Entscheider
"Darum bin ich strikt gegen die Cannabis-Freigabe"
Ein Gespräch mit Beate Peters, Leiterin der JVA Moers-Kapellen, über den Alltag im offenen Vollzug, seine Chancen und Risiken
Mehr als 44.000 Strafgefangene und Sicherungsverwahrte sitzen in den Justizvollzugsanstalten in Deutschland ein, in Österreich sind es 5500. Es sind Menschen ohne jede Lobby, ohne jede Wahrnehmung, denn sie sind nicht Teil des öffentlichen Lebens und für die Zivilgesellschaft unsichtbar. Doch etwas mehr als 6000 Inhaftierte befinden sich in Deutschland im offenen Vollzug, was etwa 14 Prozent entspricht. Sie besuchen Familie, Freunde, kaufen ein und besitzen Konsumgüter. Ist das noch Haft?
Frau Peters, wodurch unterscheidet sich der offene vom geschlossenen Vollzug?
Der geschlossene Vollzug trifft Personen mit langen Haftstrafen, Mehrfachtäter oder jene, von denen eine erhöhte Gefahr für die öffentliche Sicherheit ausgeht. Hier stehen Sicherheitsvorkehrungen im Vordergrund, während soziale Kontakte und persönliche Freiheiten stark eingeschränkt sind. Im offenen Vollzug hingegen wird den Insassen nach umfangreicher Prüfung ein Höchstmaß an Freiheit und Eigenverantwortung eingeräumt. Diese Art des Vollzugs setzt auf Resozialisierung durch persönliche Entwicklung, soziale Kontakte und berufliche Integration.
Welche Strafgefangenen sind für den offenen Vollzug geeignet?
Das sind im Wesentlichen drei Gruppen. Zum einen diejenigen, die erstmals zu einer recht kurzen Freiheitsstrafe verurteilt worden sind und sich mit der Ladung der zuständigen Staatsanwaltschaft im offenen Vollzug zum Strafantritt stellen. Mit Blick auf die Opfer möchte ich keine Straftat herunterspielen, aber dabei geht es um vergleichsweise niedrigschwellige Straftaten. Dann haben wir als zweites einen recht hohen Prozentsatz von Inhaftierten, die eine Ersatzfreiheitsstrafe verbüßen, weil sie eine Geldstrafe nicht zahlen konnten. Da sprechen wir ebenfalls über kurze Haftzeiträume, einen Monat, drei Monate, sechs Monate. Und dann gibt es die Gefangenen, die am Ende ihrer mehrjährigen Haftzeit im geschlossenen Vollzug zu uns kommen und intensiv auf die Entlassung vorbereitet werden. Da geht es um die Vermittlung eines Arbeitsplatzes möglichst auch über die Haftzeit hinaus, die gerade für Vorbestrafte sehr schwierige Wohnungsbeschaffung und die Intensivierung des Kontakts zur Familie. Die sozialen Gefüge werden reaktiviert oder neu strukturiert.
Wie sieht der Alltag eines Inhaftierten im offenen Vollzug aus?
Der Tagesablauf der Insassen ist streng strukturiert. Der Tag beginnt um 6 Uhr. Nach dem Frühstück melden sich die Gefangenen und verlassen die Anstalt, um ihrer Arbeit nachzugehen – meist mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder dem eigenen Auto. Nach der Arbeit kehren sie am Nachmittag oder Abend zurück. Bis spätestens 21 Uhr müssen sie wieder in der Haftanstalt sein. In ihrer Freizeit können sie einkaufen, VHS-Kurse besuchen oder ihre Familien treffen. Einige Inhaftierte verbleiben auch in der JVA, um hier ihrer Arbeit zum Beispiel in der Arbeitstherapie, bei der Gartenarbeit oder in der Anstaltsküche nachzugehen.
Wenn die Gefangenen tagsüber arbeiten und einkaufen gehen und sich an Wochenenden bei ihren Familien aufhalten dürfen – ist das dann überhaupt noch ein Gefangensein?
Natürlich. Der Gefangene ist ganz eng getaktet. Wir rechnen genau aus, wie lange der Arbeitsweg dauert. Jede Auffälligkeit am Arbeitsplatz wird mit uns besprochen. Wir kontrollieren auch das Privatleben: Ist der Kontakt zur Freundin beziehungsweise Ehefrau tatsächlich gegeben? Das übt schon einen gewissen Druck auf die Gefangenen aus und gibt ihnen kein Gefühl der Freiheit. Innerhalb der Anstalt gibt es auch klare Spielregeln: keine Handynutzung, keinen Alkohol. Die Unterbringung ist alles andere als attraktiv. In der Regel sind die Häftlinge zu zweit untergebracht, und sie wissen, dass bei einem Regelverstoß immer die Verlegung in den geschlossenen Vollzug droht.
Wenn jetzt jemand nicht zurückkehrt, sondern stattdessen bei Freunden oder Familie untertaucht – was dann?
