Titelthema
Dabei sein ist alles
Die Welt der Videospiele, des E-Sport und der Metaversen ist zur Arena des globalen Systemwettbewerbs geworden. Wer nicht mitspielt, kann nicht gewinnen.
Viele Entscheidungsträger in unseren Unternehmen, Kultur- und Bildungseinrichtungen, aber auch in Politik und Zivilgesellschaft stehen Gaming noch immer leidenschaftslos bis skeptisch gegenüber. Man kennt die Namen einiger Videospiele, wundert sich über den Hype, aber das Interesse an der Szene bleibt gering. Das allerdings muss sich dringend ändern, denn: Gamer sind schon jetzt Kunden, Besucher, Wähler, Mitarbeiter, Spender und ehrenamtliche Helfer. Deren Erwartungshaltung an Bewerbungs-, Beteiligungs- und Lernprozesse werden massiv von ihrer Sozialisation als Gamer geprägt. Darüber hinaus gilt: Wer sich mit Gaming beschäftigt, weiß bereits zu einem frühen Zeitpunkt, wie Zukunftstechnologien wie KI oder virtuelle Realität funktionieren und angenommen werden, und kann dadurch deren Chancen und Risiken erkennen. Schließlich werden Videospiele und ihre Derivate (E-Sport, Proto-Metaversen) schon seit Jahren für den Wettkampf zwischen Demokratie und Autokratie genutzt und sind damit eine entscheidende Arena für unsere Außen- und Sicherheitspolitik.
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In diesem Sinne dürften sich im Jahre 2011 viele politische Beobachter sehr gewundert haben, als der Ministerpräsident Polens, Donald Tusk, US-Präsident Barack Obama eine Sammleredition des Videospiels The Witcher 2: Assassins of Kings überreichte. Damit betrat damals das Phänomen Gaming die Weltbühne, denn Staatsgeschenke sind eine Form der Diplomatie, bei der nichts dem Zufall überlassen wird. „Ich muss gestehen, ich bin nicht besonders gut in Videospielen“, nahm Obama bei seinem nächsten Besuch dann auch tatsächlich Bezug auf das Geschenk, „aber mir wurde gesagt, dass es ein gutes Beispiel für Polens Stellung in der neuen Weltwirtschaft sei.“ In der Tat: Das Studio, das die Witcher-Triologie entwickelt hat, CD Projekt Red, positionierte sich vor drei Jahren als wertvollstes Unternehmen des Landes an der polnischen Börse. Im Juli 2023 bewertete das Wirtschaftsmagazin Forbes CD Projekt mit 3,5 Milliarden Dollar und damit als größten Spieleentwickler Europas, noch vor dem französischen Studio Ubisoft, das mit drei Milliarden Dollar bewertet wird. Beide Gaming-Unternehmen sind allerdings auch zusammen noch weit von der Summe von 69 Milliarden Dollar entfernt, mit der Microsoft das Videospielstudio Activision Blizzard kaufen möchte. Diese Bewertungen sind auch darin begründet, dass die (außen)wirtschaftlichen Auswirkungen des Gamings inzwischen weit über ihren ursprünglichen Nukleus hinausgehen: Es entstehen Transfereffekte nicht nur innerhalb der Kreativwirtschaft, zu der Gaming selbst zählt, sondern auch in Form von überraschenden Nachbarschaften zu „analogen“ Industrien sowie durch eine gesteigerte allgemeine Digitalkompetenz in der Gesamtgesellschaft.
Games sind die „Opern unserer Zeit“
Videospiele führen als Gesamtkunstwerk Elemente aus Narration, Architektur, Theater, Musik sowie visuellen Künsten zusammen und werden berechtigterweise als „Opern unserer Zeit“ bezeichnet. Nicht nur die Fernseh- und Musikindustrie machen sich diese transmediale Nähe zunutze: Neben virtuellen Konzerten von namhaften Künstlern wie Ariana Grande oder Travis Scott – Letzterer vor über 28 Millionen Zuschauern in Fortnite, einem Videospiel, das als „Proto-Metaversum“ verstanden werden kann – sorgten Gamer auch für eine Neuerfindung des Radios: Man kann davon ausgehen, dass ganze Milieus mehr Radio innerhalb von Videospielen hören als „im echten Leben“. Die in Grand Theft Auto V während virtueller Autofahrten gespielte Musik überschritt bereits vor Jahren die Grenze von 75 Milliarden Minuten. Entscheidende Transfereffekte wirken allerdings mittlerweile auch auf die Wettbewerbsfähigkeit der wichtigsten Wirtschaftszweige unseres Landes, wie eine Auswahl an Meldungen aus den letzten Jahren verdeutlicht: Bei Porsche „helfen Game-Engines bei der Entwicklung neuer Fahrfunktionen“, BMW bringt „eine einzigartige Form des In-Car-Gamings auf die Straße“, und Mercedes-AMG kündigt ein „spezielles Gaming-Notebook“ an. Ähnliches beim Handel: „Bei Otto hat E-Sports Einzug in das Betriebssportprogramm gehalten“, und „Rewe setzt auf Twitch & Co“. Selbst Akteure der Gesundheits- und Pflegewirtschaft beziehungsweise Patienten und Pflegebedürftige profitieren: Die University of Washington lässt im Puzzle-Game Foldit die Spieler ein antivirales Protein gegen den Corona-Erreger designen, und in Hunderten Alten- und Pflegeheimen Deutschlands wird im Rahmen von therapeutischen Videospielen – „Barmer-Präventionsprojekt memoreBox wird zur Regelversorgung“ – gemeinschaftlich gespielt.
