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Frieden als Ziel der Politik

Titelthema - Frieden als Ziel der Politik
© Illustration: Thomas Kuhlenbeck

Echter Frieden, wusste Dolf Sternberger, beruht auf Verhandlung und politischer Vereinbarung, um das Gegensätzliche in einen Zustand erträglicher Koexistenz zu überführen. Zur Aktualität Dolf Sternbergers

Jens Hacke01.06.2025

"Es gibt eben glückliche Zeiten, in denen es leicht ist, ein freiheitliches Gemeinwesen zu konstruieren. Man soll sich solcher Zeiten freuen, aber man sollte nicht diejenigen verunglimpfen, die in härteren Zeiten zu retten suchen, was zu retten ist", so blickte Carl Schmitt (1888-1985) im Jahr 1951 nach 300 Jahren auf Hobbes' Leviathan zurück. Die eigene Parallelerfahrung lag für ihn auf der Hand und gehörte zu seiner Selbststilisierung nach 1945.

Die Politik vom Frieden her zu denken, so Schmitts Insinuation, war ein Privileg der Glückseligen, sprich: naiv. Tieferen Einsichten in das Wesen des Politischen konnte ein Theoretiker nur erlangen, wenn er sich der Gefahr von Bürgerkrieges Anomie und latenter Gewalt stets bewusst blieb, ja diesen Zustand der Bedrohung gewissermaßen internalisiert hatte. Kein Wunder, dass Schmitt die Fürsprecher und Verteidiger der Bundesrepublik 1951 intellektuell für nicht satisfaktionsfähig hielt, richteten sie sich doch bequem in einem provisorischen Gemeinwesen ein, dem alle traditionellen Insignien der Staatlichkeit fehlten. Von Souveränität, einem Kernbegriff Schmitts, konnte keine Rede sein, sogar die Staatsform war von den Alliierten festgelegt, die Friedenssicherung hing zudem von den Besatzungsmächten ab.

Schmitt und sein Schüler Ernst Forsthoff, Publizisten wie Friedrich Sieburg oder Hans Zehrer, aber auch die Vertreter eines technokratischen Konservatismus wie Arnold Gehlen oder Hans Freyer artikulierten öffentlichkeitswirksam konservative Vorbehalte gegen die neue demokratische Ordnung. Diese Rechtsintellektuellen beschäftigten sich nicht mit der eigenen NS-Vergangenheit, aber nahmen alle neuen Möglichkeiten zur Kritik der jungen westdeutschen Demokratie wahr. Wenn man die Literatur der 1950/60er Jahre durchmustert, gerät man ins Staunen, welches Maß an antiliberalem Gedankengut frei fluktuierte. Demokratieerzieher, die sich im jungen Fach der Politikwissenschaft profilierten, hatten es nicht unbedingt leicht. Zu ihnen zählte der promovierte Philosoph und Journalist Dolf Sternberger (1907-1989), der in der Philosophischen Fakultät in Heidelberg (in unmittelbarer Nähe des erwähnten Ernst Forsthoff) als Lehrbeauftragter und Leiter einer Forschergruppe die "Politische Wissenschaft" mit aufbaute. Sollte die Bezeichnung "innere Emigration" irgendeinen deskriptiven Sinn haben, so dürfte sie für Sternberger zutreffen. Während der NS-Zeit gehörte er der Redaktion der einstmals liberalen Frankfurter Zeitung an und hatte die Kunst eingeübt, zwischen den Zeilen zu schreiben, bis im Sommer 1943 gegen ihn ein Publikationsverbot verhängt wurde.

Sternberger war knapp zwei Jahrzehnte jünger als Schmitt, aber er teilte mit ihm die prägende Erfahrung des Weltkriegszeitalters – und zog völlig andere Konsequenzen aus der Erfahrung des Totalitarismus. Die Differenzen der beiden sollten später offen zu Tage treten, als Sternberger im November 1960 seine bekannte Heidelberger Antrittsrede über den "Begriff des Politischen" hielt – eine wohlweisliche Titel-Adaption der berühmten Schmitt-Schrift – und eine seiner politiktheoretischen Kernaussagen lancierte: Gegen ein instrumentelles Verständnis von Politik als Staatskunst und Herrschaftskunde sowie gegen Schmitts Postulat, den Kern des Politischen als Unterscheidung zwischen Freund und Feind zu betrachten, beharrte er auf der normativen Ausrichtung der Politik: "Der Gegenstand und das Ziel der Politik ist der Friede. Das Politische müssen und wollen wir zu begreifen versuchen als den Bereich der Bestrebungen, Frieden herzustellen, Frieden zu bewahren, zu gewährleisten und zu schützen und freilich auch zu verteidigen. Oder anders ausgedrückt: Der Friede ist die politische Kategorie schlechthin."

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Autor Jens Hacke © privat

Diese Einsicht kam Sternberger nicht über Nacht. Er hatte sie wohl zum ersten Mal in direkter Auseinandersetzung mit der NS-Ideologie formuliert. Im Olympia-Sommer 1936 wies Sternberger seine Leser in der Frankfurter Zeitung auf den Widerspruch hin, dass die Hitler-Regierung zwar allseits ihren Friedenswillen bekundete, im Zentrum ihrer Weltanschauung jedoch unablässig vom Kampf ums Dasein und von kriegerischer Bewährung die Rede sei. Der NS-Ideologie stellte er das Ideal einer friedlichen Ordnung entgegen, und berief sich dabei opportun auf die Friedensrhetorik, die das Vorfeld der Spiele von Berlin dominierte. Sternberger wusste einen gehaltvollen Begriff des Friedens von Friedhofsruhe oder einem gewaltsam herbeigeführten Belagerungszustand zu trennen.

