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Rotary Aktuell

Das „Bezugsgewebe“ für rotarischen Zusammenhalt

Rotary Aktuell - Das „Bezugsgewebe“ für rotarischen Zusammenhalt
Analoge Präsenz macht Freu(n)de: Birte Lindlahr und Nicola Byok (beide RC Hamburg-Hanse) beim Mistelverkauf © Florian Läufer

Analoge Treffen der Mitglieder seien für das Clubleben unerlässlich, heißt es immer wieder – und kann aus neurowissenschaftlicher Sicht nur bestätigt werden.

01.01.2022

Unter der Maxime des „Service Above Self“ sind Rotarier aufgefordert, freundschaftliche Beziehungen zu entwickeln, um sich anderen als nützlich zu erweisen. Für die Entwicklung rotarischer Freundschaft ist eine Präsenzpflicht eingeführt worden, die ursprünglich eine persönliche Anwesenheit eines Rotariers in seinem eigenen beziehungsweise bis zu einem definierten Umfang in einem fremden Club eingefordert hat. Die persönliche Anwesenheit, die „analoge Präsenz“, galt bislang immer als unabdingbare Voraussetzung für den Zusammenhalt in einem Club.

Infolge der Coronapandemie sind digitale Meetings fast zur Gewohnheit geworden. Sie haben Präsenzmeetings in sehr vielen Bereichen unseres Lebens ersetzt, und irgendwie scheint es auch ohne „Präsenz“ zu funktionieren – ja, aber nur irgendwie! Auch Rotary war angesichts des Verbots von Zusammenkünften größerer Gruppen gezwungen, die wöchentlichen Meetings auf digitale Treffen umzustellen, seither zählt die Teilnahme an virtuellen Meetings nicht nur für E-Club-Mitglieder als „Präsenz-Teilnahme“. Aber findet sich in einer digitalen Zusammenkunft wirklich „Präsenz“? Und gibt es essenzielle Unterschiede zwischen analogen Meetings und digitalen Meetings?

Gumbrechtsche Präsenztheorie

Eine Antwort auf diese Fragen gibt uns der Stanford-Professor Hans Ulrich Gumbrecht, Begründer der weltweit verbreiteten und interdisziplinär prägenden „Präsenztheorie“, der mit dem Gründungswerk der Präsenztheorie Diesseits der Hermeneutik – Die Produktion von Präsenz aus dem Jahre 2004 das auflagenstärkste Buch der Stanford University Press seit ihrer Gründung im Jahre 1891 geschrieben hat: Hans Ulrich Gumbrecht entwickelt seine Präsenztheorie auf dem Boden einer systematischen historisch-geisteswissenschaftlichen Analyse der Entwicklung unseres abendländischen Denkens. Aus dieser historischen Entwicklung heraus schließt er, dass wir uns – insbesondere forciert durch Kartesianismus und Hermeneutik – in ein relatives Übermaß an hermeneutischem menschlichem Selbstbezug entwickelt haben, also zu einem Übermaß an Nachdenken, Analysieren und Deuten neigen und dabei die Bedeutung von Präsenzerleben vernachlässigt und marginalisiert haben.

Präsenzerleben meint bei Gumbrecht das Erleben der Welt und das Erleben des Selbst (menschlicher Selbstbezug) durch den Körper, durch Resonanz und durch Emergenz, ohne nachzudenken und zu analysieren. Extrembeispiele von „überwiegendem“ Präsenzerleben sind für Gumbrecht Verliebtheit, der Flow im Sport, das Miteinander in der Südkurve beim BVB (Gumbrecht 2020) oder auch das Miteinander von jungen Menschen während einer Rave-Party. Laut Gumbrecht müssen wir uns historisch zwangsläufig hin zu einem gesünderen Oszillieren zwischen „Sinnkultur“ und „Präsenzkultur“ entwickeln, also einem Oszillieren zwischen rationalem Nachdenken und Analysieren einerseits und unmittelbarem körperlichen Erleben in Resonanz zur Umwelt andererseits.

