Titelthema
Das kleine Adieu an die Tristesse
Warum wir hübsche, alte Kioske heute als Erinnerungen an das Versprechen eines uns schon weitgehend fremd gewordenen Glücks wahrnehmen.
Wo es sonst nichts gibt, vermag ein Kiosk seiner Umgebung Glanz und Urbanität zu verleihen. Denn er kann eine Straße von einer Durchzugsgelegenheit in einen Ort des Verweilens verwandeln. Passanten lässt er zu Besuchern werden, die sich für eine gewisse Zeit, wie sie für den Blick in ein Journal, den Verzehr einer Bratwurst oder den Genuss eines Getränks und einer Zigarette nötig ist, an diesem Ort versammeln. Und wo sich in einer Stadt Menschen versammeln, entsteht Sicherheit – wie die große amerikanische Architekturkritikerin Jane Jacobs erkannte. Denn auf diese Weise wird dem grundlegenden Problem von Urbanität begegnet: dem Umstand, dass in der Stadt regelmäßig Fremde aufeinandertreffen – wodurch es nötig wird, einen solchen Umgang zu finden, dass aus ebendieser Anwesenheit von einander fremden Menschen ein Zugewinn an Sicherheit für alle entsteht. Wo nun viele Menschen beisammen sind und verweilen, können sie sich sicher fühlen. Denn sie fühlen sich beobachtet. Verunsicherung hingegen entsteht Jacobs zufolge immer dort, wo nur wenige Personen sich aufhalten und wo wenig Aussicht auf Beobachtung besteht: zum Beispiel in abgeschlossenen Hinterhöfen oder Straßen, auf die nur wenige Fenster schauen, in Fußgängerunterführungen et cetera.
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Der Kiosk erzeugt das Gefühl des Gesehenwerdens nicht allein durch die Versammlung und das Verweilen von Menschen. Er ist durch seine Anlage auch selbst eine Art Auge – eine Art von nicht repressivem „Panopticon“, das mit seinem aufgeklappten Ladenfenster auf das Terrain davor blickt und es zu einer Art von theatralischer Szenerie werden lässt. Dadurch sind auch die Menschen an diesem Ort dazu angehalten, sozusagen als Darsteller ihrer öffentlichen Rolle, eine Spur eleganter und formbewusster aufzutreten und ihre private Person ein Stück weit hinter sich zu lassen; als „public men“ im Sinn des Soziologen Richard Sennett. Am Kiosk verlassen Menschen also, wenigstens in minimalem Ausmaß, ihre alltäglichen Routinen und begeben sich in das, was der Kulturtheoretiker Johan Huizinga die „Spielsphäre“ genannt hat: eine in Raum und Zeit begrenzte Zone feierlicher Förmlichkeit und fröhlicher Selbstvergessenheit oder gar Euphorie.
Und diese vom Kiosk ausgeübte Anleitung zum Spielen, zur Form und zur Fiktion hat, wie der Philosoph Alain bemerkte, durchaus reale ethische Wirkungen. Alain schreibt: „Ein Lächeln erscheint uns geringfügig und ohne Wirkung auf unsere Laune; weshalb wir’s auch gar nicht erst versuchen. Dabei krempelt uns die Höflichkeit, die uns ein Lächeln und einen liebenswerten Gruß abnötigt, oft regelrecht um.“
Aufgrund seiner Zugehörigkeit zur Spielsphäre und weil der Kiosk Aufmerksamkeit auf sich ziehen muss und Genuss versprechen will, ist er meist liebevoll gestaltet. Sein Design hat darum immer wieder eine reizvolle Herausforderung für die besten Architekten dargestellt – wie zum Beispiel für Alfred Grenander am Anfang des 20. Jahrhunderts in Berlin mit seinen Kiosken am Savignyplatz oder auch in den Bahnhofsgebäuden Gesundbrunnen und Krumme Lanke oder für den slowenischen Architekten Saša J. Maechtig, dessen modular erweiterbarer, aus Plastik gefertigter Kiosk K67 seit den 1960er Jahren viele der ehemals sozialistischen Staaten Europas prägte, ehe er nun auch im Westen Berlins wiederentdeckt und neu aufgestellt wurde. Bereits seit den 1970er Jahren bildet er eines der Prunkstücke des Museum of Modern Art in New York.
Ein Hauch Luxus
Die gestalterische Prominenz des Kiosks rührt von seiner Aufgabe her, den Menschen einen Hauch von Luxus zu versprechen: in Gestalt von Erfrischungsgetränken, Süßigkeiten, Rauchwaren oder Illustrierten. Vor allem um die Wende zum 20. Jahrhundert, aber auch in den ersten Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg war diese Dimension deutlich spürbar: Die Angebote eines Kiosks waren – ähnlich wie die Gestaltungen zum Beispiel von Friseursalons, Cafés, Bootsverleihen oder Minigolfplätzen – eine Einladung an die Vorbeikommenden, sich eine kleine Verschwendung zu gönnen.
