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Entscheider

"Die Welt ordnet sich gerade neu"

Entscheider - "Die Welt ordnet sich gerade neu"
Als Historiker sieht Oberst Reisner jede aktuelle Situation als Folge der Geschichte. Er plädiert dafür, auf Entwicklungen möglichst früh zu reagieren. © Hubert Nowak

Der Krieg in der Ukraine ist nur ein Phänomen eines globalen Umbruchs, erklärt der österreichische Militäranalytiker Markus Reisner. Optimismus für eine baldige Entspannung versprüht er nicht. Ganz im Gegenteil.

Markus Reisner01.08.2025

Seine Analysen sind weltweit gefragt. Bei der New York Times genauso wie in Japan. In Europa sowieso. Seine fast fertige Habilitation hat er mit Beginn des Ukraine-Krieges auf Eis gelegt. Die Uni hat Verständnis. Er spricht russisch, kennt die europäische Geschichte und weiß, wie militärische Geschehnisse als politische Botschaften gelesen werden müssen. Aus heutiger Sicht, so sagt er, war es ein fataler Irrtum, dass Europa den Fall der Berliner Mauer und den Zerfall der Sowjetunion als "Ende der Geschichte", wie es Francis Fukuyama formulierte, also als Ende des Ost-West-Konflikts gesehen hat.

Hat sich Europa von der Euphorie des Friedens einlullen lassen?

Natürlich, Europa hat gedacht, der Kalte Krieg ist zu Ende, die großen Rüstungsausgaben der Vergangenheit würden so nicht mehr passieren. Mit der wirtschaftlichen Prosperität käme es zur Integration Zentral- und Osteuropas. Und man hat nicht gedacht, dass Russland je wieder eine Bedrohung darstellen würde.

Hat man Russland unterschätzt?

Ich denke, ja. Aus unterschiedlichen Gründen. Ich glaube, dass die Russen sehr wohl bereit gewesen wären, auf die Europäer zuzugehen. Europa hat dem nicht die entsprechende Tiefe beigemessen, die vielleicht notwendig gewesen wäre. Man hat sich dann faktisch auseinandergelebt und es kam zu der bekannten Eskalation.

War das nicht letztlich auch eine heilsame Offenlegung der sicherheitspolitischen Schwächen Europas?

Heilsam ist ein Wort, das ich hier nicht verwenden möchte. Man hätte sich kriegerische Ereignisse nicht nur in der Ukraine, sondern zum Beispiel auch in Georgien erspart, mit Hunderttausenden Toten, wenn wir vorausschauender gearbeitet hätten. Aber dazu hätten wir das Wissen gebraucht, das wir jetzt haben.

Und jetzt haben wir nicht nur den Krieg in der Ukraine, ganz Europa ist konfrontiert mit einem hybriden Krieg, mit einer indirekten Kriegsführung, mit Sabotage, mit dem Cyberkrieg. Sind wir machtlos dagegen?

Generell hat sich die Art und Weise, wie Kriege heute geführt werden, verändert. Es gibt nicht mehr nur das klassische Vorgehen mit Panzern und Schützengräben, sondern da geschieht sehr viel im Vorfeld, in der Grauzone des hybriden Krieges. Man sieht tatsächlich Angriffe in einem Graubereich, gerade noch unter der Schwelle dessen, was völkerrechtlich als Krieg oder Konflikt zu bezeichnen ist. Und das macht eben dieses Gemisch, das wir jetzt haben, wo man nicht genau weiß, ist es jetzt schon ein Konflikt im völkerrechtlichen Sinn oder gerade noch nicht.

Historisch gesehen erleben wir gerade eine Umwälzung in der Geschichte der Menschheit. In letzter Konsequenz auch sicherheitspolitisch. Die Welt ordnet sich gerade neu. Der sogenannte globale Norden oder die erste Welt erkennen, dass der globale Süden oder die von uns oft immer als die zweite, dritte Welt bezeichneten Regionen immer potenter auftreten und nicht mehr bereit sind, die Dinge so hinzunehmen, wie wir die Welt betrachten. Der globale Süden, also auch Schwellenländer, ich meine das nicht nur geografisch, hat uns wirtschaftlich und technologisch in manchen Bereichen sogar schon überholt. Hinzu kommt, dass diese Länder viele Rohstoffe kontrollieren. Das ergibt ein neues Auftreten und neue Allianzen. Die Ukraine ist nur ein Phänomen einer Konfrontation zwischen dem globalen Norden und dem globalen Süden. Andere Konfliktgebiete sind zum Beispiel der Pazifikraum, Taiwan, Nordafrika, aber auch zum Beispiel Mittelamerika und nicht zuletzt auch Nordamerika, was sich im Juni in den Unruhen in Los Angeles gezeigt hat.

