https://rotary.de/gesellschaft/buergerlichkeit-und-demokratie-a-14895.html
Titelthema

Bürgerlichkeit und Demokratie

Titelthema - Bürgerlichkeit und Demokratie
Jedes politische Gemeinwesen benötigt Leitbegriffe, die eine moralische Orientierung bieten. © Kristian Peetz/plainpicture

In zunehmend unsicheren Zeiten erleben Begriffe wie Bürger und Bürgerlichkeit gerade eine Renaissance. Im Kern geht es darum, welche Bedeutung der Einzelne in unserer sich wandelnden Gesellschaft hat.

Jens Hacke01.10.2019

Zur Selbstverständigung in einem politischen Gemeinwesen benötigen wir integrative Leitbegriffe, die moralische Orientierung bieten. Zwar sind die Grundwerte der liberalen Demokratie eigentlich relativ unstrittig, da sie wesentlich der Verfassung zu entnehmen sind. Doch wie man ihnen Geltung verschafft, bleibt der demokratischen Auseinandersetzung in der Gesellschaft überlassen. Man könnte auch sagen, dass sich das berühmte Diktum des Staats- und Verfassungsrechtlers Ernst Wolfang Böckenförde, der moderne säkularisierte Staat lebe von Voraussetzungen, die er selbst nicht garantieren könne, bezweifeln lässt. Die liberale Demokratie steht nämlich jeden Tag vor der Aufgabe, ihren Bestand zu sichern und ihre eigene moralische Verfassung zu stärken. Sie nimmt ihren Bildungsauftrag ernst, möchte ihre Kinder und Jugendlichen zu mündigen BürgerInnen erziehen, fördert ihre politische Kultur und pflegt ihre öffentlichen Räume. Denn ein Gemeinwesen funktioniert nur, wenn es von einer breiten politischen Mitte gestützt wird.

Zugang zur politischen Mitte
An diesem Punkt kommt dann häufig der Begriff der Bürgerlichkeit ins Spiel. Er dient der Registratur moralischer Zugehörigkeit und ist deswegen umkämpft. Das lässt sich an den jüngsten Auseinandersetzungen um die AfD erkennen. Ihr Anspruch, eine bürgerliche Partei zu sein und mithin die bürgerliche Mitte zu repräsentieren, wird von den etablierten Parteien vehement bestritten.
Die momentane Auseinandersetzung um den Begriff scheint allerdings noch in den Startlöchern. Wirtschaftsminister Peter Altmaier hat jüngst in der FAZ für das Konzept einer bürgerlichen Moderne plädiert, als er auf Bernhard Schlinks kritische Einlassungen zum immer enger werdenden Mainstream der Political Correctness replizierte. Allzu viel Neues fällt ihm dabei allerdings noch nicht ein, die AfD erwähnt er noch nicht einmal, und ihrem Erfolg steht er einigermaßen ratlos gegenüber. Auf dem Boden der Aufklärung steht seine bürgerliche Moderne; und „die Neuschaffung eines starken Bürgertums, das zur gesellschaftlichen Mitgestaltung willens und befähigt ist“, soll die ganze Sache stützen. Die Zeiten waren selten so ideal, so tolerant, liberal und pluralistisch. Man möchte ihm gern zustimmen – nur: Warum wirkt dann augenblicklich vieles so fragil, wenn eigentlich alles so gut ist?
An Altmeiers Intervention werden noch einmal die Probleme deutlich, die dem Verständnis von Bürgerlichkeit von jeher anhaften: Wie können Sittlichkeitsvorstellungen mit einer breiten sozialen Basis verbunden werden? Wie kann Bürgerlichkeit zugleich Distinktion und Integration bewerkstelligen? Wie kann politisch etwas geschaffen werden, was eigentlich ohnehin die Vorbedingung demokratischer Politik ist? Wenn wir davon ausgehen, dass Bürgerlichkeit und Liberalität zusammenhängen, dann kommen sich Gemeinwohl und Individualismus, bürgerschaftliche Solidaritätsforderung und persönliches Freiheitsbedürfnis in die Quere. Das Verständnis von Bürgerlichkeit ist von jeher politisch konnotiert – und die verschiedenen Parteien versuchen, den Begriff für sich zu vereinnahmen, weil er den Zugang zur politischen Mitte verspricht.

