Titelthema
Chinas Charmeoffensive
Jahrzehntelang pflegten Deutschland und China enge Beziehungen. Nun haben die Chinesen den Eindruck: Die Deutschen wenden sich ab. Dabei könnte Deutschland im Machtkampf zwischen China und den USA eine Schlüsselrolle zukommen.
Die Bewunderung für das Land ist noch immer herauszuhören, wenn Li Hua über Deutschland spricht. Zehn Jahre ist es her, also Jahre vor der Pandemie, als Reisen für Chinesen nach Europa noch einfacher waren und der Austausch insgesamt intensiver war. Die 39-Jährige hatte damals an einem deutschchinesischen Austauschprogramm teilgenommen. Zwei Monate war sie in Hamburg, arbeitete bei einem deutschen Medium und schrieb zugleich für ihre Heimatredaktion in China. Einen weiteren Monat reiste sie herum.
Die Menschen, die sie in diesen drei Monaten in Deutschland kennenlernte, empfand sie als „freundlich, ehrlich, gewissenhaft“, so sagt sie das. „Das Wissen über China mag bei vielen nicht groß gewesen sein, das Interesse aber schon.“ Das hat sie an den Deutschen sehr gemocht.
Seitdem ist viel geschehen. Dass Staats- und Parteichef Xi Jinping sein Land mit eiserner Hand regiert, China wieder autoritärer, strenger, kommunistischer geworden ist, hat die Deutschen von China entfremdet. Dass Xi den Hongkongern die Freiheitsrechte genommen hat, obwohl sie ihnen völkerrechtlich bis 2047 zustanden, hat viele Deutsche geradezu entsetzt.
Dann kam die Pandemie, verursacht durch ein Virus, das in China seinen Ursprung hatte. Die Führung in Peking wies jegliche Versäumnisse von sich und gab stattdessen dem Westen die Schuld für die Ausbreitung. Und dann hat sich die Führung in Peking bei Russlands Angriffskrieg gegen die Ukraine auf die Seite Putins geschlagen. Damit ist das China-Bild bei den meisten Deutschen vollends gekippt.
Und umgekehrt? Auch in China ist das Misstrauen gegenüber den Deutschen gewachsen. Li Hua drückt es diplomatisch aus: „Die Deutschen scheinen sehr stark mit sich selbst beschäftigt zu sein“, sagt sie. Es gebe nur noch wenig Austausch, bedauert sie. Erst vor Kurzem hatte sie mit einer Bekannten, die sie aus Hamburg kennt, nach Jahren der Funkstille geschrieben. Dabei pflegten Deutsche und Chinesen viele Jahre lang ein ausgesprochen gutes Verhältnis, vor allem wirtschaftlich, damit einhergehend auch politisch, kulturell und zwischenmenschlich. Von Chinas Aufstieg von einem der ärmsten Länder der Welt zu Beginn der 80er Jahre zur zweitgrößten Volkswirtschaft der Welt und einem Technologie-Vorreiter heute haben Geschäftsleute und Unternehmer vieler Länder profitiert. Die Deutschen aber ganz besonders. Denn während andere Länder wie Japan, die USA und Italien China vor allem als günstige Werkbank sahen, lieferten die Deutschen genau das, was die chinesische Wirtschaft für einen nachhaltigen Aufbau brauchte: Maschinen, chemische Vorprodukte und Autos. Zugleich übernahmen die Chinesen aus Deutschland viel Know-how. Und den Deutschen gefiel die Rolle des Lehrmeisters. Die Chinesen dankten es ihnen.
Diese Dankbarkeit den Deutschen gegenüber überwiege auch weiterhin, sagte Wang Hui, Professor an der Tsinghua-Universität in Peking, der zu Chinas moderner Gesellschaft und seinen internationalen Beziehungen forscht, als er im vergangenen Frühjahr in Berlin zu Besuch war. Viel mehr als gegenüber anderen westlichen Ländern.
Aus diesen Wirtschaftsbeziehungen ist für einige besonders große deutsche Unternehmen allerdings eine Abhängigkeit geworden. Dafür steht vor allem die deutsche Automobilindustrie. Allein der Volkswagen-Konzern ist an 38 Werken in China beteiligt, fast jedes dritte Fahrzeug verkauften die Wolfsburger bis 2022 in der Volksrepublik, bei Mercedes und BMW war es jedes Dritte. Sie können gar nicht anders, als weiter auf den chinesischen Automarkt zu setzen, dem längst größten der Welt.
Und jetzt? Jetzt hat die chinesische Konkurrenz aufgeholt und in der Elektromobilität gar überholt. Volkswagen war jahrzehntelang die Nummer eins in China. Seit 2023 steht BYD an der Spitze – einst ein Batteriehersteller, nun von der Stückzahl der größte E-Autobauer der Welt. Im E-Segment hat VW in China einen Marktanteil von nicht einmal drei Prozent. Fast jedes zweite verkaufte Auto in China fährt aber mit Elektroantrieb.
Die Arroganz der deutschen Manager, die Chinesen würden es nie an die Spitze schaffen, ist ein wesentlicher Grund dafür, dass die Deutschen in kurzer Zeit so heftig ins Hintertreffen geraten sind. Um überhaupt noch mithalten zu können, sind sie auf chinesische Partner angewiesen. Vom Oberlehrer zum Schüler – an diesen Rollentausch müssen sich die deutschen Automanager aber erst gewöhnen.
Und dann sind da die USA: Angesichts Chinas technologischen Aufstiegs und der zunehmenden geopolitischen Interessen, die Peking hemmungslos bekundet, hat Washington die Volksrepublik zu ihrem Erzfeind erkoren. In diesem Systemstreit fordert Washington die Deutschen auf, sich zu entscheiden: Wollen sie weiter von den USA verteidigt werden? Oder sind ihnen die Geschäfte mit den Chinesen wichtiger? Beides ginge nicht mehr. Wer Autos in den USA verkaufen will, muss auf chinesische Komponenten verzichten. Die Chinesen drohen ihrerseits mit Konsequenzen. Ein Dilemma für die deutschen Autobauer, ein Dilemma für Deutschland insgesamt.
Derzeit setzt Chinas Führung auf eine Charmeoffensive. Sie hat begriffen: Das Verhältnis zu den USA wird auf absehbare Zeit schlecht bleiben. Umso stärker ist die Führung in Peking darum bemüht, das Verhältnis zu Europa zu kitten. Und sie weiß, wie schwer sich besonders eine deutsche Regierung tut, sich angesichts der wirtschaftlichen Abhängigkeiten von China abzuwenden. Genau in dieser Bereitschaft beider Seiten zum Austausch liegt eine Chance: zuhören, um gehört zu werden. Stellt die neue Bundesregierung es geschickt an, könnte ihr im Systemstreit der Weltmächte eine Schlüsselrolle zukommen.
Felix Lee ist Journalist. Zwischen 2010 und 2019 war er China-Korrespondent der „taz“ und anderen deutschsprachigen Zeitungen. Inzwischen lebt er in Berlin und schreibt für die „Süddeutsche Zeitung“.
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