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Das gute Leben

Titelthema - Das gute Leben
Katja Hoyer" Diesseits der Mauer. Eine neue Geschichte der DDR 1949–1990", Hoffmann und Campe 2023, 592 Seiten, 28 Euro © Hoffmann und Campe 2023

Katja Hoyers Buch "Diesseits der Mauer" beschreibt die DDR als ein Land, in dem es den meisten Menschen eigentlich an nichts fehlte.

Jacob Mikanowski01.06.2023

Die Deutsche Demokratische Republik ist eines der Gespenster Europas. Die 1985 geborene deutsch-britische Journalistin Katja Hoyer ist gerade alt genug, um sich an ihren Untergang zu erinnern. Jetzt, 30 Jahre nach dem Ende der DDR, ist Hoyer in ihr Geburtsland zurückgekehrt und hat eine gehaltvolle, überraschende Geschichte eines Landes geschrieben, das allzu oft als eine Laune oder ein Unfall des Kalten Kriegs abgetan wird. Hoyers DDR ist nicht das eingemauerte, russisch kontrollierte „Stasiland“, dessen Bürger unter ständiger Überwachung und Einschüchterung durch die Staatssicherheit litten. Vielmehr war sie ein Ort, an dem die Menschen ihr Schicksal selbst in die Hand nahmen und ein „farbenfrohes“ Leben führten – also alles andere als der „graue, eintönige Fleck“, den die westliche Vorstellung gerne beschwor.

Am 7. Oktober 1949 wurde der östliche Teil Deutschlands, der am Ende des Zweiten Weltkriegs von der Sowjetarmee besetzt worden war, ein eigenständiger Staat. Die Führung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD), die im Gefolge der einmarschierenden Roten Armee ins Land kam, errichtete in der Sowjetischen Besatzungszone rasch eine kommunistisch geführte Diktatur. Binnen weniger Jahre veränderte sie die soziale, wirtschaftliche und politische Struktur Ostdeutschlands, indem sie Grund und Boden neu verteilte, die Industrie verstaatlichte und die politische Opposition unterdrückte. Im Zuge dessen kam es zu einer massenhaften Abwanderung in den Westen. Im Jahr 1953 löste die Verschlechterung der wirtschaftlichen Verhältnisse einen Arbeiteraufstand aus, der nur mit Hilfe der Sowjetarmee niedergeschlagen werden konnte.

Nach den Ereignissen des 17. Juni 1953 regierte die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands die DDR mit einer Mischung aus Peitsche und Zuckerbrot, aus Repression und Entgegenkommen. Auf der einen Seite wurde die Rolle der Staatssicherheit enorm ausgeweitet. Andererseits bemühte sich die Parteiführung darum, dass für alle Ostdeutschen gesorgt war. Solange aber in Berlin ein Fluchtweg offen blieb, verlor die DDR weiter Arbeitskräfte an den Westen. Bis 1961 verließen jährlich fast 300.000 Menschen die DDR. In eben jenem Jahr beschloss Walter Ulbricht, diesen Exodus durch den Bau der Berliner Mauer zu unterbinden.

Hinter Stacheldraht gefangen, aber zunehmend prosperierend, ähnelte die DDR immer mehr dem goldenen Käfig des Ostblocks. Sie wies den höchsten Lebensstandard aller sozialistischen Staaten auf. Arbeitslosigkeit gab es kaum. Wohnraum war für alle verfügbar. Dank der reichlich angebotenen und leicht zugänglichen Kinderbetreuung konnten Frauen so häufig wie in keinem anderen Land der Welt ins Berufsleben einsteigen. Erika Krüger, eine der von Hoyer befragten Arbeiterinnen, erinnert sich, wie „unbeschwert“ das Leben in den 1970er Jahren gewesen sei: „Wir gingen arbeiten, erhielten geregelt unser Geld und für unseren Fleiß Prämien. Wir kamen zurecht, wir hatten ausgesorgt.“

Erst als Erika ihre Schwägerin in Westdeutschland besuchte, wurde ihr der Unterschied im Lebensstandard zwischen Ost und West bewusst. Doch auch wenn die DDR bei der Produktion von Konsumgütern hinterherhinkte, macht Diesseits der Mauer auf überraschende Weise deutlich, welch extreme Anstrengungen die ostdeutsche Führung zu unternehmen bereit war, um die Versorgung der Bevölkerung mit Konsumgütern und importierten Lebensmitteln aufrechtzuerhalten, die sie für unverzichtbar hielt. Als Missernten und der Ölschock 1977 den brasilianischen Kaffee unerschwinglich machten, starteten ostdeutsche Experten ein Programm zum Aufbau von Kaffeeplantagen in Vietnam.

Die DDR bot ihren Bürgern Stabilität, relativen Wohlstand und soziale Mobilität. Sie war ein Arbeiterstaat, der sich um die Interessen der Arbeiter kümmerte. Das alles wirft die Frage auf, warum sie auch das pro Kopf gesehen größte Überwachungssystem der Welt aufgebaut hat. Hoyer macht dafür vor allem die „Paranoia“ verantwortlich, insbesondere die des geheimnisumwitterten Stasi-Chefs Erich Mielke. Aber ein Mann allein macht noch kein System.

Übersetzung: Andreas Wirthensohn


Buchtipp:

 

Jacob Mikanowski

Adieu, Osteuropa: Kulturgeschichte einer verschwundenen Welt 

Rowohlt, 512 Seiten, 34 Euro

Jacob Mikanowski

Jacob Mikanowski ist Historiker und Publizist aus Oregon, USA. Soeben ist bei Rowohlt sein Buch Adieu, Osteuropa: Kulturgeschichte einer verschwundenen Welt erschienen. 512 Seiten kosten 34 Euro.

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