Macht es der erwähnte Graubereich nicht auch besonders schwer, sich einzustellen auf eine mögliche Eskalation dieser Konfliktsituation?

Genau, ein Beispiel: Die Deutsche Bundesmarine hat in den letzten Monaten beinahe drei Schiffe verloren. Also, wenn auf ein Schiff Torpedos abgefeuert worden wären, würde das jeder einem kriegerischen Akt zuweisen, selbst wenn diese das Schiff verfehlt hätten. Aber: Bei einem Schiff, einer Fregatte, hat man kurz vor dem Auslaufen durch Zufall entdeckt, dass damals Unbekannte versucht haben, Altöl in die Trinkwasseranlage des Schiffes einzuleiten. Hätte das funktioniert, wäre das Schiff nachhaltig ausgefallen, man hätte es komplett neu instandsetzen müssen. Das zweite war eine Korvette, bei der hat man kurz vorm Auslaufen entdeckt, dass unbekannte Täter, damals unbekannt, eine Kiste voller Schraubenmuttern und Metallschrott in den Propellerschaft geleert haben. Das heißt, hätte der Kapitän den Knopf gedrückt, wäre der komplette Antriebsstrang des Schiffes kaputt gewesen. Das Schiff wäre für Jahre ausgefallen. Und beim dritten Schiff war es noch offensichtlicher. Da haben unbekannte Täter mit einer Axt die Kabelbäume des Schiffes durchtrennt. Da stellt sich die Frage: Sind das schon eindeutige Akte einer kriegerischen Handlung?

Dazu muss man auch fragen: Wer ist der Verursacher? Wenn wir feststellen, der Verursacher ist eindeutig einem Staat zuzuordnen, dann haben wir eine Situation, wo eigentlich ein Staat versucht hat, dem anderen, in diesem Fall der Bundesrepublik Deutschland, zu schaden. Wenn das als Angriff gewertet wird, müssten wir uns den Artikel 5 der Nato (Anm.: Beistandsverpflichtung im Kriegsfall) ansehen. Und jetzt stellt sich natürlich die Frage, wollen wir das?

Das heißt, man muss in dieser Situation relativ viel schlucken, um den Konflikt nicht weiter eskalieren zu lassen?

Wenn der Chef des Deutschen Bundesnachrichtendienstes in den letzten Monaten wiederholt öffentlich gesagt hat, es gab hier konkrete Angriffe, nachweisbare Sabotage, wo etwa versucht wurde, sprengstoffbeladene Pakete an Bord von Flugzeugen zu schmuggeln, und man könne nachweisen, dass das klar aus Russland kommt, dann ist das schon sehr bezeichnend. Oder vor kurzem die Aussage von ihm, dass es klar Indizien gibt, dass Russland versucht, den Artikel 5 der Nato abzutesten, dann sehen wir diese Verschärfung der Situation. Wir befinden uns quasi in einer Art Fegefeuer, also in der Vorstufe zur Hölle, in der Vorstufe des Krieges, in diesem hybriden Krieg, wo wir über den Informationsraum alle Teile davon sind.

Jetzt sollte man da natürlich extrem wachsam sein. Trotzdem ist die Verteidigungsbereitschaft in vielen europäischen Ländern sehr gering, in Österreich ganz besonders, wie man aus Meinungsumfragen weiß. Sind wir Opfer dieses Traums vom Ende der Geschichte geworden oder ist es schon ein konkretes Ziel von Russland, die Wehrfähigkeit zu untergraben?

Das müssen wir uns im Detail ansehen. Niemand rennt mit Hurra in einen Krieg.

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Steht Rede und Antwort: Oberst Dr. Markus Reisner

Im Ersten Weltkrieg war's so.