Im psychiatrisch-psychotherapeutischen Kontext hilft die Gumbrechtsche Präsenztheorie mittlerweile bei der Behandlung von Patienten, die an einer „Hypertrophen Hermeneutik“ leiden, also zum Beispiel depressive Patienten, die beständig grübeln, zweifeln und nachdenken und gleichzeitig den Kontakt zu ihrem Körper, zu Emotionen und Bindungen verloren haben (Präsenzdefizit). Hier hat sich aus der Präsenztheorie heraus eine „präsenzbasierte Behandlung“ entwickelt, die das Präsenzerleben der Betroffenen fördert und zu einem gesünderen Oszillieren zwischen „Sinnkultur“ und „Präsenzkultur“ verhelfen soll.

Hannah Arendt und die beiden „Zwischen“

Die Gumbrechtschen Aspekte von Sinnkultur und Präsenzkultur werden in besonderer Art und Weise auch bei der politischen Theoretikerin Hannah Arendt reflektiert und spannen hier den Bogen hin zur Frage analoger versus digitaler Begegnungen zwischen Menschen. Arendt unterscheidet zwei Arten von „Zwischen“ im Miteinander von Menschen. Das erste Zwischen ist ein Miteinander in der gemeinsamen Reflexion über ein Objekt, also das Nachdenken über etwas (Sinnkultur bei Gumbrecht). Diese Form des Zwischen benötigt keine räumliche Präsenz, sondern funktioniert auch digital.

Das zweite Zwischen meint jenes Zwischen im Miteinander, das auf die unmittelbare körperliche Präsenz im gemeinsamen Raum angewiesen ist, was Arendt als „das Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten und die in ihm dargestellten Geschichten“ bezeichnet. Hier formuliert Hannah Arendt die große Bedeutung des zweiten Zwischen für unser Miteinander sehr treffend, da in der räumlichen Unmittelbarkeit die unabdingbare Basis für jegliches menschliches Miteinander dargelegt ist. Dieses basale zweite Zwischen ist nicht in einem digitalen Miteinander möglich, es ist durch dieses geradezu zwingend ausgeschlossen. Gumbrecht nennt das digitale Miteinander daher auch das „ausgehöhlte Zwischen“. Das analoge Miteinander, also die „Präsenz“ im eigentlichen Sinne, ermöglicht „Berührungen“ sowohl körperlicher als auch emotionaler Art, die durch digitale Begegnungen ausgeschlossen sind.

Erfreulicherweise wurde dieses Jahr der Medizin-Nobelpreis genau zu diesem Thema, nämlich zur Erforschung von Temperatur- und Druckrezeptoren auf der menschlichen Haut, vergeben. Keine Beachtung fanden leider die bahnbrechenden Forschungsarbeiten des schwedischen Forschers Håkan Olausson, der das System der C-Fasern entdeckte und entschlüsselte, also jener Sinnesrezeptoren, die gehäuft auf dem Rücken und gar nicht auf der Handinnenfläche und den Genitalien vorkommen und die bei sanfter Berührung im Gehirn ein Wohlbefinden, ein Näheempfinden und eine Schmerzreduktion vermitteln. Insgesamt haben vertrauensbasierte körperliche Berührungen vermittels unterschiedlichster physiologischer Systeme sogenannte Midas-Effekte: Menschen, die körperlich sanft berührt werden, verhalten sich großzügiger; beide Menschen, der Berührende wie der Berührte, fühlen sich wohler.

Die Idee einer Mindestpräsenz im rotarischen Clubleben zwecks der Förderung und des Erhalts von Freundschaft ist aus neurowissenschaftlicher Sicht goldrichtig, ist allerdings zwingend auf die „echte“ Präsenz im Sinne von Gumbrecht und Arendt angewiesen. Digitale Meetings können demgemäß nur eine coronabedingte Übergangslösung darstellen.

Karsten Wolf


Zur Person

PD Dr. Karsten Wolf (RC Gummersbach-Oberberg) ist Medizinischer Vorstand bei Bühler Health Care, Ärztlicher Direktor der Libermenta Kliniken, Private Akutkliniken für Psychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik und Sportpsychiatrie.