen Kiosk. Diesen sonderbaren Ein-Raum-Verkaufsstätten liegt kein erkennbares architektonisches oder gestalterisches Konzept zugrunde. Alles ist auf Zweckmäßigkeit und maximale Aufmerksamkeit ausgerichtet. Und doch bilden sie, trotz ihrer großen Diversität, einen leicht wiedererkennbaren Typus in der Stadt: als ein ungeschöntes, ehrliches Phänomen des urbanen Alltags sind sie in ihrer Ausprägung ein Gegenentwurf zu Design und Trend und somit zeitlos. Gleichzeitig passen sich Kioske ihrer räumlichen und sozialen Umgebung optimal an. Und diese Anpassungsfähigkeit ist vermutlich das entscheidende Kriterium für ihre Akzeptanz und Überlebensfähigkeit in einem dynamischen urbanen Kontext.
Kioske sind weit mehr als nur Verkaufsstätten. Sie übernehmen Quartiersfunktionen und bieten eine Bühne für den öffentlichen Diskurs. Als spontane Treffpunkte, unvermittelte Orte des Austauschs und Transitzonen sind sie mehrdimensional und nie gleich. So gibt es keine einheitlichen Öffnungszeiten, sie schwanken von Kiosk zu Kiosk und ändern sich von Werktagen zum Wochenende, manchmal auch spontan, je nach Verfassung des Besitzers oder dem Bedarf der Kunden. So hat jeder Kiosk sein spezielles auf die Klientel ausgerichtetes Angebot. Neben den Standards wie Zigaretten, Getränken, Zeitungen und Süßigkeiten gehören Spezialprodukte wie Backwaren, Kaffeespezialitäten und besondere Markenwaren sowie erweiterte Dienstleistungen wie Internetzugang, Paketservice, Lottoannahme und Schlüsseldienst dazu. Darüber hinaus gibt es kleine und große Gefälligkeiten: vom Bewahren von Geheimnissen bis hin zum Ausfüllen der Steuererklärung.
Die prägende Rolle der Inhaber
Vor allem aber wirkt die Person hinter der Theke prägend auf die Identität des Kiosks. Es gehört zum Leben eines Kioskbesitzers, sich die Geschichten aus dem Alltag der Kunden anzuhören – ein Ohr zu haben für die Wünsche und Sorgen der Menschen. Dies schafft Vertrautheit in einem oft anonymen städtischen Kontext. Der Besuch des Kiosks bleibt unverbindlich und ist trotzdem persönlich. Vor dem Kiosk sind alle gleich. Hier gibt es weder sichtbare noch unsichtbare Schwellen für unterschiedliche Milieus. Jeder ist willkommen und kann Teil dieser losen Gemeinschaft werden, unabhängig von Herkunft, Alter, Geschlecht oder Einkommen. Es entstehen im besten Sinne temporäre Wahlverwandtschaften. Insofern erzeugt der Kiosk ein verdichtetes Abbild der Stadtgesellschaft und einen Raum des urbanen Austauschs. Zufall und Offenheit statt Planung und Abgrenzung. Diese integrative Rolle des Kiosks steht für einen situativen Urbanismus, den man in unserer individualisierten Digitalmoderne nur noch sehr selten findet: als Möglichkeitsraum und Bühne städtischen Lebens.
Köln gilt als Kiosk-Hauptstadt Deutschlands mit geschätzten 1000 dieser Verkaufsstätten in 86 Veedeln, wie die Stadteile in der Rheinmetropole heißen. Die Kölner haben ein ganz besonderes Verhältnis zu ihren Kiosken, die sie liebevoll Büdchen nennen. Sie sind nicht nur ein Ort, an dem man schnell noch ein Kölsch, die Zeitung, Zigaretten oder Süßigkeiten kaufen kann, sondern vor allem ein Ort, an dem sich die Menschen unabhängig von sozialen Milieus treffen und austauschen. So hat fast jeder sein Stamm-Büdchen im Veedel, und an jeder Ecke findet man eines – sein persönliches. Keines gleicht dem anderen, und die Vielfalt ist erstaunlich.
Seit Ende des 19. Jahrhunderts gibt es die kleinen Verkaufsstände in Köln. Wie Gartenpavillons waren die ersten Kölner Kioske an Flaniermeilen angelegt. Früher fand man sie meist in Parknähe, heute überall in der Stadt. Carl Nebgen, der als Getränkeunternehmer in Köln Tafelwasser produzierte, gilt als Wegbereiter der Kölner Büdchen. In den 1950er und 1960er Jahren baute er sein Imperium aus Getränkeund Lottokiosken in Köln auf. Noch bis in die 1980er Jahre gab es unter seinem Namen viele Büdchen in Köln. Sie waren aus Holz, freistehend und bestanden aus nur einem Raum. Sie sollten die Baulücken füllen, die die Bombardierung im Krieg in die Straßenzüge gerissen hatte. Die Fotografin Tata Ronkholz, eine Schülerin von Bernd und Hilla Becher, hat zahlreiche solcher Kioske in Köln, Düsseldorf und dem Ruhrgebiet in den 70er und 80er Jahren dokumentiert und mit ihren abstrakten Schwarz-Weiß-Aufnahmen den spröden Charme dieser Orte eingefangen. Heute finden sich kaum noch Kioske aus dieser Zeit. Eines der letzten klassischen freistehenden Büdchen in der Kölner Innenstadt steht auf dem YitzhakRabin-Platz – es wurde 1926 eröffnet.