Für den produzierenden Mittelstand forderte das Manager Magazin schon 2015: „Holt die Gamer an die Maschinen!“, denn: „Der deutsche Maschinenbau hat ein Problem. Von der Funktionalität sind viele Produkte ähnlich gut. In Zukunft werden die Bedienung und die Nutzererfahrung über die Wettbewerbsfähigkeit von Werkzeugmaschinen entscheiden. Damit kennen sich Spielentwickler am besten aus. Also worauf warten wir?“ Diese Frage ist unverändert berechtigt.
Politische Rahmenbedingungen passen nicht
Auch das Bundeswirtschaftsministerium hat erfreulicherweise erkannt, dass die Gaming-Industrie eine Wachstumsbranche ist, hoch qualifizierte Arbeitskräfte mit Digitalkompetenzen ausbildet und dass im Gaming (weiter)entwickelte Zukunftstechnologien Eingang in andere Branchen finden. Doch der Branchenverband Game beklagt zutreffend, dass zwar knapp die Hälfte der Bevölkerung in Deutschland in irgendeiner Form digital spielt, der Marktanteil deutscher Games-Unternehmen aber seit Jahren sinkt – eine Folge von ungeeigneten Rahmenbedingungen in Politik und Gesellschaft, die weder zu den Chancen noch zu den Risiken passen.
Nicht nur für die Politik, sondern auch für unsere Zivilgesellschaft und Presse sind darüber hinaus außen- und sicherheitspolitische Dimensionen des Gamings herausfordernd. Wie das Auswärtige Amt kürzlich mitteilte, sind „Videospiele, das meistgenutzte und reichweitenstärkste Medium unserer Zeit, ein relevantes Phänomen für die Außenpolitik geworden“, wobei insbesondere deren Rolle „als Dimension im Wettbewerb der Narrative“ und „ihre Auswirkungen auf Technologieaußenpolitik“ betont wurden. Bedenkt man die globale Reichweite und die Fähigkeit von Videospielen für das Vermitteln von Perspektiven und (Des-)Informationen, ist diese Erkenntnis keine Überraschung, setzt sich aber leider in Deutschland nur mühsam durch.
So konnte eine Studie der University of Oxford bereits 2013 nachweisen, dass die Kommunistische Partei Chinas und die chinesische Regierung schon seit 2007 versuchen, Gaming propagandistisch zu nutzen. Prominentestes Beispiel aus der jüngeren Vergangenheit ist die sogenannte „Blitzchung“- Kontroverse: Das bereits erwähnte Unternehmen Activision Blizzard verbannte 2019 den Spieler Ng Wai Chung für ein Jahr aus seiner E-Sports-Liga und strich Chungs Preisgelder ein, nachdem er mit Gasmaske und Schutzbrille während eines Livestreams „Befreit Hongkong – die Revolution unserer Zeit!“ gerufen hatte. Faktisch ein Berufsverbot, auf das es kaum Reaktionen aus Deutschland gab. Eine ungewöhnliche parteiübergreifende Initiative des USKongresses allerdings erinnerte das Unternehmen deutlich daran, dass ein Interesse am Zugang zum chinesischen Markt und ein staatsnaher chinesischer Konzern als Mitgesellschafter (Tencent) keinesfalls die Grund- und Menschenrechte überwiegen, zu denen auch die freie Meinungsäußerung gehört.
Neben China nutzen auch weitere unserer autokratischen Systemwettbewerber wie Russland oder der Iran seit vielen Jahren das Soft-Power-Potenzial von Videospielen und ihren dazugehörigen Plattformen. So „kursieren im Netz immer wieder Szenen, die angeblich den Ukrainekrieg dokumentieren, in Wahrheit aber aus Videospielen stammen“, wie der Spiegel Ende 2022 feststellte, während die iranischen Revolutionsgarden – eine designierte Terrororganisation – kürzlich ein Smartphone-Game veröffentlichten, das es dem Spieler ermöglicht, das Leben von George Floyd zu retten, um so „dem internationalen Publikum zu verdeutlichen, dass Iraner bereitstehen, um die unterdrückte Bevölkerung der USA zu befreien“.
