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„Das hat in der Schule nichts zu suchen!“

Forum - „Das hat in der Schule nichts zu suchen!“
Schuluniformen helfen, soziale Unterschiede zwischen Schülern abzubauen. Der Soziologe Klaus Hurrelmann spricht sich aber für einen gemeinsam verhandelten Dresscode aus. © Frommann/laif

Nicht Jogginghosen, Hotpants und Kaugummi gehören für den Soziologen Klaus Hurrelmann an Schulen, sondern verbindliche Regeln, die Schulen, Schüler und Eltern gemeinsam verhandeln.

01.07.2019

Eine Realschule in Rottenburg im Kreis Tübingen hat vor Kurzem das Tragen von Jogginghosen auf dem Schulgelände verboten. In der Schulordnung steht: „Wir kleiden uns in der Schule angemessen. Unsere schulische Kleidung unterscheidet sich von unserer Freizeitkleidung.“ Was halten Sie davon?
Davon halte ich sehr viel. Damit signalisiert die Schule, dass sie die Schüler ernst nimmt und von ihnen ein bestimmtes soziales Verhalten erwartet. Sie signalisiert aber auch, dass die Schule ein Arbeitsplatz ist und kein Freizeitraum. Mit ihrer Entscheidung hat die Schule eine kluge, wertvolle Diskussion in Gang gesetzt.

Brauchen wir einen Dresscode an deutschen und österreichischen Schulen?
Das liegt im Verantwortungsbereich jeder einzelnen Schule. Es kann ein großer Vorteil für Bildungseinrichtungen sein, wenn sie mit einer individuellen Kleiderordnung ihr Selbstverständnis formulieren und ihren Schülern zeigen, was von ihnen erwartet wird. Das ist ein wunderbares Instrument für die Schulen, sich mit ihrer Klientel auseinanderzusetzen und über den Austausch mit Eltern und Schülern soziale Umgangsformen und Regeln zu definieren.

An einigen Schulen, insbesondere an solchen, die sich in kirchlicher Trägerschaft befinden, gibt es schon seit einigen Jahren das Verbot, zu freizügige Kleidung zu tragen. Aber auch in diesem Sommer wird man an zahlreichen Schulen wieder junge Frauen in Hotpants oder in bauchfreien Tops sehen.
Das ist Freizeitkleidung, die nicht nur locker ist, sondern provoziert. Das hat in der Schule nichts zu suchen! Wenn durch enge Kleidung Geschlechtsteile gezeigt oder hervorgehoben werden, dann ist das ganz klar ein Anlass, dies zugunsten der schulischen Arbeits- und Lernprozesse zu untersagen. Da sollte jede Schule zusammen mit den Eltern und Schülern Grenzen festlegen, wie viel Freizügigkeit erlaubt ist. Auf diese Weise könnte eine gemeinsam erarbeitete, verbindliche Kleiderordnung für den Arbeitsplatz Schule entstehen.

Manche Schüler fühlen sich durch Kleiderordnungen in ihren Persönlichkeitsrechten eingeschränkt.
Das muss man ernst nehmen. Junge Menschen sind es ja gewohnt, sich über Kleidung zu stilisieren. Und natürlich wollen sie ihren Stil als Teil ihrer Persönlichkeit in die Schulen tragen, denn dies ist der Ort, an dem sie sich die längste Zeit des Tages aufhalten. Wenn daraus eine heftige Debatte entbrennt, die sogar von manchen Medien aufgenommen wird, halte ich das für durchaus positiv, da dies zeigt, dass sich die Schule mit diesem Thema intensiv und offen auseinandersetzt.

Was sagen solche Kleiderordnungen und Verbote über die Schüler aus?
Mir ist vermehrt zu Ohren gekommen, dass die allermeisten Schüler und Eltern solche Kleiderordnungen nach anfänglichen Widerständen mittragen. Sie wollen oft auch daran erinnert werden, dass die Schule ein Lern- und Arbeitsort ist. Wichtig ist, dass die Diskussion seitens der Schulen pädagogisch klug angestoßen wird und dass Eltern und Schüler auf Augenhöhe mitdiskutieren dürfen. Und wenn man sich einmal geeinigt hat, haben sich auch Lehrkräfte und Eltern an den verhandelten Dresscode zu halten.