Die Vorstellung, dass der Friede generell Sinn und Zweck aller politischen Anstrengung sein müsse, teilte er mit dem von ihm bewunderten Staatsrechtler Hans Kelsen (1881-1973). Kelsen hatte diese Einsicht ins Zentrum seiner bahnbrechenden Schrift Vom Wesen und Wert der Demokratie (1929) gestellt. Über Kelsen ging Sternberger allerdings hinaus, als er 1946 die Selbstbehauptungsformeln einer "wehrhaften Demokratie" formulierte. Während Kelsen zum Ende der Weimarer Republik noch insistierte, dass die Demokratie niemals gegen das für sie konstitutive Mehrheitsprinzip verstoßen dürfe und daher keine Mittel gegen die (eher theoretische) Gefahr der Selbstabschaffung besitze, rechtfertigte Sternberger Sanktionen gegen Antidemokraten als selbsterhaltende Maßnahme: "Keine Freiheit für die Feinde der Freiheit! Keine Toleranz für die Feinde der Toleranz! Kein gleiches Recht für die Feinde gleichen Rechts!", so lauteten die vielzitierten Formeln seines klassischen Essays über die "Herrschaft der Freiheit" aus dem Jahr 1946. Sie galten übrigens für innerstaatliche und außenpolitische Krisensituationen gleichermaßen.

Insofern war Sternbergers Festlegung auf den Frieden als Ziel aller Politik kaum mit Idealismus zu verwechseln. Als theologisch versierter Intellektueller setzte er sich dabei immer wieder mit dem Pazifismus auseinander. Sternberger verteidigte seinen Begriff des Friedens einerseits gegen eine "Dämonologie der Macht", wie er sie im sogenannten Realismus von Machiavelli bis Schmitt vorfand. Andererseits machte er später gegenüber dem Pazifismus der Friedensbewegung deutlich, dass gute Gesinnung allein noch im Unpolitischen verharrte. Ein eschatologisch inspirierter Missionierungs- und Bekehrungswille bewegte sich in Äquidistanz zu Nato und Warschauer Pakt. Dies musste er als Verfechter des liberalen Westens naturgemäß missbilligen. Echter Frieden, wusste Sternberger, beruht auf Verhandlung und politischer Vereinbarung, um das Gegensätzliche, wenn nicht zu überwinden, so doch auszugleichen und in einen Zustand erträglicher Koexistenz zu überführen.

Die Grundbedingung für einen politisch gewonnenen Frieden war freilich, dass sich die Vertragspartner an gemeinsam vereinbarte Regeln halten und berechenbar bleiben, kurz die politische Kategorie des Vertrauens nicht verspielen. Dafür sah er im Kalten Krieg Chancen. Die gewaltsame und Völkerrecht brechende Revision der Versailler Ordnung, die Hitler zielstrebig in mehreren Etappen während der 1930er Jahre vollzog, diente Sternberger hingegen als abschreckendes Lehrbeispiel dafür, dass ein einseitiges Hoffen auf Befriedung qua Appeasement eben keine taugliche Politik sein konnte.

Im Blick auf aktuelle Konflikte um die Möglichkeiten der Friedenssicherung, Verhandlungsfrieden, Kriegstüchtigkeit und die außen- respektive sicherheitspolitische Bewährung des Westens mögen historische Vergleiche bisweilen schablonenhaft wirken. Trotz aller Evidenzen für Putins antiwestliches Furor und imperiale Ziele ist Europa heute in einer anderen Lage als in den 1930er Jahren, nämlich potentiell stärker und verteidigungsfähiger. Angesichts der komplexen Voraussetzungen, die jeder Friedenssicherung zugrunde liegen, versagen einfache Lösungen. Deshalb ist jenseits aller Polarisierungen intellektuelle Sorgfalt nötig, wenn es um die Vermischung von moralischen und strategischen Argumenten in der Politik geht.

Sternbergers intellektueller Habitus ist in mehrerlei Hinsicht für die Debattierer der Gegenwart vorbildhaft. Er argumentierte nie ad hominem. Die Begründungsschriften der friedensbewegten Theologen nahm er als evangelischer Christ ernst, und sogar gegenüber von ihm verabscheuten Ex-Nazis wie Schmitt verzichtete er auf jede persönliche Polemik. Stattdessen wog er die Kraft des Arguments. Sternberger scheute auch davor zurück, die Politik mit Handlungsanweisungen zu versorgen oder einen Modus der Hyperkritik an der politischen Klasse zu kultivieren. Er konzentrierte sich darauf, Motivations- und Legitimationsgründe zu erörtern. Sein wissenschaftliches und publizistisches Werk verbindet Stilwillen, Noblesse und Liberalität – Eigenschaften, nach denen man sich heute nicht selten sehnt.


 

Jens Hacke

Liberale Demokratie in schwierigen Zeiten

CEP Europäische Verlagsanstalt 2021,

269 Seiten, 22 Euro

Jens Hacke
Jens Hacke lebt als Politikwissenschaftler, Ideenhistoriker und Publizist in Hamburg. Zurzeit lehrt er Politische Theorie und Ideengeschichte an der Martin-Luther-Universität in Halle. Zuletzt erschien: Liberale Demokratie in schwierigen Zeiten (Hamburg 2021, CEP Europäische Verlagsanstalt, 269 Seiten, 22 Euro).

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