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Interview

Corona stoppt Polio-Impfungen

Interview - Corona stoppt Polio-Impfungen
Der Franzose Michel Zaffran ist seit 2016 Direktor der Weltgesundheitsorganisation WHO für den Kampf gegen Polio und Vorsitzender der Strategiekommission der GPEI. Der Ingenieur und Fachmann für tropische Epidemiologie arbeitet seit 1987 für die WHO und ist Mitglied im Rotary Club Gex-Divonne. © privat

Dennoch ist Michel Zaffran, Direktor der Weltgesundheitsorganisation WHO, überzeugt, dass trotz Finanzlücke die Kinderlähmung schon bald Geschichte sein wird.

Michel Zaffran01.06.2020

Herr Direktor Zaffran, wie beurteilen Sie den gegenwärtigen Stand der Polio-Kampagne? Besteht eine realistische Chance, die Übertragung wilder Polioviren bis 2023 dauerhaft zu unterbrechen?

1985, als Rotary International sein PolioPlus-Programm auf den Weg brachte, erkrankten jedes Jahr über 350.000 Kinder in mehr als 125 Ländern an Kinderlähmung infolge einer Infektion mit wilden Polioviren. Heute sind diese Viren nur noch in zwei Ländern endemisch: Pakistan und Afghanistan. In ganz Afrika ist seit September 2016 kein wildes Poliovirus mehr nachgewiesen worden, sodass der Kontinent wahrscheinlich noch in diesem Jahr als Polio-frei zertifiziert werden kann. Die Kinderlähmung ist zu 99 Prozent besiegt, mehr als 18 Millionen Menschen können heute laufen, die andernfalls gelähmt wären – und mehr als 1,5 Millionen Menschenleben konnten gerettet werden. All dies verdanken wir den unermüdlichen Anstrengungen von Rotary und der Rotarier in aller Welt: durch Spendensammeln, Aktionen in den Gemeinden, Lobby-Arbeit bei den Regierungen und bei den Eltern, um sie vom Nutzen der Impfungen zu überzeugen.

99 Prozent sind aber nicht genug, wenn man eine Krankheit ausrotten will. Das ist ein extrem schwieriges Vorhaben, weshalb es auch erst ein einziges Mal gelungen ist (durch die Ausrottung der Pocken 1980). Sollten wir es nicht schaffen, Polio in den verbliebenen Regionen von Pakistan und Afghanistan komplett auszurotten, dann laufen wir Gefahr, dass diese Krankheit weltweit wieder aufflackert. Das ist die Krux, wenn man eine Krankheit besiegen will. Entweder man vernichtet sie komplett – oder eben nicht. Eine dritte Option gibt es nicht. Und jetzt die gute Nachricht: Wir haben alle Mittel und Strategien zur Hand, um bis 2023 auch in diesen beiden Ländern zum Erfolg zu kommen. Die außerordentlichen Erfolge der Polio-Bekämpfung in Indien (2011 letzter Fall) und in Afrika sind der Beweis, dass wir es schaffen können und werden. Erfolg allerdings gibt es nur, wenn die notwendigen Maßnahmen voll finanziert sind und durchgeführt werden können. Wenn das gegeben ist, kommt der Erfolg.

Beeinträchtigt die Corona-Pandemie Krise den Fortschritt der Polio-Kampagne? Wenn ja, müssen wir dann den Polio-Zeitplan überarbeiten?

Leider ja. Polio-Impfungen erfordern engen Kontakt von Mensch zu Mensch, und das steht diametral den Abstands-Empfehlungen entgegen, die für die Bekämpfung von Covid-19 notwendig sind. Deshalb haben wir die schmerzhafte Entscheidung getroffen, vorübergehend die Polio-Impfungen auszusetzen. Als alles überlagernde Priorität gilt es, die Gesundheit und Sicherheit der Mitarbeiter und der Gemeinden zu schützen. Impfaktionen gegen Polio könnten beträchtlich zur Ausbreitung des Corona-Virus beitragen und damit die Kinder, die Impfhelfer und die Kontaktpersonen hinter beiden Gruppen einer nicht vertretbaren Gefahr aussetzen. Vom Standpunkt öffentlicher Gesundheitsvorsorge aus war unsere Stopp-Entscheidung die einzig denkbare unter den gegebenen Umständen.

Leider bedeutet das, dass wir nun mit einem Anstieg der Polio-Fälle in den betroffenen Gebieten rechnen müssen und auch mit einer Ausbreitung in andere Regionen. Deshalb ist es extrem wichtig, dass wir
1. unsere Polio-Überwachungsmaßnahmen so umfassend wie möglich weiterführen und die Entwicklung der Lage aufmerksam verfolgen, und
2. so schnell wie irgend vertretbar zum vorgesehenen Aktionsplan inklusive Impfungen zurückkehren. Das Timing wird jeweils abhängen von der Situation vor Ort und den Maßgaben der nationalen Gesundheitsbehörden, was Risikoeinschätzung und Prioritäten betrifft. Wir sind gerade dabei, umfassende spezifische Pläne zu entwickeln, um sofort aktiv zu werden, wann und wo immer die Situation den Neustart erlaubt.