Das passiert sehr selten. Im Jahr 2023 hatten wir 16 Nicht-Rückkehrer bei 362 Plätzen und etwa 1500 Inhaftierten. Bei vielen Inhaftierten, die aus einem Ausgang nicht in die JVA Moers-Kapellen zurückkehren, steht die Entlassung unmittelbar bevor. Dann wird die Polizei eingeschaltet und eine Fahndung veranlasst. Manchmal stellen sich die Flüchtigen auch und erklären, dass es am Wochenende eine brisante Situation gegeben habe, Trennungsgeschichten oder sowas. Werden Gefangene jedoch nach einer Entweichung durch die Polizei festgenommen, werden sie in den geschlossenen Vollzug zurückverlegt und haben ihre Chance vertan.
Beschreiben Sie einmal den durchschnittlichen Insassen der JVA Moers-Kapellen. Wie ist sein Alter?
Zunächst sind in der JVA Moers-Kapellen nur erwachsene Männer inhaftiert. Die Altersspanne geht von Mitte 20 bis Mitte 70, der Durchschnitt liegt zwischen 40 und 50 Jahren. Manche sind verheiratet, andere ledig, manche haben Kinder, andere nicht. Der Ausländeranteil liegt aktuell bei 30 Prozent, wobei wir einen hohen Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund haben, die allerdings schon die deutsche Staatsbürgerschaft haben.
Aus welchen Berufen kommen die Menschen, welchen Bildungsstand haben sie?
Tja, viele kommen aus gar keinen Berufen. Viele stammen aus schwierigen sozialen Verhältnissen und haben weder eine abgeschlossene Schul- noch Berufsausbildung, manche können nicht lesen und schreiben. Und dann kommt in vielen Fällen eine Alkohol- oder Drogenabhängigkeit hinzu. Wieder andere haben angesehene Berufe ausgeübt: Schreiner, Busfahrer, Rechtsanwalt, Kunsthändler, wenn Sie sich an Helge Achenbach erinnern (betrog die Aldi-Erben mit überhöhten Aufschlägen beim Kauf von Kunstwerken – die Red.), einen unserer prominentesten Ex-Insassen.
Bildung scheint ein Schlüsselthema zu sein: Mehr Bildung gleich weniger Straftaten?
Ja, klar. Wir vermitteln in externe Bildungsangebote, zum Beispiel bei der VHS. Im geschlossenen Vollzug wird in Schulabteilungen und Berufsausbildungszentren das jeweilige Wissen vermittelt. Wir versuchen, die Gefangenen entsprechend ihres individuellen Potentials in Arbeitsstellen zu vermitteln, zurzeit ist das angesichts vieler freier Stellen auf dem Arbeitsmarkt auch in niedrigschwelligen Berufen sehr gut möglich.
Für welche Delikte sitzen sie ein und weshalb sind sie straffällig geworden?
Viele Insassen haben eine kriminelle Laufbahn durch Drogenkonsum begonnen, der oft in der frühen Jugend einsetzte. Drogensucht führt häufig zu Schulabbruch und Delikten zur Finanzierung der Sucht. Darum bin ich immer noch strikt gegen die Cannabis-Freigabe. Aufgrund eines geänderten Hirnmetabolismus auf Synapsenebene kommt es nicht selten zu dauerhaften Persönlichkeitsänderungen und die Betroffenen können irgendwann den Anschluss nicht mehr schaffen. Synthetische Drogen sind bei uns ein aktuelles Thema. Einige Inhaftierte sind sehr erfinderisch, außerhalb der Anstalt zu konsumieren. Wir können es ihnen oft nicht nachweisen, aber wenn wir Verhaltensänderungen innerhalb der JVA feststellen, ist das Grund genug zu sagen: So geht’s nicht weiter. Gerade erst hat unsere medizinische Abteilung bei einem Insassen Kokainkonsum nachgewiesen.
Wieso ist der offene Vollzug deutlich erfolgreicher bei der Resozialisierung Gefangener?
Zum einen haben wir eine ausgewählte Klientel. Wir haben es nicht mit Schwerverbrechern zu tun, die nach 30 Jahren Haft immer noch glauben, alles richtig gemacht zu haben. Die meisten unserer Insassen wollen ihre Chance nutzen. Die Gefangenen wollen und sollen ein stabilisierendes soziales Netzwerk behalten, um nicht isoliert zu werden. Sie erfahren bei uns psychologische Betreuung, es gibt Antiaggressionstraining, Partnergespräche. Wir vermitteln in den Arbeitsmarkt, wir vermitteln eine Wohnung und bieten Schuldnerberatung an. Das ist ein großes Thema. Manche wissen nicht, ob sie 3000 oder 30.000 Euro Schulden haben und haben nun dank professioneller Hilfe die Chance, einen Überblick zu bekommen und ihre Schulden zu regulieren. Wir wollen sie fit machen für die Zukunft.
Aber können Sie verstehen, dass sich manche Menschen mit dem offenen Vollzug schwertun?
Ja, denn die meisten Menschen wissen nicht, dass es beim Strafvollzug nicht um Vergeltung oder Sühne geht, sondern um eine Resozialisierung und damit wiederum den Schutz der Gesellschaft. Irgendwann ist der ehemalige Straftäter wieder unser Nachbar. Darum ist es gut, wenn wir es so machen, wie wir es machen.