Ja, aber alles ist das Ergebnis einer gesellschaftlichen Entwicklung. Nach dem Kalten Krieg mit der Angst vor Atomwaffen und dann dem Zerfall der Sowjetunion ist eine absolute Euphorie ausgebrochen. Das muss man verstehen aus dieser Zeit. Man hat versucht, das Militär neu aufzustellen, nicht zur eigenen Verteidigung, sondern als Institution, um vor allem in Krisenregionen Frieden zu schaffen.

Als Friedenspolizei.

Genau, oft um aus europäischer Sicht hinter den Amerikanern nachzuräumen. Und jetzt erleben wir, dass Länder wie Russland, aber auch andere, China zum Beispiel, sehr wohl wieder das Militär als Mittel der Macht einsetzen, und zwar in einer Qualität, die uns völlig fremd geworden ist. Das ist ein absoluter Schock. Und natürlich nutzt Russland das ganz bewusst aus, mit Desinformation und so weiter. Aber man darf jetzt nicht lamentieren, dass die Bevölkerung nicht sofort wieder den Wunsch nach Aufrüstung hat.

Braucht das wirklich nur Zeit oder doch auch mehr?

Es braucht Bewusstsein. Es geht darum, wieder abschreckungsfähig zu sein. Niemand will in den Krieg. Auch das Militär will nicht in den Krieg, weil es einfach schrecklich ist. Wir sehen aus Umfragen, dass die Bereitschaft, sein Land mit der Waffe zu verteidigen, gering ist. 2015 waren das in Österreich 21 Prozent, in Deutschland 18 Prozent. Wenn man mit den Rekruten redet, dann sagen viele: "Ich wär schon bereit, bis zum Äußersten zu gehen, aber nicht mit diesem Bundesheer. Weil ich habe ja keine reale Chance, zu überleben in dem Zustand." Das heißt, die Bereitschaft hat auch mit der Ausstattung eines Heeres zu tun. Dabei geht es aber schon um die zivile, also die wirtschaftliche und geistige Landesverteidigung und erst in der Extremausprägung um die militärische.

Experten sagen, es würde etwa zehn Jahre dauern, um Europa zu einer wirksamen Verteidigungsfähigkeit nachzurüsten. Hinter vorgehaltener Hand hört man aber, dass es auch viel schneller ginge. Wie schnell kann es denn gehen?

Es kann nur so schnell gehen, wie Bevölkerung und Politik bereit sind, das umzusetzen. Und da sieht man, dass die Ernsthaftigkeit in manchen Bereichen noch nicht wirklich vorhanden ist. Es geht hier um Abschreckungsfähigkeit. Es geht also nicht um Aufrüsten oder Nachrüsten zum Zwecke einer Aggressionsausübung. Es geht hier darum, einem potenziellen Gegner zu signalisieren: Greif uns lieber nicht an, denn wir können uns wehren. Und da ist die Situation prekär. Vor zwei Jahren konnte man in der Financial Times lesen, dass die Nato in der Lage ist, gerade einmal fünf Prozent ihres Luftraums zu schützen

Das lesen aber die Russen auch.

Klar, und seit diesem Zeitpunkt hat sich nicht wirklich etwas verändert, außer dass wir weiter militärisches Gerät, Fliegerabwehrsysteme, in die Ukraine abgegeben haben, aber das für uns nicht ersetzt haben. Aber es gibt bereits Beschaffungsprogramme, es gibt immerhin Ideen, was zu tun ist.

Sind zehn Jahre ein realistischer Zeitraum? Oder was müsste passieren, um es zu beschleunigen?

In Anbetracht der derzeitigen Leistungsfähigkeit der Rüstungsindustrie in Europa und der Situation, dass der wichtigste Verbündete Europas, die USA, sich langsam abwenden, ist das ein realistischer Zeitraum. Das Dilemma besteht darin, dass das Gegenüber, wenn es uns wirklich angreifen möchte, das natürlich auch weiß. Und wenn da ein Angriff geplant ist, dann würde ich es jetzt tun und nicht erst in zehn Jahren.

Aber Russland ist derzeit mit der Ukraine heftig beschäftigt. Zugleich werden Panzer erzeugt, die gar nicht in die Ukraine kommen. Hat Putin noch etwas ganz Anderes vor?