Wenn es in dieser Situation so etwas wie einen Hoffnungsschimmer gibt, dann liegt er darin, dass in einzelnen Regionen die Menschen derzeit weniger mobil sind und Reisen auch über Grenzen hinweg nicht so leicht möglich sind wie vor der Pandemie. Dadurch könnte es sein, dass das Ausbreitungsrisiko der Polioviren vermindert ist. Aber das ist reine Spekulation. Und unsere absolute Priorität ist, die Impfungen so schnell wieder aufzunehmen, wie es die Situation erlaubt.

In der Zwischenzeit stellen wir in vielen Ländern die Polio-Infrastruktur – Personal, Labore, Logistik – uneingeschränkt zur Verfügung, um die nationalen Gesundheitssysteme in der Bekämpfung der Krise schnell und effektiv zu unterstützen. In vielen Ländern läuft bereits eine intensive Zusammenarbeit. Das ist immer schon das „Plus“ in PolioPlus gewesen: Die Infrastruktur, die zur Bekämpfung der Kinderlähmung aufgebaut wurde, steht regelmäßig auch für andere plötzlich auftretende Krankheiten bereit oder zur Linderung der Folgen humanitärer Katastrophen. Deshalb bleibt es doppelt wichtig, weiter in die Polio-Kampagne zu investieren: nicht nur um Polio auszurotten, sondern auch um diese Infrastruktur weiterhin für andere medizinische Notfallsituationen nutzbar zu machen, so wie jetzt gerade bei Covid-19.

Der große Erfolg der Polio-Kampagne ist daran zu erkennen, dass die erwähnte afghanisch-pakistanische Grenzregion der einzige verbliebene Hotspot auf der Welt ist. Nun hat es in Pakistan im vergangenen Jahr einen deutlichen Rückschlag gegeben. Was kann die Global Polio Eradication Initiative (GPEI) tun, um wieder in die Erfolgsspur zu finden?

Polio zu stoppen ist eigentlich eine geradlinige Aufgabe: Wenn du in einem bestimmten Gebiet genug Kinder geimpft hast, stirbt das Virus aus. Kompliziert wird es dort, wo Kinder übersehen werden, denn dann kann das Virus sich immer weiter verbreiten. Die Anstrengungen, die Pakistan bisher unternommen hat, sind eine außergewöhnlich Leistung und haben dazu geführt, dass die Polio-Last von 30.000 Fällen jährlich in 20 Jahren auf inzwischen unter 200 gedrückt werden konnte. Allerdings: Eine Krankheit auszurotten verlangt mehr als das Erreichte.

Die Gründe, warum es immer noch Nischen mit unzureichend oder gar nicht impften Kindern gibt, unterscheiden sich je nach Region in Pakistan und Afghanistan. Ausschlaggebend dafür sind Faktoren wie größere Wanderbewegungen in der Bevölkerung, eine schwache Infrastruktur, fehlende Gesundheitsüberwachung, Widerstand gegen Impfungen, auch durch Fehlinformationen, und eine fragile politische Sicherheitslage. Was die Regierungen in beiden Ländern aktuell dagegen unternehmen, ist eine genaue Untersuchung Region für Region, um die jeweiligen Schwachstellen zu identifizieren und passgenaue Gegenmaßnahmen zu entwickeln. Dieselbe Strategie wurde auch in Indien und Nigeria angewandt, als diese Länder in die erfolgreiche Schlussphase der Polio-Bekämpfung eintraten. In Pakistan und Afghanistan erleben wir ein außerordentliches Engagement der beiden Regierungen und praktisch aller Bereiche der zivilen Gesellschaft.

Um diesen Prozess zu stützen, hat die GPEI ein neues Expertenzentrum in Amman, Jordanien, eingerichtet, das die Länderteams schnell mit den wichtigsten Unterstützungsleistungen versorgt. Leiter des Zentrums ist Dr. Hamid Jafari, einer der erfahrensten Fachleute im Kampf gegen Polio. Er ist selbst Pakistani und kennt die geo-politischen Gegebenheiten dort wie kein anderer. Er ist außerdem derjenige, der vor etwa 20 Jahren das Fundament für den Erfolg in Indien gelegt hat.

Das alles macht mich zuversichtlich, dass wir den Erfolg in dieser Schlussphase erreichen werden, vielleicht sogar schneller, als wir uns vorstellen können. Unsere größte Herausforderung ist derzeit, wie gesagt, das Auftreten von Covid-19 und die erzwungene Arbeitspause für unser Polio-Programm. Aber wir haben alles so geordnet, dass wir, sobald es möglich ist, schneller und effektiver als zuvor vorangehen können.