Antibürgerliche Volten
Das war nicht immer so, und ein Rückblick auf einige Stationen des Ideenstreits um die Bürgerlichkeit in der Bundesrepublik kann dies verdeutlichen. Die positive Konnotation von demokratischer Staatsbürgerlichkeit gehörte quasi zum Reeducation-Programm der Alliierten. Die relativ traditionellen Moralvorstellungen in der Adenauer-Ära konturierten ein Leitbild des pflichtbewussten Passivbürgers, der sich in die „nivellierte Mittelstandsgesellschaft“ (Helmut Schelsky) einfügte. In der Atmosphäre des kaltkriegerischen Antikommunismus bemühte sich auch die SPD, den Klassengegensatz vergessen zu machen. So hatte etwa 1961 Herbert Wehner für die Sozialdemokratie bekannt: „Wir sind alle Bürger dieser Bundesrepublik; die müssen schon einen besonderen Begriff von Bürgerlichkeit konstruieren, um uns auszuschließen.“
Im Zuge der Studentenbewegung und der neomarxistischen Renaissance wendete sich das Blatt und jedwede „bürgerliche Ideologie“ geriet auf den Index. Bürgerlich, das hieß angepasst, bourgeois oder spießig, autoritätshörig und womöglich schon auf dem Weg in den Faschismus. Diese antibürgerliche Volte reichte bis in die gemäßigten Gefilde der Frankfurter Schule. Auch Jürgen Habermas ging es 1973 noch darum, das falsche Bewusstsein im „spätkapitalistischen Gesellschaftssystem“ zu enttarnen, um „die bürgerliche Ideologie zu durchschauen“. Es war also noch ein weiter Weg zur bürgerlichen Selbstakzeptanz der bundesrepublikanischen Linken.
Gleichwohl hatte die Linke eine dynamisierende Wirkung auf die von ihr gescholtene passive Bürgergesellschaft. Die neuen sozialen Bewegungen, die Bürger- initiativen, der Protest gegen Nachrüstung und Atomkraftwerke artikulierten neue Partizipationsbedürfnisse und transformierten die politische Kultur. Die kritische und engagierte Bürgerin wurde zum role model; die Demokratietheorie verteidigte den „zivilen Ungehorsam“ als Prüfstein für eine tolerante und sich stetig weiterentwickelnde Demokratie; die Zivilgesellschaft wurde zur Inkarnation gelebter demokratischer Lebensform. Trotzdem brachte dies den Begriff der Bürgerlichkeit nicht zum Verschwinden; sei es, weil Konservative weiterhin an ihm festhielten; sei es, weil die Alltagsverständigung nicht auf ihn verzichten wollte.
Die letzte größere Debatte um Bürgerlichkeit ereignete sich in der Endphase der rot-grünen Koalition, die vom Streit um die sogenannten Hartz-Reformen geprägt waren. Es ist nicht ungewöhnlich, dass der Ruf nach Bürgerlichkeit immer dann laut wird, wenn im Wohlfahrtsstaat die Verteilungsspielräume eng werden. In Zeiten der knappen Kassen wird dann wirksam an die Eigenverantwortung und die Selbständigkeit des Einzelnen appelliert, quasi die Not zur Tugend erklärt. Auch heutzutage deuten die Anzeichen eines ökonomischen Abschwungs wieder in diese Richtung. Freilich wäre es fatal, den Begriff der Bürgerlichkeit auf diese strategische Funktion reduzieren. Seine soziomoralische und normative Dimension bleibt essenziell.

Rechte und Pflichten
Gleichwohl kann man fragen, inwieweit das klassische Verständnis von Bürgerlichkeit noch zeitgemäß ist, wenn der vielbeklagte Verlust des bürgerlichen Wertehimmels doch kaum rückgängig zu machen ist und das humanistische Ethos des Bildungsbürgers nur noch eine ferne Erinnerung zu sein scheint. Wie weit können wir uns noch mit einem stolzen republikanischen Begriff des Bürgers identifizieren, der nicht nur Anrechte auf Teilhabe und Freiheitsbedürfnisse kennt, sondern auch Pflichten gegenüber seinem Gemeinwesen zu erfüllen bereit ist? In seinem neuen Buch bricht der Philosoph Dieter Thomä eine Lanze für die demokratischen Helden, die aufgrund ihrer Überzeugungen Opfer bringen. Wir scheinen wieder Zeiten entgegenzugehen, die einen neuen Heroismus in der Demokratie fordern, weil das, was lange selbstverständlich war, auf einmal in unsicheres Fahrwasser geraten ist. Dabei scheinen sich Bürgerlichkeit und Heldentum in gewisser Weise auszuschließen. „Vernünftig ist, wer den Ausnahmezustand vermeidet“, so lobte Odo Marquard, ein Apologet der Bürgerlichkeit, die demokratische Normalität.
Bevor wir also zu Helden werden, sollten wir wissen, warum es sich lohnt, am Begriff der Bürgerlichkeit festzuhalten und die bürgerliche liberale Demokratie zu verteidigen. Dazu möchte ich vier Denker aufrufen, die ins Pantheon der deutschen politischen Ideengeschichte gehören und noch einmal ihre Argumente für einen normativ gestärkten Begriff der Bürgerlichkeit ins Gedächtnis rufen.