Ich zitiere den russischen Vizeaußenminister, Sergei Rjabkow, der gesagt hat, der Krieg wird erst dann zu Ende sein, wenn sich die Nato aus dem Baltikum zurückgezogen hat. Das ist schon eine ziemlich starke Aussage.

Ist das also das wahre Ziel Russlands?

Ich glaube, das wahre Ziel Russlands ist es, eine neue Weltordnung mitzugestalten und Europa so zu verändern, dass es – aus russischer Sicht – keine tatsächliche Bedrohung für Russland mehr darstellt. Die Ukraine ist dafür nur ein Zwischenschritt. Unabhängig davon, ob die Russen aus unserer Beurteilung im Moment dazu in der Lage sind oder nicht. Man sieht ja am Beispiel der Ukraine, dass die Russen bereit sind, für die Ukraine bis zum Äußersten zu gehen. Wir sind das nicht. Viele meinen, die Russen müssen auch irgendwann in die Knie gehen. Das mag schon sein. Vielleicht ist es auch so, dass bereits nächsten Monat genau dieser schwarze Schwan in Erscheinung tritt. Zurzeit sieht man das nicht. Wir sind jetzt im vierten Kriegsjahr. Die Russen greifen unvermindert weiter an. Wir sehen keine Unruhen in Russland. Im Gegensatz zu den USA, was etwa in Los Angeles passiert ist. Wäre das in Russland, würden wir sagen, das sind jetzt die ersten Auflösungserscheinungen des Regimes. Es mag schon da und dort Haarrisse gehen, aber der Bruch ist noch nicht da.

Aber die Ukraine beschäftigt die Russen natürlich massiv. Ist das ein Zeitgewinn für Europa?

Es wäre ein Zeitgewinn. Würde die Ukraine diesen Krieg alleine führen, hätten die Russen wahrscheinlich schon lange gewonnen. Nach ihrem Anfangserfolg hat die Ukraine eine breite Unterstützung bekommen, die es bis heute möglich macht, dass die Ukrainer diesen Kampf führen können. Aber das Tragische daran ist, die Ukraine wurde bis jetzt immer nur so ausgestattet, dass sie weiterkämpfen kann, aber sie hat nie das bekommen, dass sie wirklich siegen könnte.

Warum eigentlich?

Einerseits, weil im Hintergrund sehr wohl die nukleare Bewaffnung Russlands ein Thema ist und andererseits – das weiß man auch ganz klar aus den USA – weil man natürlich nicht möchte, dass Russland kollabiert und plötzlich eine Krisenregion entsteht von Moskau bis nach Kamtschatka. Dann würde sich nämlich die Frage stellen, wer dann all diese tausenden Atomwaffen kontrolliert. Das ist das Paradoxe an der Situation.

Stichwort USA. Die Luftabwehr in Europa ist völlig abhängig von den USA. Kann Europa je eine Autarkie im Verteidigungsbereich erreichen?

Wenn es das möchte, natürlich! Europa hat die technologischen und die ökonomischen Möglichkeiten. Wir haben die Kraft der Bevölkerungen. Man muss es nur wollen. Es braucht eine gemeinsame Anstrengung, um abschreckend zu wirken, nicht nur zum Schutz des Luftraums, damit man uns mit weiteren Waffensystemen nicht quasi enthaupten könnte. Wir brauchen den Schutz des Cyberraums und so weiter und so fort. Aber das größte Problem unserer Zeit ist, dass die Bevölkerung zunehmend den Glauben in ihre Institutionen verliert und die Politik die Deutungshoheit verliert.

Und das spielt auch den Russen in die Hände. Wenn man jetzt sieht, wie Trump sich Putin beinahe anbiedert, wie er versucht, China auf Distanz zu halten, wie jetzt Kräfte im Nahen Osten gebunden sind, muss Europa damit rechnen, dass es mit Russland alleine fertig werden muss?

Europa wird sich damit auseinandersetzen müssen, dass Russland eine europäische Herausforderung bleiben wird.

Auf lange Zeit?

Ja, es wird darum gehen, abzustecken, wo der jeweilige Einflussbereich des anderen endet oder beginnt.

Stichwort Baltikum…

Genau, da sieht man ja, wie die Russen es formulieren.

Werden Verhandlungen über die Ukraine die Situation verändern?