Das Cabriolet als Analogie
Erst wenn in einer wohlhabender gewordenen Gesellschaft die vom Kiosk vertriebenen Waren zu alltäglichen Gebrauchsgütern oder zu sogenanntem „Vergessensbedarf“ werden, kann sich der Kiosk das gestalterische Pathos und die liebevolle Verspieltheit ersparen und zu einem nüchternen Funktionsbau werden. Solche Gesellschaften laufen allerdings nach Ansicht des Philosophen Georges Bataille Gefahr, ihr Verschwendungselement aus den Augen zu verlieren. Es verschwindet freilich niemals zur Gänze; vielmehr verlagert es sich aus jenen Bereichen, in denen es lustvoll zelebriert werden konnte, in die anonymen und unlustvollen antiproduktiven Veranstaltungen zum Beispiel der militärischen Aufrüstung oder der Bürokratie mit ihren sich ständig vervielfachenden Evaluierungen, Monitorings und Zertifizierungen.
In solchen Kulturepochen verliert der Kiosk jenes spielerische Element, das ihm seit seinen Anfängen eigen war. Seinen Namen trägt er nämlich von den persischen und später türkischen mittelalterlichen Zelten, von denen aus ein Sultan oder eine Prinzessin mit ihrem Gefolge den Darbietungen und feierlichen Prozessionen von Tänzern, Musikern, Handwerkern (ja sogar Straßenkehrern mit ihren choreografierten Bewegungen!) oder Feuerwerkern beiwohnen konnten. Solche temporären und mobilen Zeltarchitekturen wurden später offenbar in Stein oder Metall übertragen und prägten die Gestaltung von repräsentativen Prachtbauten wie dem seldschukischen Kiosk von Konia, dem Cilini-Kiosk im Topkapi-Serail oder dem Yali-Kiosk am Bosporus sowie auch dem Mausoleum des Samaniden Ismail in Buchara. Ebenfalls vom zeltartigen Ursprung solcher Gebäude dürfte die bereits im Mittelalter verbreitete Bezeichnung „Pavillon“ herrühren, die sich etymologisch vom lateinischen Wort für Schmetterling („papilio“) ableitet. Dieses Wort wurde im Spätlateinischen im übertragenen Sinn auch als Bezeichnung für ein Zelt gebraucht – offenbar aufgrund der Ähnlichkeit des aufgespannten Zeltes mit den Flügeln eines Schmetterlings. Das Cabriolet könnte als eine heutige, automobile Entsprechung solcher zeltartiger Lusthäuschen betrachtet werden.
Weil auch die Kultur des alten Ägypten solche als „Götterschatten“ bezeichnete, für die Krönung von Pharaonen bestimmte Baldachine kannte und weil sie diese ebenfalls in steinerne Architekturen verwandelte, die offenbar dem temporären Aufenthalt von Heiligtümern bei Prozessionen dienten, übertrugen die Archäologen den persischen Ausdruck „Kiosk“ auch auf bestimmte monumentale Steinarchitekturen Ägyptens: Kiosk des Nektanebos I.; Kiosk des Trajan auf der Insel Philae (im Zuge der Errichtung des Assuan-Damms auf die Insel Agilkia verlegt).
Unterbrechung des profanen Alltags
Der modernen Funktion wie auch der modernen Gestaltung des Kiosks am nächsten kamen wohl die Brunnenhäuschen („sebils“), die in Istanbul und Kairo ab dem 16. Jahrhundert verbreitet waren. Gemäß einer religiösen Verpflichtung wurden sie von den islamischen Feudalherren errichtet, um den Menschen Trinkwasser zu spenden. Der auch bei uns bekannte Gedanke, dass Noblesse zu verschwenderischer Großzügigkeit verpflichtet, hat im Okzident leider nur selten zu solchen glückbringenden sozialpolitischen Einrichtungen geführt.
Ob nun als feudales Zelt, als tempelartiger Sakralbau, als Pavillon in einem privaten Lustgarten oder öffentlichen Park oder aber als vielleicht exotisch gestaltete Ausgabestation für Getränke und ähnliche Genussmittel, erfüllt der Kiosk doch immer dieselbe bestimmte charakteristische Funktion: Er unterbricht den profanen Alltag. Dadurch ermöglicht er in einer säkularisierten Gesellschaft jene oft kleinen und unscheinbaren Gesten, die der Anthropologe Michel Leiris als das „Heilige des Alltagslebens“ bezeichnet hat. Es sind jene Momente, in denen zum Beispiel Kollegen – wie die Kölner Tatort-Kommissare Ballauf und Schenk an ihrer Wurstbude – beschließen, miteinander auf einen Kaffee oder auf ein Bier zu gehen und dabei nicht über die Arbeit zu sprechen. In solchen „Riten der Unterbrechung“ hören Menschen auf, der Erhaltung ihres Lebens zu dienen; vielmehr lassen sie, wenigstens einen Moment lang, das Leben für sie da sein. Dies ist es, was Georges Bataille als „Souveränität“ bezeichnet hat. Absonderung von anderem Tun und Verbot der Störung sind die kennzeichnenden Merkmale solcher unscheinbarer Sakralität.