Wenn die Kioske schließen, schläft die Stadt
Der Kiosk erzählt Geschichten von Orten, von Ereignissen und vor allem von Menschen. Wer über den neuesten Stand in seinem Veedel oder seiner Straße informiert sein will, kommt am regelmäßigen Büdchenbesuch nicht vorbei. Dort trifft man immer jemanden, mit dem man kurz – oder länger – plaudern kann. Und dafür muss man den Gesprächspartner nicht schon vorher kennen. Dieses Phänomen beschreibt Michael Euler-Schmidt, ehemaliger Vorstand des Kölner Brauchtumsvereins, sehr treffend: „Das Büdchen ist der weltliche Beichtstuhl, hier kauft man seine Zeitung, kommuniziert, redet über seine Probleme.“ Kioske sind aus dem Kölner Stadtbild nicht wegzudenken. Zu fast jeder Uhrzeit steht ihre Tür – oder ihr Fenster – offen. Erst wenn die Büdchen schließen, schläft die Stadt. Sie gehören zu Köln wie der Dom, der Rhein, der Karneval und der FC und passen zum Lebensgefühl der Stadt.
Dennoch wirkt der Kiosk ein wenig aus der Zeit gefallen. Viele Kioske sind in wirtschaftlich prekären Situationen, und in vielen Städten ist vom Kiosksterben die Rede. Immer wieder gibt es Berichte von Kiosken, die wegen der erweiterten Ladenöffnungszeiten von Supermärkten und der steigenden Mietkosten schließen müssen. Vom „langsamen Tod der Trinkhalle“ (Handelsblatt), dem „Aussterben des Kiosks“ (Deutsche Welle) oder vom „Büdchen in Gefahr!“ (Express) liest man in der Presse. Und in der Tat lassen sich konkrete Fälle auch in Köln beobachten: Brigittes Büdchen in der Südstadt war mehr als 40 Jahre lang eine Institution. Spontan hatte sich eine Gruppe aus dem Viertel zusammengefunden und eine Rettungsaktion ins Leben gerufen, um den in die Jahre gekommenen Kiosk zu unterstützen. Mit einem Renovierungs-Sparschwein, einer eigenen Facebook-Seite und dem Büdchen-Bier-Gewinnspiel sollte der Traditions-Kiosk wieder auf die Beine kommen. Bis ins Radio und in die Lokalzeitung hatte es die Aktion geschafft. Leider konnte das Nachbarschaftsengagement die Schließung des Büdchens in der Merowingerstraße nicht verhindern. Auch zwei Straßen weiter musste ein angestammter Kiosk aufgeben. Heute befindet sich dort ein Pilates-Studio.
Tütchen vom Büdchen
Als Teil der Kölner Stadtromantik wirken die Kioske auch in andere Bereiche des städtischen Lebens hinein und sind oft Gegenstand oder Ort kultureller Veranstaltungen, wie etwa bei der Architekturbiennale Plan, den Kiosk-Konzerten oder der Aktion Kunst im Kiosk und dem Kultur-Kiosk „LaOlaBüdchen“. Aber auch musikalisch kann man sich dem Phänomen Kiosk in Köln nähern: Die Mundart-Gruppe Bläck Fööss hat die Büdchen gleich zweimal in ihren Liedern besungen. Mit Kaffebud und Am Bickendorfer Büdchen wurden zwar keine Welterfolge gefeiert, aber das kölsche Lebensgefühl wurde perfekt getroffen.
Am Büdchen selbst wird deutlich, dass es bei der Kölner Kioskkultur vor allem um die Menschen geht. Und die lohnt es, zu besuchen und mit ihnen ins Gespräch zu kommen. Dies haben sich auch Anke Blieschiess und Stephanie Biernat von der Event-Agentur „Sehenswert“ gedacht, als sie die Idee zu einer Büdchenführung durch das Kölner Zentrum hatten. In zwei Stunden erfährt man einiges über die KioskViel falt, inklusive leckeren Tütchen vom Büdchen. Auch der Köln-Experte und Stadtführer Bruno Knopp bietet mit seiner Büdchen-Tour einen facettenreichen Einblick in die Veedel-Kioske von Sülz und Klettenberg. In Erinnerung bleiben dabei vor allem die persönlichen Erzählungen und Begebenheiten, die er mit den Kiosken, deren Besitzern und den anderen Kunden verbindet. Den echten Büdchenzauber erlebt man aber nur, wenn man sich selbst auf den Weg zum nächsten Kiosk macht.
Der Kiosk in Zahlen
Deutschland
Anzahl der Kioske:
2008: 26.000
2021: 23.100
Gesamtumsatz 2021: 7,5 Mrd. Euro
Tagesumsatz je Kiosk:
Bis 500 Euro: 44 %
501–1000 Euro: 39 %
>1000 Euro: 17 %
Durchschnittliche Öffnungszeiten in deutschen Kioskhochburgen:
7.00–1.30 Uhr
Quelle: Handelsverband Deutschland
Österreich
Anzahl der traditionellen Würstelstände:
2012: 902
2018: 712
Anzahl der Trafiken:
2022: 4845
davon Tabakfachgeschäfte: 2240
davon Tabakverkaufsstellen: 2605
Quelle: austria.info, Monopolverwaltung GmbH
Marco Hemmerling ist Gründungspartner von Spade Studio, einem interdisziplinären Architektur- und Designstudio. Er lehrt und forscht als Professor an der Technischen Hochschule Köln und hat eine Gastprofessur in Italien am Politecnico di Milano inne.