Ich habe schon lange gesagt, wir werden Scheinverhandlungen sehen. Genau so ist es jetzt. Es ist wie ein Pokerspiel. Von vier Teilnehmern – die Amerikaner, die Russen, die Ukrainer und die Europäer – sind zwei nicht mehr am Tisch, die Ukrainer und die Europäer. Die Europäer können kaum mehr mitbestimmen, auch aufgrund der fehlenden wirklichen militärischen Fähigkeiten. Und die Ukrainer sind faktisch wie ein Patient nach einem schweren Autounfall, der ums Überleben kämpft. Die zwei, die noch am Tisch sitzen, sind die Amerikaner und die Russen. Und wie man ja weiß, beim Pokerspielen geht es darum, dem anderen nicht zu zeigen, welches Kartenblatt man hat.

Das werden wir erst im Nachhinein erfahren.

Nachher sind wir gescheit, weil wir alle historische Eintagsfliegen sind und gar nicht ermessen können, welche Entwicklungen wir da gerade sehen. In Europa haben wir nachhaltig abgerüstet und sind jetzt konfrontiert mit der Situation in der Ukraine. Wir versuchen, der Ukraine zu helfen, aber die Streitkräfte der Russischen Föderation sind trotz all dieser Unterstützungsmaßnahmen der Europäer und der Amerikaner für die Ukraine immer noch in der Lage, vorzumarschieren. Das sollte uns wirklich Kopfzerbrechen bereiten. Denn auch Russland kämpft nicht alleine, mit Nordkorea, dem Iran, China. Wie gesagt, es geht um das Thema der globale Süden gegen den globalen Norden. Nordkorea ist Kriegspartei, völkerrechtlich eindeutig. Soldaten kämpfen Schulter an Schulter mit russischen Soldaten. Die Nordkoreaner liefern im großen Stil Waffen und beteiligen sich an der Planung der Operation. Also völkerrechtlich abgehakt. Wir ignorieren das ein bisschen.

Dreht sich der Westen weg, um es nicht zu eskalieren?

Irgendwie schon. Die Inder kaufen im großen Stil Erdöl und Gas und sonstiges und verkaufen es uns weiter. Der indische Außenminister hat einmal in einem ZiB-2-Interview gesagt: "Ihre Probleme in Europa sind nicht unsere Probleme. Hören Sie auf, Ihre Probleme zu unseren zu machen. Und wenn wir jetzt da billig Rohstoffe kaufen, die wir uns vorher nicht leisten konnten, dann ist es noch gut und gerecht. Und wenn wir diese Rohstoffe um den zweifachen Preis an euch verkaufen, dann ist es umso besser, weil jetzt sind wir einmal dran." Das ist die Situation.

Viele sagen ja, nicht nur in Österreich, aber besonders in Österreich, man hat das Militär kaputtgespart. Kann man das jetzt noch reparieren?

Natürlich kann man das reparieren, wenn es die Mittel dazu gibt. Die kriegerischen Ereignisse in den letzten Jahren haben aus meiner Sicht zu einem Umdenken geführt und das Bundesheer wird jetzt mit finanziellen Mitteln ausgestattet, die es früher nicht zur Verfügung hatte.

Ist das ausreichend?

Die Frage ist natürlich, ob wir mit diesen Mitteln die Ziele erreichen können, die wir uns vorgenommen haben. Also zum Beispiel beim Schutz des Luftraums. Da geht es ja nicht darum, dass jetzt Russland gezielt mit Raketen Wien angreift, sondern es geht darum, dass Russland möglicherweise bei einem Angriff auf Europa nicht berücksichtigt, dass wir in der Mitte Europas liegen und wir dann plötzlich zum Kollateralschaden werden.

Es gab ja schon so ein Ereignis. Als eine ukrainische Drohne, eine TU 141, falsch abgebogen ist, durch den Luftraum von zwei Nato-Staaten geflogen ist und dann in Kroatien, also in einem weiteren Nato-Staat, im Stadtpark von Zagreb eingeschlagen ist. Die Drohne haben wir nicht heruntergeholt vom Himmel, weil man es nicht konnte. Wenn so eine Drohne um ein paar Grad Richtung Norden fliegt, dann liegt die in Klagenfurt oder in Graz im Stadtpark. Und wenn dann jemand fragen würde: "Warum haben wir das nicht verhindert?", dann ist es zu spät.