Und was sagen solche gemeinsam erarbeiteten Dresscodes über eine Schule aus?
Eine Lehreinrichtung, die sich diesem Thema stellt und es öffentlich diskutiert, statt es zu verdrängen, wird nach innen wie nach außen Anerkennung erfahren. Studien zeigen, dass sich Schüler an solchen Schulen wohlfühlen, an denen es klare Regeln gibt, die ihnen Sicherheit geben. Solche Regeln nehmen oft auch den Druck von den Schülern, sich in ihrem Stil täglich neu erfinden zu müssen.

Wäre dann die Rückkehr zur Schuluniform nicht die beste Lösung?
Die Schuluniform hat ihre Reize: Sie schafft bei Schulen und Schülern gleichermaßen eine hohe Identifikation. Darüber hinaus werden soziale Unterschiede zwischen den Schülern ausgeglichen, was nachweislich oft zu einer besseren Lernleistung führt.

Das würde verhindern, dass sozial benachteiligte Schüler, die sich keine Markenkleidung leisten können, von ihren Mitschülern gemobbt werden.
In der Fläche sehen die Schüler in einer Uniform zwar gleich aus, aber die Unterschiede bleiben. Denken Sie an teure Uhren, an Frisuren oder das Aussehen der Fingernägel. Es gibt also weiterhin gewaltige Unterschiede der sozialen Distinktion. Daher sprechen sich viele Schulen gegen eine Uniform aus, sondern setzen lieber Mindeststandards bei der Kleidung. Ich halte diesen Mittelweg für eine gute Wahl, da er einerseits klare Regeln vorgibt, aber andererseits genug Spielraum lässt zur Individualisierung. Eine weitere Möglichkeit wäre, es wie an amerikanischen Colleges zu handhaben, wo alle Schüler die gleichen Pullover oder T-Shirts mit dem Logo oder Schriftzug ihrer Schule tragen. Dieses pädagogische Branding der Kleidung führt ebenfalls zu einer erhöhten Identifikation der Lernenden mit ihrer Bildungseinrichtung. Aber damit haben wir in Deutschland noch zu wenig Erfahrung.

Die eingangs erwähnte Rottenburger Realschule hat ihren Schülern auch den Konsum von Kaugummis, Chips und Energydrinks auf dem Schulgelände untersagt, um Müll zu vermeiden und die Konzentration der Schüler zu fördern.
Gut so! Kaugummi kauen während des Unterrichts – das darf nicht sein. Da geht es um konkrete Umgangsformen, die den Schülern vermittelt werden müssen. Es spricht einmal mehr für die Qualität dieser Schule, wenn sie sich mit solchen Fragen offen auseinandersetzt.

Offenbar funktioniert Schule heute anders als vor 20 Jahren.
Zum Glück! Die Freiheitsgrade sind größer geworden und die Schulen müssen darauf reagieren. Was den sozialen Bereich im Allgemeinen und Umgangsformen im Speziellen angeht, präsentieren sich viele deutsche Schulen modern und offen. Aber der bauliche Zustand der Schulen ist oft ähnlich desaströs wie ihre pädagogischen Konzepte.

Vor welchen neuen Herausforderungen stehen die Lehrkräfte?
Sie müssen systematisch weitergebildet werden, um solche Diskussionen um die Kleidung führen zu können. Das ist auch deshalb wichtig, weil es dafür in der Freizeit immer weniger verbindliche Regeln gibt, die wir aber in der Schule dringend brauchen. Und sie müssen vor allem ihre digitale Kompetenz massiv ausbauen, weil viele Lehrer gar nicht wissen, wie sie elektronische Medien sinnvoll in den Unterricht integrieren sollen. Man kann Handys und Tablets, die wichtigsten Arbeitsgeräte unserer Zeit, doch nicht aus Unwissenheit aus den Schulen verbannen!

Und was bedeutet das alles für die Gesellschaft, auf die die Schüler dann ja irgendwann einmal losgelassen werden?
Je näher die Schule an der Realität ist, desto besser ist sie. Sie darf kein Schonraum sein, sie muss auf das Leben vorbereiten. Und zwar nicht auf das spätere Leben, das in 20 Jahren beginnt, sondern auf das tagtägliche, gegenwärtige Leben.

Das Gespräch führte Björn Lange.