Während die Infektionen mit wilden Polioviren zurückgehen, gibt es immer wieder neue Infektionen mit Viren, die sich erst infolge der Schluckimpfungen durch Mutationen verbreiten können. Sie können vor allem dort Erkrankungen auslösen, wo die Impfraten unter dem notwendigen Niveau liegen. Was kann die GPEI tun, um diese Bedrohung zu stoppen?

Den Mitarbeitern am Polio-Programm ist diese Gefahr schon lange bewusst: Je näher wir der Ausrottung wilder Polioviren kommen, desto stärker würden impfabgeleitete Polio-Infektionen zunehmen. Das ist der Punkt, an dem wir uns gerade befinden.

Die Strategie dagegen ist und bleibt dieselbe. Erst müssen wir die wilden Polioviren besiegen, anschließend so schnell wie möglich und weltweit die Schluckimpfungen einstellen, um dieses Risiko auszuschließen. Unser Ziel bleibt: sicherzustellen, dass kein Kind jemals wieder an irgendeiner Form von Kinderlähmung erkrankt, weder durch wilde noch durch impfabgeleitete Viren.

Bis dahin arbeiten wir an Maßnahmen, um solchen Ausbrüche schneller und effektiver begegnen zu können, unter anderem mit einem völlig neuen oralen Impfstoff. Und wir haben noch einmal die Zusammenarbeit der Immunisierungspartner neu ausgerichtet. Besonders hervorgehoben sei die Impfallianz Gavi, die als Partner seit 2019 die GPEI verstärkt, um mit flächendeckenden Impfungen in Hochrisikogebieten die Wurzel des Problems der impfabgeleiteten Viren anzupacken.     

Die GPEI hat schon immer mit Finanzproblemen kämpfen müssen. Wie hoch ist derzeit die Lücke zwischen den benötigten und den vorhandenen Mitteln? Und wie können wir sie schließen?

Rotary International und die Rotarier sind unsere wichtigsten Fürsprecher, um das eigene Netzwerk und auch die Regierungen zu motivieren, die notwendigen Mittel bereit zu stellen. Diesen Einsatz fortzusetzen ist heute vielleicht noch wichtiger als jemals vorher. Während auch bei Rotary zu Recht alle Augen auf Covid-19 gerichtet sind, dürfen wir nicht vergessen, dass solange die Kinder in Pakistan von Polio bedroht sind und wir nicht unsere Aufgabe ein für alle Mal erfüllen, alle Kinder in der Welt, egal wo sie leben, eines Tages von Polio bedroht werden können. Und wer, wenn nicht die Rotarier mit ihrer Selbstverpflichtung zu Service Above Self wären besser in der Lage, die Aufmerksamkeit der Welt darauf zu lenken und sicherzustellen, dass diese Kinder nicht vergessen werden.

Im November haben sich Rotarier mit hochrangigen Vertretern öffentlicher Institutionen sowie privater Einrichtungen aus aller Welt bei dem außergewöhnlichen „The Last Mile Forum“ in Abu Dhabi getroffen. Das Ergebnis: Die Weltgemeinschaft sichert der Polio-Kampagne Zuwendungen von 2,6 Milliarden US-Dollar zu – eine unglaubliche Demonstration internationaler Selbstverpflichtung! Der errechnete Finanzbedarf liegt jedoch bei 3,27 Milliarden US-Dollar. Es kommt jetzt darauf an, diese Lücke auch wegen der beschriebenen Verzögerungen so schnell wie möglich zu schließen. Wegen der aktuellen Unterbrechung unserer Arbeit müssen wir leider damit rechnen, dass unsere Maßnahmen etwas mehr kosten werden, als ursprünglich veranschlagt.

Erlauben Sie mir zum Schluss meinen rotarischen Freundinnen und Freunden in Deutschland und Österreich aus ganzem Herzen zu danken, aber auch zuzurufen: Bitte verdoppeln Sie Ihre Anstrengungen. Wir können ohne Sie und ihre Bereitschaft zur Verantwortung nicht erfolgreich sein. Geben Sie bitte nicht auf, gerade jetzt nicht. Erinnern Sie die Welt daran, dass wir Covid-19 niederringen müssen, aber eben auch Krankheiten wie Polio. Wir dürfen die vergessenen Kinder nicht ihrem Schicksal überlassen. Haben doch die Investitionen in PolioPlus aller Welt gezeigt, dass abgesehen vom konkreten Ziel, Polio auszurotten, sie auch außerordentlich wertvoll sind, um Covid-19 zu bekämpfen. Deshalb wird ihre Unterstützung noch dringender benötigt als jemals zuvor.

Die Fragen stellte Matthias Schütt.