Jedenfalls aber versucht das Bundesheer wirklich eine Gewaltanstrengung mit den finanziellen Mitteln, die man uns jetzt gegeben hat. Da muss ich eine Lanze brechen für die Ministerin. Aber ein anderes Problem ist, dass uns die jungen Leute ausgehen, weil jeder sucht dieselben Leute. Die Wirtschaft, der Gesundheitssektor und alle brauchen Personal, das wir auch brauchen. Das ist eine große Herausforderung.

Wirkt in Österreich beim Thema Verteidigungsbereitschaft die Neutralität vielleicht noch zusätzlich dämpfend?

Ja, aber wir können nicht sagen, das geht uns ja alles überhaupt nichts an und wir haben damit überhaupt nichts zu tun, lasst uns bitte in Ruhe. Wir sind als Mitglied der Europäischen Union gefordert und verpflichtet, gemeinsame Maßnahmen der Europäischen Union solidarisch zu unterstützen, auch sicherheitspolitisch. Das steht auch in der österreichischen Sicherheitsstrategie. Das mag jetzt dem einen oder anderen nicht passen, aber so ist es.

Man wirft uns ja schon lange vor, sicherheitspolitisch Trittbrettfahrer zu sein in Europa.

Die Neutralität hat uns nicht gehindert, der Uno beizutreten, hat uns nicht gehindert, der EU beizutreten, wo der Artikel 42 der EU-Verteidigung viel härter formuliert ist als der Artikel fünf der Nato. Sie hat uns auch nicht gehindert, der Partnerschaft für den Frieden beizutreten und andere Dinge zu tun.

Wir ducken uns in der Neutralität. Wir sehen in Umfragen, dass nur rund 20 Prozent bereit wären zu helfen, wenn ein anderes europäisches Land angegriffen wird, aber 70 Prozent erwarten, dass im Fall des Falles Österreich geholfen wird. Das wird sich nicht ausgehen.

Sollte Österreich die Neutralität aufgeben und der Nato beitreten?

Nein, ich plädiere dafür, mit offenen Augen die sicherheitspolitischen Entwicklungen zu betrachten und abgestimmt darauf die entsprechenden Entscheidungen zu treffen zum Wohle der Bevölkerung.

Und das geht auch innerhalb der Neutralität?

Wenn als Ergebnis dieses Prozesses am Ende und einer zunehmenden Betroffenheit der Österreicher steht, dass wir uns neue Wege überlegen müssen, dann muss man das tun. Man kann nicht einfach den Kopf in den Sand stecken, denn niemand weiß, was in fünf oder zehn Jahren sein wird.

Der Staatsvertrag, in dessen Folge die Neutralität beschlossen wurde, als Bedingung für die Zustimmung der Sowjets, ist jetzt genau 70 Jahre alt. Wie ist die sicherheitspolitische Relevanz des Staatsvertrages heute?

Er ist natürlich identitätsstiftend und war das Ergebnis eines historischen Prozesses. Aber die sicherheitspolitische Lage verändert sich und die Frage ist, ob unsere Antwort darauf immer noch die richtige ist. Man muss darauf hinweisen, dass sich die Situation verschärfen kann. Da müssen wir bereit sein, möglicherweise auch andere Entscheidungen zu treffen. Wir sitzen jetzt bei Kaffee und Kuchen und es geht uns allen gut. Wenn wir alle nur mehr Brot und Wasser haben, ist das anders, aber dann kann es zu spät sein.

Also braucht Verteidigungsbereitschaft erst einen gewissen Leidensdruck?

Das ist das Problem. Das bringt mich als Historiker zum Verzweifeln, weil die Leute nicht einsehen, dass man jetzt etwas tun müsste, damit es gar nicht zu einem Leidensdruck kommt.

Das Gespräch führte Hubert Nowak.

Markus Reisner

Oberst Dr. Markus Reisner, (PhD, RC Wien-Am Hof), geb. 1978, studierte Geschichte und Rechtswissenschaften, Oberst des Generalstabs und seit 2024 Leiter der Offiziersausbildung im österreichischen Bundesheer, Verfasser mehrerer Bücher über den Zweiten Weltkrieg und zum Thema "Robotic Wars" (2018)

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