Mit „Dota 2“ für Cyberangriffe trainieren
Ein Bericht des britischen Verteidigungsministeriums warnte schon 2018, dass die breite Verfügbarkeit von KI-Technologien durch moderne Videospiele geeignet sein könnte, vielen Akteuren den Aufbau sogenannter offensiver Cyberkapazitäten zu ermöglichen, denen dafür bisher die Ressourcen oder der Zugang gefehlt hat. Es lohnt sich, sich diese Verbindungen zwischen Gaming und KI bewusst zu machen: OpenAI, als Entwickler des Large-Language-Modells ChatGPT bekannt geworden, hat seine KI nicht grundlos jahrelang am Videospiel Dota 2 trainiert, und mit dem US-Konzern Nvidia hat erst kürzlich ein Hardware-Unternehmen aus der Gaming-Welt dank seiner für KI-Anwendungen besonders geeigneten Grafikchips die legendäre Marke von einer Billion Dollar Unternehmensbewertung überschritten und spielt damit in der Börsen-Liga von Apple, Microsoft, Alphabet und Amazon.
Tatsächlich können sich in genau den Eigenschaften von Videospielen, die sicherheitspolitisch zu Risiken führen, auch Lösungsansätze für Herausforderungen der „dritten Säule“ unserer Außenpolitik verstecken: Mittlerweile arbeiten Kultureinrichtungen weltweit mit der Gaming-Industrie und der GamingCommunity in so verschiedenen Kontexten wie Outreach, Fundraising und Inklusion zusammen. Wer Gaming als die digitale Weiterentwicklung der Schillerschen Beobachtung begreift, dass der Mensch nur da ganz Mensch sei, wo er spiele, dem erscheinen diese Wechselwirkungen nachvollziehbar.
Hybride Ausstellungen locken neue Besucher
Für ein inspirierendes Beispiel lohnt der Blick nach London: Im Jahre 2022 eröffnete dort die renommierte Serpentine Gallery eine hybride Ausstellung in Fortnite. Hier konnten die Spieler Kunstwerke des Künstlers Kaws virtuell betrachten, die gleichzeitig auch in der „analogen Galerie“ ausgestellt waren. Hans Ulrich Obrist, einer der einflussreichsten Kuratoren der internationalen Kunstszene, verantwortete das Pilotprojekt und war mit dieser Form der Hybridisierung sehr zufrieden, denn die Besucherzahlen hätten sich vervierfacht – nicht nur bei Kaws, sondern auch bei einer parallel stattfindenden Ausstellung in einem ganz anderen Gebäude. Er prognostizierte, es werde zukünftig kein Entweder-oder mehr geben, sondern nur ein Sowohl-als-auch. „Uns geht es darum, Welten zusammenzubringen: dass zum Beispiel Besuchende aus der Game-Welt ins physische Museum kommen und sich mit dem Kunstpublikum mischen“, begründete er das Experiment. Eine weitere inspirierende Entwicklung nahmen übrigens auch die SOS Kinderdörfer: Die NGO hatte noch 2009 jede Form der Unterstützung aus der Gaming-Community abgelehnt, gehört aber mittlerweile dank ihres E-Sport-Turniers „Cup der Dörfer“ zu den Pionieren in der Nutzung des philanthropischen Potenzials von Gaming.
Ob der ehemalige US-Präsident Obama je The Witcher gespielt hat, wissen wir nicht genau, aber vielleicht ist er zumindest dank der erfolgreichen Netflix-Verfilmung in die dazugehörige Welt eingetaucht – in Deutschland wurde gerade die dritte Staffel veröffentlicht. Sicher ist doch folgendes: Wer die Chancen des reichweitenstärksten Mediums und der prägendsten Kulturtechnik unserer Zeit nutzen oder aber wenigstens deren Risiken verstehen will, muss sich mit dem Phänomen des Gamings auseinandersetzen – und zwar am besten gemeinsam mit der Gaming-Community. Das könnte sogar Spaß machen!
Meilensteine der Entwicklung
1958
Das erste Videospiel war „Tennis for Two“ mit analogem Computer und Oszillograf
1968
Patent für Odyssey, eine Hardware für den Anschluss an TV-Geräte. Erstes Spiel: „Ping-Pong“
1979
Veröffentlichung von „Space-Invaders“ für die Heimkonsole Atari 2600 – damit war der Siegeszug heimischer Videospiele nicht mehr aufzuhalten
Manouchehr Shamsrizi, ReC of Silicon Valley ist Mitbegründer des gamelab.berlin an der Humboldt-Universität und beriet als erster Gaming-Experte das Auswärtige Amt. Vor Kurzem erschien seine Studie „Metaverse und Gaming“ für das ifa.de
© Körber-Stiftung