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Das Ende der CDU?

Titelthema - Das Ende der CDU?
Das Amt der Bundeskanzlerin ist eine Ehre. "Ich habe mal gesagt: Ich wurde nicht als Kanzlerin geboren. Und das habe ich nicht vergessen!" Angela Merkel am 29. Oktober 2018, dem Tag der Ankündigung ihres Rückzugs aus der Politik © Hans Christian Plambeck/Laif

Es wird deutlich, dass die CDU kein Programm und schon gar kein genuines Alleinstellungsmerkmal hat. Was bedeutet das für den Bundestagswahlkampf?

Jan-Werner Müller01.05.2021

Seit Jahren heißt es allenthalben, die Sozialdemokratie stecke in einer tiefen Krise. Relativ unbeachtet bleibt der Niedergang von Mitte-rechts-Parteien, insbesondere der Christdemokratie. In Deutschland glaubt wohl niemand, die Kanzlerschaft der CDU/CSU sei „gottgegeben“ (um Armin Laschets Formulierung aufzugreifen); aber es erscheint immer noch ganz natürlich, dass es eine große, in der ein oder anderen Weise staatstragende christdemokratische Partei gibt. Das dachte man in Italien auch lange. Und plötzlich, Anfang der 90er Jahre, war’s vorbei, nachdem die Democrazia Cristiana (DC) seit 1945 kontinuierlich in jeder Regierung vertreten gewesen war. Das wird hierzulande nicht so leicht passieren. Aber Mitte-rechts-Parteien sind mit einer Reihe struktureller Herausforderungen konfrontiert; Angela Merkels ganz eigener Regierungsstil und der relative wirtschaftliche Erfolg haben es deutschen Christdemokraten jedoch lang erlaubt, ihnen auszuweichen. Damit ist es vorbei.

Pluralistische Vermittlung

Der große Soziologe Ralf Dahrendorf nannte das vergangene Jahrhundert das „Jahrhundert der Sozialdemokratie“. Das ist plausibel, aber die eigentliche Erfolgsstory der Nachkriegszeit sind die christdemokratischen Parteien. Diese waren nicht – anders als es die Rede von den 50er Jahren als einer restaurativ-muffigen Epoche nahelegt – einfach eine Wiedervorlage von politischen Ideen und Vereinigungen aus der Zwischenkriegszeit. Die CDU/CSU wollte nicht eine neue Version des katholischen Zentrums sein, vielmehr bemühte man sich, als Sammlungsbewegung Protestanten und Katholiken zu vereinen, ebenso wie Arbeiter und Unternehmer. In Italien war die DC keine Kopie der katholischen Popolari (die auf Druck des Vatikans mit Mussolini gemeinsame Sache gemacht hatten), vielmehr wollte man zur Kirche durchaus Distanz halten und sich uneingeschränkt zur Demokratie als einzig legitimer Regierungsform bekennen. Ähnliche Entwicklungen gab es in den Benelux-Staaten und in Frankreich.

Es war auch kein Zufall, dass Christdemokraten zu den wichtigsten Architekten der Europäischen Gemeinschaft wurden. Manche von ihnen hatten noch sehr ungute Erinnerungen an die Kulturkämpfe des 19. Jahrhunderts. Damals hatten Bismarck, die französische Dritte Republik und das von Liberalen vereinigte Italien systematisch katholische Bürger als potenzielle Vaterlandsverräter angegriffen; der Verdacht lautete, die Katholiken würden ihre Treue zum Vatikan über die zum Nationalstaat stellen. Eben weil der Nationalstaat für die Christdemokraten keinen Wert an sich hatte, fiel es ihnen dann Mitte des 20. Jahrhunderts leichter, Befugnisse an Brüssel abzugeben.

Das Gesellschaftsverständnis der Christdemokarten war dezidiert pluralistisch. Seine Ursprünge hatte es in der katholischen Soziallehre, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts dem klassenkämpferischen Sozialismus eine Vorstellung des harmonischen Zusammenwirkens von Arbeitern und den Besitzern der Produktionsmittel entgegenhielt. Eine zentrale Regierungstechnik der Christdemokraten sollte denn auch in Vermittlung bestehen: Konflikte mussten immer irgendwie entschärft, Gegensätze versöhnt werden. Gleichzeitig aber galt es,

Unterschiede zu erhalten: Angefangen mit der traditionellen Rollenverteilung in der patriarchalischen Familie bis hin zur Europäischen Gemeinschaft, in der die Nationen Kompromisse schließen, aber keineswegs verschwinden sollten (denn ein europäischer Einheitsstaat hätte das Problem einer potenziell antipluralistischen Machtkonzentration nur auf supranationaler Ebene reproduziert).

Es ist nicht falsch, hier von Macht- und nicht primär Programmparteien zu sprechen – aber man muss immer dazusagen, dass die ideologische Flexibilität, die viel zum Machterhalt beitrug, mit der Idee pluralistischer Vermittlung gerechtfertigt werden konnte und nicht immer einfach Opportunismus war. Gleichzeitig hielt ein gemeinsamer Feind die breite Bewegung zusammen: Christdemokratische waren nach 1945 antikommunistische Parteien par excellence. Gleichzeitig wurde das berühmte „C“ im Namen mit der Zeit immer schwerer erklärbar. Man musste nicht mehr Christ sein, sondern nur noch – wie es jüngst in CDU/CSU-Programmen hieß – „den Menschen in den Mittelpunkt stellen“. Aber wer tut das nicht?