Die Dimension des alltäglichen Heiligen
Erst durch solche zum Beispiel von der Architektur eines offenen Gartenpavillons geschaffene formelle Feierlichkeit wird auch die Natur feierlich erlebbar, wie Walter Benjamin bemerkte: Wer so in den Garten blicken kann, dem „hängt die Landschaft im Fensterrahmen, von Gottes Meisterhand signiert“. Zugleich bietet der offene Pavillon im Park Zuflucht vor Regen oder Gewitter und ermöglicht dadurch trotz seiner Transparenz sogar die für intimere Vergnügungen erforderliche Abgeschiedenheit: Unerwünschte Beobachter hält dann ja schon das Unwetter fern. Vor diesem Hintergrund mag erklärbar erscheinen, warum in Wien auch öffentliche Bedürfnisstationen der Gründerzeit oft als reich verzierte, orientalisierende oder antikisierende pavillonartige Häuschen aus Gusseisen gestaltet wurden. Auch sie bieten, dank verhüllender Blechwände, die für solche Verrichtungen erforderliche, von Sigmund Freud so genannte „melusinenhafte Abgeschiedenheit“. Humanistisch gebildete Männer aus der Generation unserer Großväter vermochten sogar in der Aufschrift „Patentölurinoir, ohne Wasserspülung geruchlos“ noch den Rhythmus antiker Hexameter zu erkennen.
Das spielerische, formverliebte Element und die Dimension des alltäglichen Heiligen, die es den funktionsgeplagten Menschen ermöglicht, wenigstens für einige Augenblicke für sich selbst da zu sein, sind wohl der Grund, weshalb Architekturen wie das Lusthaus im Wiener Prater, die Meierei im Volksgarten wie auch der aus den 1950er Jahren stammende Volksgarten-Pavillon von Oswald Haerdtl oder der aus derselben Zeit stammende, silbrig glänzende metallene Zeitschriftenkiosk nahe der Oper – um nur einige wenige Beispiele aus Wien anzuführen – heute eine so spürbare nostalgische Faszination ausüben: Wir nehmen sie wahr als Erinnerungen an das Versprechen eines uns schon weitgehend fremd gewordenen Glücks.
Hamburg
Der Zuhör-Kiosk
Es war Ende 2017, als Christoph Busch der leer stehende Kiosk zwischen den Gleisen der Hamburger U-Bahn-Station Emilienstraße auffiel. Der Drehbuchautor entschloss sich, ihn zu mieten, dort zu schreiben und nebenbei neue Geschichten zu sammeln. Er hängte ein Plakat mit einem großen Ohr ins Fenster: „Ich höre Ihnen zu. Jetzt gleich oder ein anderes Mal.“ Die Idee zündet. Schon nach wenigen Tagen kommt Busch nicht mehr zum Schreiben, lässt den Laptop zu Hause und hört vielen, vielen Menschen zu. „Es sind glückliche und bunte Geschichten, aber auch traurige“, sagt der heute 76-Jährige. Das Zuhören erforderte nicht nur Zeit, sondern auch Konzentration, und so entschied sich Busch 2018 dazu, Verstärkung an Bord zu holen. So ist im Laufe der Zeit eine Gruppe von Zuhörern verschiedenen Alters und mit unterschiedlichen Lebenserfahrungen zusammengekommen – von der jungen Musikerin bis zum pensionierten Vertrauenslehrer, die Stammgästen oder Vorbeiziehenden kostenlos zuhören.
Menschen in anderen Städten haben nachgezogen und nach dem Hamburger Vorbild Zuhör-Kioske eingerichtet – etwa am Busbahnhof in Neustadt (Schleswig-Holstein), in Berlin, München und Basel. Es gibt offenbar Redebedarf – überall.
Ein Interview mit Christoph Busch lesen Sie unter rotary.de/a22064
Robert Pfaller lehrt als Philosoph an der Kunstuniversität Linz. Seine jüngsten Veröffentlichungen „Zwei Enthüllungen über die Scham“ (2022) und „Die blitzenden Waffen. Über die Macht der Form“ (2020) sind im S. Fischer Verlag erschienen.
© Peter Rigaud