Worüber sprechen die Inhaftierten, was sind ihre Themen?
Die Gefangenen belasten ganz banale Dinge: Die Ehefrau, die sich trennen will, also klassische Beziehungsthemen. Wohnung, Geld und wie kann es für mich weitergehen? Brauche ich wirklich eine Therapie oder genügt mein guter Wille?
Es gibt eine Schwellenangst beim Rein und Raus: Was ist Ihr Eindruck, haben die Menschen mehr Angst, wenn sie zu Ihnen kommen, um ihre Haft anzutreten, oder wenn sie wieder entlassen werden und für sich selbst sorgen müssen?
Ganz klar bei Antritt. Menschen, die zum ersten Mal in Haft sind, fragen sich: Was erwartet mich da, wer sind die Mitgefangenen? Das sind ja nicht nur liebenswerte Zeitgenossen. Da spielen sich manchmal auf dem Parkplatz ganz rührende Szenen ab, wenn Frauen ihre Partner bei uns abliefern. Die Angst und der Respekt sind deutlich spürbar. Jeder Neuankömmling wird auf Herz und Nieren geprüft und bei der Belegung schauen wir, wer zu wem passen könnte. Die Angst vor der Entlassung ist ganz typisch für diejenigen, die richtig lange in Haft waren, etwa der Mörder, der nach 25 Jahren entlassen werden soll. Ich habe Menschen im geschlossenen Vollzug erlebt, die sich nicht auf ihre Gefährlichkeit begutachten lassen wollten. Ohne Gutachten keine positive Prognose. Manche sind dann auch in Haft verstorben. Darum ist es ja so wichtig, dass wir den Menschen auch am Ende langer Haftstrafen rechtzeitig vor der Entlassung vermitteln, wie sie nach der Haft ohne Rückfall in die Straffälligkeit bestehen können – auch unter komplett veränderten gesellschaftlichen Bedingungen.
Verändern sich die Menschen während der Zeit bei Ihnen? Und wie zeigt sich das?
Ja, tatsächlich, denn die Haft ist im Idealfall eine cleane Zeit ohne Alkohol und Drogen. Viele machen sich in Haft zum ersten Mal bei vollem Bewusstsein Gedanken um ihre Zukunft, um sich und ihr Leben. Und viele sehen ein, dass es falsch war, was sie getan haben. Aber es gibt auch diejenigen, die bleiben wollen, wie sie sind. Die sagen: der Bankraub ist meins.
Haben Sie bedrohliche Situationen erlebt?
Es gab zwei, drei Situationen, wo ich wusste, dass dem Mann, der mir gegenübersitzt, jetzt gerade keine guten Gedanken durch den Kopf gehen. Aber ich bin nie angegriffen worden.
Und an welchen besonderen Fall erinnern Sie sich?
Da gibt’s natürlich viele menschliche Schicksale, die mir in meinem Berufsleben begegnet sind. So ist mir der Gefangene in Erinnerung, der seinen Geschäftspartner umgebracht hatte und zu lebenslanger Haft verurteilt wurde. Nach wenigen Jahren hatte er sich ehrlich dem christlichen Glauben zugewandt und war so geläutert, dass er von uns nach Ablauf der 15 Jahre in ein Kloster entlassen wurde. Die Gespräche mit diesem Mann haben mich sehr berührt.
Wie in vielen anderen Branchen gibt es auch im Strafvollzug einen Personalmangel. Wie macht er sich bemerkbar, wie wirkt er sich auf Ihre Arbeit aus?
Bei uns im offenen Vollzug und etwas abseits der Ballungszentren gibt es dieses Problem nicht, aber in Großstädten wie in Köln und Düsseldorf sieht das ganz anders aus, dort gibt es erhebliche Personalengpässe, die die Betreuung der Insassen erschweren und zu Überlastung des Personals führen. Trotz der Herausforderungen wird auf die Sicherheit sowohl der Insassen als auch des Personals geachtet.
Was bedeutet Ihnen Rotary?
Rotary ist für mich eine ungeahnt vielfältige Möglichkeit, so viele interessante Menschen, so viele Persönlichkeiten mit so unterschiedlichen beruflichen und gesellschaftlichen Ambitionen kennenzulernen. Ich werde im nächsten Jahr die Präsidentschaft in meinem Club Düsseldorf-Süd übernehmen, und mein Thema wird die Wohnungslosigkeit – gerade in einer wohlhabenden Stadt wie Düsseldorf – sein. Da schließt sich ja ein wenig der Kreis zu meiner beruflichen Aufgabe
Das Gespräch führte Björn Lange.
Beate Peters (RC Düsseldorf-Süd) leitet die JVA Moers-Kapellen seit 2022. In Nordrhein-Westphalen gibt es rund 19.000 Haftplätze in 36 Anstalten, davon über 4000 Haftplätze im offenen Vollzug. Damit gilt NRW bundesweit als Vorreiter.