Strukturelle Herausforderungen

Wie so oft im Leben sind Sieg und Niederlage nicht immer das, als was sie auf den ersten Blick scheinen. Nach dem Ende des Kalten Kriegs prophezeiten manche, die Christdemokraten würden nun auch Osteuropa erobern und in Westeuropa weiterhin dominant bleiben. Tatsächlich war es so, dass ihnen vielerorts ihre Parteiraison abhandenkam. In Italien hatte ihr Zweck letztlich darin bestanden, die Kommunisten von der Macht fernzuhalten. Als deren Partei implodierte, war es auch mit der DC vorbei. In Deutschland wird sogar heute noch der Refrain der „Rote Socken“-Kampagnen wieder gesungen – aber solche Rhetorik scheint seltsam aus der Zeit gefallen. Und in Mittel- und Osteuropa gibt es zwar erfolgreiche christdemokratische Parteien – Polens Platforma ist ein Paradebeispiel –, aber keine verficht die Vision europäischer Einigung mit der Leidenschaft und Risikobereitschaft beispielsweise eines Helmut Kohl. Deutsche Christdemokraten tun es eigentlich auch nicht mehr. Man denke nur daran, wie Merkel jahrelang alle ambitionierten Europapläne eines Emmanuel Macron höflich ignorierte.

Bekanntlich ist zudem ein gefährlicher Konkurrent aufgetaucht: der Rechtspopulismus. Dieser ist stramm nationalistisch; gleichzeitig ist er aber flexibel, wenn’s um Wirtschafts- und Sozialpolitik geht (Jean-Marie Le Pen und Jörg Haider stellten in den 80er Jahren dezidiert neoliberale Forderungen). Gleichzeitig ist der Rechtspopulismus antipluralistisch: Seine Vertreter behaupten, nur sie verträten das, was sie oft als „das wahre Volk“ oder als „die schweigende Mehrheit“ bezeichnen. Und dieses vermeintlich wahre Volk wird stets als homogen oder auf eine von den Rechtspopulisten definierte Weise als „normal“ vorgestellt.

Christdemokraten stehen so vor einer ganzen Reihe struktureller Herausforderungen, gesellschaftlich wie parteistrategisch. Wer in die Kirche geht, ist auch eher geneigt, CDU/CSU zu wählen – aber immer weniger Menschen gehen in die Kirche. Die Koalition von Interessen, die sie einst von Sieg zu Sieg trug und die auch entscheidend die europäische Einigung unterstützte – nämlich Mittelstand, Teile der Industrie und vor allem konservative Bauernschaft –, gibt es so nicht mehr. Und das Dilemma, wie man mit Rechtspopulisten umgehen soll, stellt sich akut. Wenn man sich einen Sarkozy zum Vorbild nimmt und den Rechtspopulisten hinterherhechelt, honoriert das die Wählerschaft nicht ohne Weiteres: Warum die Kopie nehmen, wenn das Original auch auf dem Wahlzettel steht? Und eine Mitte, die auch einen abgedimmten Rechtsextremismus noch deutlich genug wahrnimmt, schreckt man so auch ab. Orientiert man sich hingegen zu weit links, klappt das nur unter ganz bestimmten Umständen. Die CDU/ CSU hat lange Jahre gegen eine strukturelle linke Mehrheit in Deutschland regiert, weil Rot-Rot-Grün auf Bundesebene ausgeschlossen war; zudem fuhr man in wirtschaftlich guten Zeiten komfortabel mit Vermittlung statt Führung, weil Konflikte sich durch Geldverteilen immer wieder zukleistern ließen.

Geht’s ohne Rechtspopulisten?

Heute wird deutlich, dass die CDU kein Programm und schon gar kein genuines Alleinstellungsmerkmal hat – und dass Vermittlung als Regierungstechnik nicht reicht. „Modernisierung“ ist seit je eine nützliche Leerformel, aber nun nicht mehr (1969 lautete der SPD-Slogan im Wahlkampf: „Wir schaffen das moderne Deutschland“). Kompetenz ist ein Argument, aber keines, das nach dem Versagen in der Pandemie plausibel klingt. Offiziell grenzt man sich weiter von der AfD ab, aber die Brandmauer beginnt zu bröckeln; ein Maaßen ist ein Mauerspecht für die Rechtspopulisten. Ohnehin hat man schon einmal vorexerziert, dass das Wohlergehen von Exportwirtschaft und Machtsicherung alle Sonntagsreden über Demokratie und europäische Einigung Lügen strafen kann. Mehr als ein Jahrzehnt hielt man einem Viktor Orbán die Treue, obwohl alle wussten, dass dieser nach Kräften Demokratie und Rechtsstaat in Ungarn demontierte. Was zählte, war, dass der Rechtspopulist deutschen Unternehmen Subventionen und – mit den Worten eines ungarischen Beobachters – „chinesische Verhältnisse“ mitten in Europa bot.

Es ist nicht nur eine parteipolitische Frage, sondern eine Frage des Schicksals der Demokratie in Deutschland als Ganzem, ob Christdemokraten der Versuchung, mit Rechtspopulisten zu paktieren, widerstehen können.


Buchtipp

Jan-Werner Müller

Freiheit, Gleichheit, Ungewissheit: Wie schafft man Demokratie?

Suhrkamp 2021,

240 Seiten, 24 Euro

Jan-Werner Müller

Jan-Werner Müller lehrt Politische Theorie und Ideengeschichte an der Princeton University. Er äußert sich regelmäßig zum Zeitgeschehen und schreibt unter anderem für Foreign Affairs, die Neue Zürcher Zeitung, die New York Times und die Süddeutsche Zeitung.