Der Einzelne in der Gemeinschaft
Der Philosoph Helmut Plessner hat seit seiner epochalen Schrift über die „Grenzen der Gemeinschaft“ (1924) für die Zustimmung zur modernen arbeitsteiligen Gesellschaft geworben und vor jedem Gemeinschaftskult gewarnt. Sein Plädoyer für eine „offene Gesellschaft“ (so Karl Poppers spätere Prägung) sieht in der Entfremdung des Einzelnen die Bedingung der Freiheit. Wir können uns individuell frei fühlen, weil wir in ganz verschiedene gesellschaftliche Rollen schlüpfen. Takt, Rücksichtnahme, Zivilität und Masken sorgen dafür, dass wir keine Zumutung für unsere Mitmenschen werden.
Dolf Sternberger hat als Mitbegründer der westdeutschen Politikwissenschaft immer betont, dass der Staat nicht allein von seinen Grenzen oder vom Bild einer Nation abhängt, sondern dass er sich aus der Pluralität seiner Bürgerschaft zusammensetzt. Das Gemeinwesen lebt aus dem Geist bürgerlicher Vereinbarung, es gibt die Erlösung weder durch die Herrschaft einer Sachlogik noch durch eine Führerfigur. Die Bürgerinnen und Bürger müssen sich immer wieder in demokratischen Prozeduren einigen.
Von der Bürgergesellschaft sprach der Soziologe Ralf Dahrendorf, der durchaus einen Sinn für republikanische Tugenden hatte. Als Liberaler wusste Dahrendorf um die Produktivität des Wettbewerbs, der eben nicht nur materielle Dinge betraf, sondern sich auf das öffentliche Wohl erstreckte. Dass sich hierbei Eliten bildeten, nahm er in Kauf, solange soziale Durchlässigkeit und gleiche Lebenschancen die Leitlinien aller Politik blieben.

Bürgerlichkeit als Maßstab
Zu guter Letzt möchte ich noch Hannah Arendt nennen, die bekanntlich im Bürgerstatus das zentrale Menschenrecht erblickte – jedes Individuum hat das Recht, Rechte zu haben. Diese Einsicht schützt vor jeder Trivialisierung des Bürgerbegriffs und erinnert daran, dass bei aller Mobilität und elitärem Kosmopolitismus die Garantie von Rechten auch die Frage nach Heimatbindung einschließt. Arendts Erfahrung des Flüchtlingsdaseins hat in unserer Gegenwart wieder ganz neue Dringlichkeit gewonnen; und wir tun uns leichter, Neuankömmlingen in unserem Land möglichst schnell mit einem klaren Begriff von Bürgerlichkeit vertraut zu machen, der Rechte, Freiheiten und Pflichten gleichermaßen kennt und zum Maßstab nimmt.
Im Rückgriff auf die politischen Theoretiker der Bürgerlichkeit sollte klar geworden sein, dass wir nur sinnvoll über Bürgerlichkeit und Demokratie sprechen können, wenn wir den Begriff als Mittel zur normativen Festlegung und Distinktion verwenden. Nebenbei lässt sich dann mit diesem Katalog von Bestandteilen liberaler Bürgerlichkeit leicht erklären, ob eine Partei bürgerlich ist – oder eben nicht.

Jens Hacke
Dr. Jens Hacke ist Privatdozent an der Humboldt-Universität zu Berlin. Zuletzt erschien „Existenzkrise der Demokratie. Zur politischen Theorie des Liberalismus in der Zwischenkriegszeit“ (Suhrkamp 2018).

© privat suhrkamp.de

Weitere Artikel des Autors

1/2010 Öffentliche Denker
5/2009 Staat ohne Eigenschaften?
Mehr zum Autor